60

 

Man sagt, im Angesicht des Todes huscht das ganze Leben noch einmal an einem vorbei. Martin konnte das nicht bestätigen.

Das Telefonkabel, dessen Enden Eddie um seine Handgelenke gewickelt und um Martins Hals geschlungen hatte, drang knapp unter Martins Kehlkopf tief in die Haut ein und schnürte ihm die Luft ab. Eddie stand hinter dem Sitz, an den er Martin gefesselt hatte, und zog die Schnur über Kreuz mit ganzer Kraft zusammen. Martin hatte das Gefühl sein Kopf würde augenblicklich explodieren. Er versuchte, mit den Halsmuskeln dagegen zu halten, aber es war zwecklos. Martins Zunge quoll heraus und seine Augen traten vor. In wenigen Sekunden wäre seine Luftröhre zerquetscht.

Als Kind war er gerne getaucht. Er hatte die Luft immer so lange wie möglich angehalten. Dabei hatte er sich vorgestellt, wie es wäre, nicht mehr auftauchen zu können, wie es wäre, zu ersticken. Es musste einer der schrecklichsten Tode sein. Erst wenn der Atemreflex übermächtig wurde, war er aufgetaucht und hatte die Luft gierig eingesaugt. Jetzt dachte er daran und fühlte sich so ähnlich wie ein in der Tiefe des Meeres gefangener Taucher ohne Sauerstoffflasche. Es gab keine Hoffnung mehr.

In einer Beziehung lagen die Leute mit Todeserfahrung aber richtig. Schade, dass er es keinem mehr würde erzählen können. Er sah tatsächlich dieses helle Licht, von dem alle sprachen. Das Licht am Ende des Tunnels. Ein heller Punkt umgeben von Dunkelheit. Mehr als das, nahm Martin nicht mehr wahr. Sein Gehirn lief auf dem Notprogramm.

Doch was er nicht wusste, dieses Licht war keine Einbildung. Es war wirklich da. Und Kaltenbach sah es auch. Es blendete ihn sogar. Da war eine verdammte Taschenlampe.

Der Lichtstrahl der Lampe traf Raphael schnell wie ein Schuss ins Gesicht. Jemand musste sich im Dunkeln angeschlichen haben. Das Licht konnte nur einem Zweck dienen, ihn ins Visier zu nehmen. Blitzschnell löste er das Kabel um Martins Hals, griff nach der Pistole hinten in seinem Hosenbund und machte, um sich aus der Schusslinie zu bringen, einen Ausfallschritt zur Seite in den Mittelgang zwischen den Sitzreihen. Ebenso schnell richtete er die Pistole nach vorne und zielte auf die Taschenlampe. Als er abdrücken wollte, spürte er, dass er dennoch zu langsam gewesen war. Sein Zeigefinger erschlaffte, noch bevor er den Abzug durchdrücken konnte.

Der Schuss aus Richtung der Taschenlampe donnerte wie ein Tornado durch das Shuttle. Die große Panoramafensterscheibe hinter Raphaels Rücken wies jetzt ein Faust großes Loch auf, von dem aus lange Risse bis zum Rand der Scheibe mäanderten. Es blieb bei diesem einen Schuss. Für einen kurzen Moment verharrte Raphael scheinbar völlig unbeeindruckt in seiner Position. Dann sackte sein Arm, in dem er die Waffe hielt, der Schwerkraft folgend nach unten. Raphaels hünenhafter Körper kippte wie in Zeitlupe nach hinten und schlug mit einem dunklen Rums, der die Kabine erschütterte in den Gang nieder.

Martin versuchte zu atmen, doch es war, als ob seine Luftröhre nach wie vor zugeschnürt wäre. Er probierte es weiter. Panik befiel ihn. War sie völlig zerquetscht, für immer unbrauchbar? Nein, zunächst drang nur wenig, dann immer mehr Luft hindurch. Glücksgefühle schossen in Martins Gehirn. Er sah sich aus dem Wasser auftauchen und nach Luft schnappen. Er war nicht erstickt, er lebte. Aber er war noch zu benommen, um klar zu sehen, oder zu begreifen, was geschehen war. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Atmen und der untergründigen Erkenntnis, dass ein Schuss gefallen war und jemand sein Leben gerettet hatte und dieser Jemand hatte ein Licht und das Licht kam jetzt auf ihn zu und strahlte ihm in das geschundene Gesicht. Er konnte nicht erkennen, wer da vor ihm stand und ihn gerettet hatte, aber eine unendliche Dankbarkeit durchströmte seinen Körper.

Dann fiel der Schein der Taschenlampe in den Gang neben ihm. Er drehte den Kopf so weit es ging zu Seite. Aus den Augenwinkeln konnte er Kaltebachs Körper sehen. Sein Blick wanderte mit dem Lichtkegel der Taschenlampe nach oben zu Raphaels Kopf. An der linken Seite fehlten ein Stück vom Ohr und ein Teil der Schädeldecke. Blut sickerte auf den kunststoffbeschichteten Boden der Kabine. Doch Raphael war noch nicht tot. Sein Oberkörper zappelte ein wenig. Die Arme bewegten sich willkürlich auf und ab. Seine Augen waren starr zur Decke gerichtet und die Pupillen waren geweitet, obwohl die Taschenlampe ihm ins Gesicht strahlte. Martin konnte den Blick nicht von ihm wenden.

