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Die Kälte, die seinen Körper durchzog, war angenehm. Menschen das Leben zu nehmen, war gut. Zu töten, war für ihn immer ein Zwang gewesen. Er hatte sich nicht dagegen wehren können. Aber er hatte sich dem Zwang auch allzu gern bereitwillig hingegeben. Er erlebte dabei jedes Mal ein Hochgefühl. Wenn ein Maler malte, tat er das, weil er sich dabei gut fühlte. Genauso war es bei Raphael, wenn er tötete.

Als Kind hatte es mit kleinen Tieren angefangen. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er seine Goldfische unter einem Feuerzeug gebraten hatte, und wie er seinem Hamster nach und nach mit einem Messer die Gliedmaßen abgeschnitten hatte. Mit der Zeit waren die Tiere größer geworden. Hasen, Schweine, Schwäne und Pferde. Er war in den Schützenverein eingetreten, wurde Jäger. Er hatte auch einem geheimen Verein angehört, deren Mitglieder sich zu einem festen Termin im Wald trafen, um sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Als es bei den Kämpfen innerhalb kürzester Zeit zu zwei Todesfällen gekommen war, für die er verantwortlich zeichnete, warf man ihn hinaus.

Angangs hatte Eddie noch versucht, sich zu wehren. Doch schon bald hatte er festgestellt, dass es nicht ging. Er konnte Raphael nicht befehligen oder ihn von irgendetwas abhalten. Eddie war dazu verdammt, Raphaels Gedanken zu hören und zuzusehen, was dieser tat. Mit der Zeit hatte Eddie sich daran gewöhnt. Immer wenn Raphael beschloss, Besitz von ihm zu ergreifen, hatte Eddie es sich gemütlich gemacht. Es war, als ob er in einem bequemen Fernsehsessel einen spannenden Film anschaute.

Die Medikamente und die therapeutischen Sitzungen hatten Raphaels Zwang über die letzten Jahre im Zaum gehalten. Aber jetzt brauchte und wollte Eddie die Tabletten nicht mehr, nie mehr. Für wen sollte er sich geißeln, seine Frau war tot.

Eddie betrachtete sich wieder wie früher. Er war ein Naturereignis. Die Bestie in ihm war wie ein Autounfall, wie eine Lawine, ein Haiangriff, eine Wespe, die einen Allergiker sticht. Er war ein Teil der zerstörerischen Kräfte dieser Welt.

Die Psychiater hatten ihn als krank abgestempelt, weil er nicht der Norm entsprach, aber das taten andere auch nicht. Die Ärzte hatten ihm auch den Grund für seine Krankheit gesagt. Die Schuld läge bei seinem Vater, der ihn hatte hungern lassen, ihn geschlagen hatte, weil Eddie ihm zu mädchenhaft war und gerne mit Puppen spielte. Aber der Vater wollte einen vollwertigen Mann aus ihm machen. Raphael hatte dann diesen Part übernommen. Eddies Abhängigkeit sei dann nach dem Tod des Vaters auf Eddies Bruder Udo übergangen. Udo hatte die Macht über ihn wie ein Pilot über den Feuerknopf seines Kampfflugzeuges.

Erst als Eddie für die Dauer der Untersuchungshaft in dem Mordprozess vor sieben Jahren von seinem Bruder getrennt war, wurde sein Kopf klarer und die Abhängigkeit nahm in gleichem Maße ab, wie die Schübe seiner Krankheit, welche die Ärzte als multiple Persönlichkeitsstörung bezeichneten.

Allerdings war heute etwas Entscheidendes anders, als vor sieben Jahren. Damals wollte er nur noch Eddie sein. Heute wollte er gerade das nie wieder. Eddie war weich, voll Trauer um seine Frau. Raphael war hart, kannte keine Gefühle und er war Eddies bester Freund. Ein Vertrauter, der ihn nie im Stich ließ.

Raphael blickte auf den Toten vor sich auf dem Boden des Direktorenbüros und stieß wütend mit dem Fuß gegen ihn. Er bedauerte so sehr, dass er sich von seiner Wut hatte hinreißen lassen und den Mann, der Eddies Frau beleidigt hatte, mit einem schnellen Kopfschuss erledigt hatte. Er hätte ihn leiden lassen sollen, für das, was er über Sarah gesagt hatte. Was ihn selbst anging, hatte der Mann die Wahrheit gesagt, die Worte mochten ein wenig hart gewesen sein, aber im Kern lag der Mann richtig. Nur fragte er sich, woher der Mann seinen Spitznamen von damals kannte. Die Bestie, ein Name, der ihm gefiel. Es war lange her, dass ihn jemand so genannt hatte.

Er sah hinüber zu dem Computer im Direktorenzimmer. Er dachte an Waller, der sich im Keller versteckt hatte. Den Keller hatte er als Erstes abgesucht, dann hatte er sich Etage für Etage nach oben gearbeitet. Waller musste es mit viel Glück gelungen sein, an ihm vorbeizukommen. Er bedauerte, dass er nicht jedes einzelne Zimmer durchsucht hatte. Er atmete tief durch. Er hatte Zeit. Ihm war egal, ob die Polizei ihn schnappte, ihm war im Grunde genommen auch egal, ob er leben oder sterben würde. Doch vorher musste er den Mörder von Eddies Frau und denjenigen, der Eddie dazu getrieben hatte, seinen eigenen Bruder zu erschießen, bestrafen.

Plötzlich drehte er sich hastig um. Er kannte dieses Klopfen. Aber dennoch brauchte er einen Moment, um einordnen zu können, um was es sich handelte. Dann hetzte er aus dem Büro des Direktors in Richtung des Eingangsbereichs.

Raphael verpasste den aus dem Keller aufsteigenden Lift nur um Sekunden. Trotzdem schlug er auf den Knopf, obwohl ihm klar war, dass er die Kabine mit ihrem Inhalt dadurch nicht zum Anhalten oder gar zum Zurückkommen bewegen konnte. Er stieß einen kurzen Fluch aus und rannte dann zurück an der Rezeption und den Büros im Seitengang vorbei zum Treppenhaus. Mit ein paar Sätzen war er in der ersten Etage. Er rannte den Flur entlang, bog um die Ecke und kam schon wieder zu spät. Der Aufzug hatte auch in dieser Etage nicht angehalten und war schon auf dem Weg in den zweiten Stock. Eddie rannte zurück ins Treppenhaus und nach weiteren zwanzig Sekunden stand er vor dem Aufzug im zweiten Stock. Die Türen schoben sich im gleichen Moment zur Seite. Aber die Kabine war leer!