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Martin Waller trat vorsichtig vor seine Zimmertür in den Flur der ersten Etage. Lautlos schlich er in Richtung der Treppe. Die Tür zum Treppenhaus war geschlossen und er konnte nur hoffen, dass dahinter nicht Eddie lauerte, als er sie schnell aufzog. Doch auch hier war keine Menschenseele. Erleichtert atmete er aus. Plötzlich drang Lärm aus dem darüber liegenden Stockwerk. Kurz schreckte Martin zusammen und zog sich wieder in den Flur zurück. Dann erst wurde ihm klar, dass er das Geräusch kannte. Kaltenbach war dabei, die Zimmertüren in der zweiten Etage einzutreten. Der Psychopath war jetzt eine Etage höher auf der Suche nach ihm. Das war Martins Chance. Er lief, so schnell er konnte, die Treppe hinunter. Unten ließ er den schmalen Gang mit der Tür zu Zurbriggens Büro hinter sich und gelangte an die Rezeption. Er schaute sich um. Keine Spur von Selma und den anderen. Plötzlich nahm er ein leises Wimmern wahr. Er schaute über die Theke und sah einen Mann, der in Fötushaltung unter dem Schreibtisch kauerte und sich auf die zusammengeballte Faust biss. Es war der Koch Hans Meier.

Martin lief um die Theke herum und beugte sich zu Higgins, wie er ihn insgeheim nannte, hinunter. Sanft fasste er ihn an den Armen.

»Was ist passiert? Wo sind die anderen?«

Higgins sah Martin mit weit aufgerissenen Augen an.

»Keine Angst, ich tue Ihnen doch nichts, ich will nur Selma helfen, sie ist in Gefahr. Wissen Sie, wo sie ist?«

Meier drehte den Kopf wieder zur Wand. Er stand unter Schock. Martin konnte sich nicht erklären, warum sie ihn hier allein gelassen hatten.

»Im Keller.« Die Worte kamen ächzend über die Lippen des Kochs, der am frühen Abend noch so fröhlichen gewesen war.

Es war, wie er es sich gedacht hatte. Sie versuchten, über das CB-Funkgerät Hilfe zu holen. Martin sah noch einmal auf das zusammengekauerte menschliche Wrack am Boden, dann schlich er am Aufzug vorbei, durch den Restauranteingang und von dort über die Küche, die Kellertreppe hinunter. Er fragte sich, ob Kaltenbach noch im zweiten Stock wütete, oder ob er schon auf dem Weg nach unten war.

Unten im Kellerkorridor angekommen, hörte er zunächst nichts. Es gab hier unten so viele Räume. Aber eigentlich hätten Selma, Bumann und Söder längst wieder auf dem Weg nach oben sein müssen. Die Türen in dem Gang, an denen er langsam vorbei schlich, waren alle geöffnet. Sie haben die Räume nach Kaltenbach durchsucht, dachte er. Als er am Fahrstuhlschacht angelangte, hörte er plötzlich Stimmen. Sie klangen weit entfernt, aber es bestand kein Zweifel. Jemand hatte geschrien. Er glaubte, »Komm da weg!«, verstanden zu haben. Instinktiv folgte er dem Gang, an dessen Ende ein Kreuz hing. Jetzt hörte er wieder eine Stimme. Sie kam aus dem Abstellraum zu seiner Rechten. Er spähte vorsichtig in den von einer kahlen Glühbirne erleuchteten Raum und stellte verwundert fest, dass niemand darin war. Vorsichtig schlich er hinein. Jetzt sah er das weit nach vorne gerückte Regal. Er ging darauf zu und sah die geöffnete Tür dahinter. Jetzt hörte er auch deutlich die Stimmen von Selma, Söder und Bumann. Sie unterhielten sich. Er musste sich verstecken, schoss es ihm durch den Kopf. Wenn Söder sich umdrehte und zurück in diesen Raum kam, wäre er diesem ausgeliefert. Er verließ wieder den Abstellraum und stellte sich im Flur direkt neben den Eingang, so dass er die Stimmen noch hörte. Er verstand aber nicht mehr, was gesprochen wurde.

