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HEUTE

 

»Ich bin es!«

Drei ganz normale Worte. Für ihn aber hatten sie die Wirkung einer Rechts-links-Kombination mit einem abschließenden Aufwärtshaken zum Kinn. Er fühlte sich kraftlos und benommen. Für einen Moment glaubte er, zu taumeln und die Bodenhaftung zu verlieren. Seit über sechs Jahren hatte er keinen Kontakt mehr zu seinem Bruder gehabt, und dennoch hatte er jetzt dessen Stimme am Telefon sofort erkannt. Es war die Stimme, die für alles stand, vor dem er für immer hatte fliehen wollen. Er war wie gelähmt, unfähig, einen Ton herauszubringen. Aber warum? Warum tat er ihm das an?

Er ließ das Telefon sinken, ging barfuß, noch in der Unterwäsche vom Vortag vom Schlafzimmer in die Küche und setzte sich an den kleinen Tisch. Sein leerer Blick streifte die heruntergekommene Küchenzeile. Schnell schloss er die Augen, drückte die Lider zusammen und wünschte, er wäre jemand anderes.

Schließlich blies er die angehaltene Luft aus und hob das Telefon langsam wieder ans Ohr. Am Rauschen in der Leitung hörte er, dass sein Bruder noch nicht aufgelegt hatte. Leider.

»Was willst du?«, flüsterte er.

»Du musst mir helfen. Ich brauche dich hier.«

Die dunkle Stimme seines Bruders war fordernd, wie immer. Aber etwas war anders. Die Stimme, die er so gut kannte, und der er jahrelang wie ein dressierter Hund gehorcht hatte, war nicht so klar und fest wie sonst. Er hörte die Gefahr förmlich heraus. Aus den Worten, die an sein Ohr drangen, formte sich das Bild eines rot aufleuchtenden Warnsignals in seinem Kopf.

Er atmete tief durch, wie es sein Therapeut ihm immer wieder eingetrichtert hatte. Die Anspannung löste sich ein wenig. Was immer sein Bruder von ihm wollte, es konnte ihm egal sein. Er würde kein Risiko eingehen, denn er wusste, wie gefährlich sein Bruder für ihn war. Wenn er das Dynamit war, dann war sein Bruder das Feuer an der Zündschnur.

»Was ist los mit dir? Hat es dir die Sprache verschlagen? Ich habe gesagt, ich brauche dich hier!«, sagte sein Bruder. Sein Tonfall brachte unmissverständlich zum Ausdruck, dass ihm die Gesprächspausen eindeutig zu lange dauerten.

Was sollte das? Langsam kehrte seine gewohnte Kaltschnäuzigkeit zurück.

»Das ist ausgeschlossen und das weißt du auch.«

Die Reaktion seines Bruders kam schnell und treffsicher.

»Du schuldest mir noch was. Ich habe dich damals auch rausgeboxt, vergiss das nicht.«

Düstere Erinnerungen schwappten wie ein Tsunami aus seinem Unterbewusstsein an die Oberfläche. Erinnerungen, von denen er gedachte hatte, sie für immer begraben zu haben. Szenen eines früheren Lebens, grauenvoll und verstörend, krachten wie Gewitterblitze vor seinem geistigen Auge nieder.

Er schnappte nach Luft. Er hatte geglaubt, all das Monströse, das sein zweites Ich, das Raphael getan hatte, für immer in der untersten Schublade seines Gedächtnisses verstaut und abgeschlossen zu haben. Was für ein Irrtum. Nur ein einziger Satz und die dazu passende Stimme und alles war wieder da. Es war, als ob es gestern geschehen wäre. Dabei waren sieben Jahre vergangen. Sein Therapeut würde das einen Trigger nennen. Ihm war der Fachbegriff egal, er wusste auch nicht, warum ihm das jetzt einfiel. Er wollte nur, dass es aufhörte. Die Panik, die Angst und diese Dumpfheit, die er nur zu gut kannte und die ihn in einen gefühlsdichten Kokon einweben konnte.