»Eigentlich wollte ich, dass der Arzt sich seiner annimmt, doch jetzt ist das nicht mehr nötig«, sagte eine weibliche Stimme. War das Annas Stimme? Wer sonst sollte ihn gerettet haben? Für einen Moment spürte er ein Hochgefühl in sich aufsteigen. Dann holte ihn die Realität ein. Diese Stimme klang anders. Er hatte es sich so sehr gewünscht, dass er es nicht sofort erkannt hatte. Aber es war zweifellos nicht Annas Stimme. Dennoch kannte er die Frau, die ihm gegenüberstand und die Taschenlampe weiterhin auf Kaltenbach gerichtet hielt. Er hatte keine Ahnung, wovon sie sprach, aber mit dem Arzt meinte sie wahrscheinlich Dr. Baltes, alias Söder, alias Dr. Tod, den Kaltenbach im Hotel erschossen hatte. Martin versuchte, etwas zu sagen. Doch es kam nur ein Krächzen aus seiner geschundenen Kehle.

»Ich hätte den Arzt dazu bringen können, ihm die Arme und Beine zu amputieren, ihm die Augen und die Zunge zu entfernen und das Gehör zu zerstören. Das hätte er verdient. Aber so, mit dieser Kopfverletzung, würde er davon ohnehin nichts mehr mitbekommen. Es ist also egal.«

Kaltenbach hatte Martin zwar umbringen wollen und Selma hatte ihm das Leben gerettet, dennoch war Martin schockiert, sie so reden zu hören. Es passte nicht zu ihr. Irgendetwas war anders als sonst. Wie war sie überhaupt hergekommen, sie hätte im Panikraum bleiben sollen und noch wichtiger, woher hatte sie die Pistole und warum konnte sie so gut damit umgehen?

Dann sah er, wie Selma die Waffe hob und mit ausgestrecktem Arm auf den am Boden liegenden zielte. Der Schuss war so laut, dass er glaubte, sein Trommelfell sei gerissen. Er hörte nur noch einen hellen Pfeifton. Wieder drehte er den Kopf zur Seite. Mitten in Kaltenbachs Kopf klaffte jetzt ein Loch von der Größe eines Tennisballes. Den Rest hatte sie mit der großkalibrigen Pistole weggeschossen, samt dem darunter liegenden Kabinenboden.

Selma setzte sich ungerührt auf den ihm gegenüberliegenden Sitz. Jetzt sah er ihr Gesicht. Es zeigte keine Regung. Die Sekunden vergingen. Sie machte keine Anstalten, etwas zu sagen, oder ihn von seinen Fesseln zu befreien. Sie senkte nur den Blick und spielte mit der riesigen Pistole in ihren kleinen Händen. Offensichtlich stand sie unter Schock. Doch jetzt würde alles gut werden. Auch Martin war noch zu mitgenommen, etwas zu sagen. Sein tauber und gebrochener Arm, die verletzten Rippen, die verschmorte Wange und die abgekniffene Fingerkuppe sendeten noch immer Schmerzimpulse an sein Gehirn, doch irgendwie hatte er sich fast daran gewöhnt. Er konnte es besser ertragen, als zu Anfang. Der Schmerz war ein fester Bestandteil seiner Existenz geworden. Stumm schaute er sie an, bis schließlich Selma das Wort ergriff.

»Wie heiße ich?«, sagte sie.

Martin war wie vor den Kopf gestoßen. Was sollte das?

»Selma«, krächzte er und wunderte sich, dass seine Stimme wieder funktionierte. »Würdest du mich bitte losmachen?«

Sie rührte keinen Finger.

»Wie noch?«

»Was, wie noch?«

»Wie heiße ich mit Nachnamen?«

»Nowak, du heißt Selma Nowak und du hast mir das Leben gerettet. Ich weiß, du stehst unter Schock, aber bitte, befrei mich von diesen Fesseln, dann können wir von hier verschwinden.«

Selma schüttelte den Kopf.

»Das kann ich nicht.«

Martin glaubte, sich verhört zu haben. Jedes einzelne Wort traf ihn wie Faustschläge vom Mike Tyson.

»Was? Warum kannst du nicht?«, stotterte er. Dabei fühlte er sich angeschlagen wie ein Boxer, der blind und orientierungslos im Boxring umhertrudelte. Er konnte spüren, wie er in die Seile glitt, seine Knie weich wurden und seine Beine nachgaben. Aber er wollte es nicht wahrhaben.

Selma sah ihm jetzt fest in die Augen und das, was er dort sah, machte ihm Angst. Dort war nichts mehr von der Wärme zu sehen, die er von der Freundin seiner Frau, die nach ihrem Tod immer für ihn da gewesen war, kannte. Er sah nur noch Leere.

»Weil Nowak mein Mädchenname ist. Ich habe ihn nach dem Tod meines Mannes wieder angenommen. Ich hieß früher Winkler und du bist der Letzte auf meiner Liste.