Nach ein paar Minuten hörte er, wie die verborgene Tür ins Schloss fiel. Jemand drehte einen Schlüssel um. Im selben Moment machte er kehrt und lief den Gang zurück. Martin zweifelte nicht daran, dass Söder, wenn er es war, ohne zu zögern auf ihn schießen würde. Aber wohin wollte er laufen? Und vor allem, was wollte er unternehmen? Es machte ihn verrückt, dass er nicht wusste, was mit Selma war. Martin wählte die Tür gegenüber dem Aufzug. Sie war als Einzige geschlossen. Er kannte den Raum. Es war der Skiraum, den Zurbriggen ihm gezeigt hatte und in dem auch sein Werkzeug untergebracht war. Er betrat den Raum, schloss die Tür wieder hinter sich und drückte sich neben der Tür an die kalte Wand. Sein Herz pochte so laut, dass er Mühe hatte, sich auf Geräusche, die aus dem Flur hereindrangen, zu konzentrieren. Als er schnelle Schritte hörte, hielt er den Atem an. Komm nicht in diesen Raum, komm nicht in diesen Raum, dachte er und verfluchte sich gleichzeitig, dass er sich nicht einen Hammer aus dem Werkzeugkasten genommen hatte, damit er sich wenigstens verteidigen konnte. Aber dafür war es jetzt zu spät. Er konnte nur noch hoffen. Dann waren die Schritte auf Höhe der Tür und blieben stehen. Kurz wurde Martin noch panischer, dann fiel ihm eine Erklärung ein. Söder überlegt, ob er den Fahrstuhl nehmen soll oder die Treppe. Im nächsten Augenblick entfernten sich die Schritte. Söder nahm die Treppe. Martin atmete erleichtert durch und knipste das Licht an. Er sah seinen Werkzeugkasten, machte einen Schritt darauf zu und ... stolperte. Was war das? Er sah auf den Boden. Eine Kühltasche hatte im Weg gestanden. Sie war umgekippt und ihr Inhalt kullerte heraus. Martin musste würgen. Er wandte sich ab. Er brauchte ein paar Sekunden, um wieder hinsehen zu können. Es war Zurbriggens Kopf. Vor wenigen Stunden hatte Zurbriggen ihm diesen Raum, in dem die Skier und das Werkzeug untergebracht waren, bei einer Hausführung gezeigt. Jetzt lag der abgeschlagene Kopf desselben Mannes unter dem Tisch, auf den die Skier zum Wachsen gespannt wurden. Es war kaum auszuhalten, ohne laut zu schreien.

Zuerst Marianne Seewald, jetzt Walter Zurbriggen. Und die Tatsache, dass das, was in diesem Hotel geschah, irgendwie mit Martin Waller zu tun hatte. Es musste so sein. Kaltenbach war nicht zufällig hier und hatte Martins Namen an den Badspiegel seines Zimmers geschrieben. Sie hatten Eddie Kaltenbach bewusstlos vor dem Hotel gefunden. Er hatte Martin nicht gesehen. Also wusste Kaltenbach schon vorher, dass er hier war, und hatte es von Anfang an auf ihn abgesehen. Aber was hatte Söder damit zu tun? Martin war sicher, ihn noch nie zuvor gesehen zu haben. Aber Söder kannte ihn, angeblich aus der Zeitung, wegen des Prozesses vor sieben Jahren. Unwahrscheinlich, dass Söder sich nach so langer Zeit noch so gut erinnerte. Es sei denn, er hatte etwas mit dem zu tun, was damals geschehen war.

Im ersten Moment war es einfach zu viel für Martin. Am liebsten hätte er sich in eine Ecke verkrochen, sich unsichtbar gemacht und gehofft, dass irgendjemand käme, um dem Wahnsinn ein Ende zu setzen. Aber wer sollte das sein? Es dauerte noch Stunden, bis der erste Zug am Hotel ankäme. Und was war mit Selma? Sie hatte ihn befreit, als ihn die anderen gefesselt in Marianne Seewalds Wohnung zurückgelassen hatten. Er musste ihr helfen. Bei dem Gedanken, wieder in den Korridor treten zu müssen, verkrampfte sich sein Magen. Aber Selma war der einzige Mensch auf der Welt, zu dem er nach Annas Tod ein persönliches Verhältnis aufgebaut hatte. Alle anderen vorher bestehenden Freundschaften hatte er im Sande verlaufen lassen. Er hatte das Mitgefühl nicht mehr ertragen. Und auch nicht, die früheren Nachbarn mit ihren Kindern und Ehefrauen, deren Leben weiterging, während seines und Pauls Leben sich so radikal verändert hatte. Paul und er hatten nach Annas Tod auf einmal nicht mehr in die Vorstadtsiedlung gepasst, in der sie sich einst so geborgen und wohl gefühlt hatten. Obwohl der eigentliche Niedergang ihrer kleinen Familie bereits vier Jahre früher begonnen hatte, mit seiner Falschaussage vor Gericht. Aber er hatte keine andere Wahl gehabt. Jeder hätte in dieser Situation so gehandelt. Er hatte gedacht, wenn Paul auf die Welt käme, würde Anna wieder so ausgelassen und fröhlich werden wie früher. Aber das Gegenteil war eingetreten. Nach der Geburt ihres Sohnes wurde es nur noch schlimmer. Die Ärzte hatten ihnen gesagt, dass es sich um eine postpartale Depression handle, die relativ häufig nach der Geburt eines Kindes auftreten könne. Aber während diese Art der Depression mit der Zeit nachließ, war Annas Gesundheitszustand unverändert geblieben und hatte sich eher noch verschlechtert.

Noch immer stand er an der Wand, die seinen Körper stützte. Er machte einen vorsichtigen Schritt in Richtung der Werkbank, als ob der Boden nachgeben könnte. Seine Beine waren wie Pudding. Nach ein paar Schritten ging es besser. Er wühlte in seiner Werkzeugkiste, nahm eine Zange, eine Säge und einen Hammer hervor. Schließlich entdeckte er ganz unten in der Kiste sein Schnitzmesser. Die kleine Klinge war scharf wie ein Rasiermesser. Als sein Blick neben die Werkbank viel, sah er eine verrostete Eisenstange. Mit ihr und dem kleinen Messer bewaffnet, trat er in den Kellergang. Er wusste, dass diese Waffen gegen eine Schusswaffe nichts ausrichten konnten. Aber es war besser als nichts und seltsamerweise gab es ihm Kraft, etwas in der Hand zu haben.