Damals, dachte er. Ja, es stimmte. Ohne seinen Bruder säße er jetzt noch im Knast oder, was wahrscheinlicher war, vollgepumpt mit Beruhigungsmitteln in einer Irrenanstalt. Aber wer war Schuld an allem gewesen? Doch nicht er. Sein Bruder hatte ihm den Auftrag erteilt, wie immer. Und Raphael hatte ihn ausgeführt, wie immer, ohne zu fragen. Ohne auch nur einen Moment zu zögern, oder darüber nachzudenken, was er tat. Da war es doch selbstverständlich, dass sein Bruder ihn aus der beschissenen Lage, in die er ihn gebracht hatte, auch wieder befreite. Nur nicht auf diese Art und Weise, wie er es damals schließlich getan hatte. Aber sei es drum. Es hatte funktioniert, und wenn er ehrlich war, hatte es ihn auch nie wirklich gekümmert, wie sein Bruder das Problem aus der Welt geschafft hatte. Hauptsache er hatte es getan.

»Ich habe dir gesagt, du sollst dich nie wieder bei mir melden«, sagte er schließlich und merkte im gleichen Moment, als er die Worte sprach, dass sie nicht endgültig genug über seine Lippen gekommen waren.

Sein Bruder wartete kurz, bevor er antwortete.

»Ich habe zwar nie verstanden, warum du aufgehört hast. Aber ich hätte mich daran gehalten. Ich hätte dich in Ruhe gelassen. Doch es geht nicht anders. Du bist der Einzige, der mir helfen kann. Alles Weitere, wenn du da bist. Du musst dich jetzt beeilen. Die Zeit wird knapp.«

Er war unschlüssig und schwieg. Sein Bruder klang nervös. Das passte nicht zu ihm. Er griff die Thermoskanne auf dem Küchentisch und goss sich eine Tasse von dem Kaffee ein, den seine Frau, wie jeden Tag von ihrem Frühstück übrig gelassen hatte.

»Nein«, sagte er dann.

Für ein paar Sekunden herrschte ungläubiges Schweigen in der Leitung. Dann:

»Warum glaubst du, rufe ich an?«

Sein Bruder erwartete keine Antwort. Er machte, bevor er fortfuhr, nur eine winzige Pause, um die Wirkung der folgenden Worte zu verstärken.

»Du bist die einzige Person, die mich retten kann. Nur du, niemand sonst. Mit anderen Worten, wenn du nein sagst, wenn du dich nicht augenblicklich auf den Weg machst, sterbe ich!«

Die Aussage war eindeutig und doch konnte er nicht daran glauben. Sein Bruder war immer derjenige gewesen, der austeilte. Jetzt steckte er offenbar in der Klemme. Aber was sollte das, warum konnte nur er ihm helfen, nach all den Jahren? Und wenn es so war, musste er dann nicht über seinen Schatten springen, das Risiko eines Rückfalls eingehen und seinem Bruder helfen. Auch wenn ihn das hier nur allzu sehr an früher erinnerte, als sein Bruder nur zu rufen brauchte und er zur Stelle war. Doch eines war klar, wenn es hart auf hart gekommen war, hatte sein Bruder ihn auch nie hängen lassen. Verdammt, er wollte nicht zurück. Er hatte jetzt ein anderes Leben.

»Ich bin dein Bruder. Hilfst du mir jetzt oder nicht?« Diesmal klang die Stimme ungewohnt freundlich, fast schon Mitleid erregend. Er wunderte sich immer wieder aufs Neue, dass er zur Wahrnehmung solcher Feinheiten in der Lage war, seit er regelmäßig die Medikamente nahm.

»Was ist jetzt, ich habe keine Zeit mehr«, drängte sein Bruder weiter.

Ich habe keine Zeit mehr. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, in was für eine Geschichte sein Bruder da hineingeraten war. Das alles klang mehr als seltsam und aus dem Wenigen, was sein Bruder erzählt hatte, konnte er nicht einmal erahnen, worum es ging. Was also sollte er tun? Jeden anderen hätte er zum Teufel gejagt, aber das hier war nun mal sein Bruder.

»Du hast doch genug Leute, warum ausgerechnet ich?«, fragte er.

»Nicht am Telefon.«

Es war elf Uhr morgens. Er war erst vor zehn Minuten aufgestanden. Die Nachtschicht saß ihm noch in den Knochen. Er trank einen Schluck Kaffee und nahm dazu seine Morgentablette, die Sarah ihm auf den Tisch gelegt hatte. Der Kaffee war nicht mehr richtig heiß. Aber er tat seinen Dienst. Er glaubte seinem Bruder, wenn es nicht ernst wäre, hätte er ihn nicht angerufen.

Er atmete tief durch und schloss die Augen. Dann gab er sich einen Ruck und traf eine Entscheidung.

»Also gut. In zwei Stunden bin ich bei dir.«

Am anderen Ende der Leitung wurde einfach aufgelegt.