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»Was?«, schrie Eddie ins Telefon.
Die Szenerie glich einem Alptraum. Noch vor ein paar Stunden hatte er geglaubt, sein einfaches Leben als Nachtwächter in einer Spedition auf ewig mit seiner Frau weiterführen zu können. Und jetzt stand er schon wieder inmitten von Blut und Gewalt und eine verfremdete Stimme am Telefon forderte ihn auf, seinen Bruder zu erschießen.
Er dachte kurz an den blöden Spruch, dass die Vergangenheit jeden irgendwann einholt. Gleichzeitig fragte er sich, wie jemand zu der Annahme gelangen konnte, dass er jemals seinen Bruder töten würde, nur weil eine Stimme am Telefon es befahl.
Die Stimme holte ihn aus seinen Gedanken zurück.
»Ich sagte, Sie nehmen jetzt die Waffe und knallen damit Ihren Bruder ab.«
»Nein, das tue ich nicht.«
Die Stimme lachte ein selbstsicheres und heiseres Maschinenlachen.
»Wenn Sie es nicht tun, dann tun wir es. In diesem Moment zielt ein Präzisionsgewehr auf den Schädel Ihres Bruders.«
Eddie sah zum Fenster hinaus. Sie, wer immer sie waren, mussten aus dem gegenüberliegenden Haus durch das Fenster auf seinen Bruder zielen. Er sah dort eine zur Seite geschobene Gardine. Wenn er schnell genug wäre, könnte er vielleicht den Stuhl, auf dem sein Bruder saß, umkippen. Dann wäre dieser aus dem Schussfeld. Er machte einen Schritt auf seinen Bruder zu.
»Stopp! Wenn Sie sich Ihrem Bruder nur noch einen Millimeter nähern, ist er tot«, sagte die Stimme. »Vergessen Sie nicht, dass wir über das Internet genau sehen können, was Sie tun.«
Er stoppte abrupt ab.
»Nehmen Sie endlich die Waffe und schießen Sie!«, befahl die Stimme.
Eddie schaute auf das Display des Notebooks. Die Übertragung lief nach wie vor. Er war mit dem Handy am Ohr, genauso wie sein gefesselter Bruder, voll im Bild.
»Nein, das müssen Sie dann schon selbst erledigen«, sagte er.
Ein metallisches Lachen drang durch die Leitung. So als hätte er einen verdammt guten Witz erzählt. Das Lachen verstummte genauso schnell und überraschend, wie es eingesetzt hatte.
»Das glaube ich nicht«, sagte die Stimme amüsiert und im nächsten Moment hörte er einen Schrei, der ihm einen Schlag wie mit einem glühenden Eisen in die Magengrube versetzte. Er wusste, wer das war. Auch ohne die dazu passende Stimme, die dem Schrei nachfolgte. Die Worte kamen unter Tränen und Schluchzen hervor.
»Jemand richtet eine Pistole auf meinen Kopf. Sie werden mich töten, wenn du nicht tust, was sie sagen.«
In diesem Moment fühlte er sich, als ob er schwerelos im Weltraum taumeln würde. Um ihn herum nur leere Schwärze. Es war zweifellos die Stimme seiner Frau.
Was Sarah sagte, klang wie abgelesen, wahrscheinlich war es das auch. Aber der Wirkung tat es keinen Abbruch. Er merkte, wie er im Zimmer zurücktaumelte, weil er sein Gleichgewicht verlor. Sein Gesichtsfeld verengte sich. Nein, nicht jetzt, dachte er. Ich muss klar im Kopf bleiben, ich muss ihr helfen.
Die mechanische Stimme riss ihn aus seiner Benommenheit.
»Töten Sie jetzt Ihren Bruder, feuern Sie das gesamte Magazin auf ihn ab oder wir töten Ihre Frau.«
Eddie war zu keiner Antwort fähig. Sie kannten seinen Namen und sie mussten Sarah entführt haben, als er auf dem Weg hierher war. Vielleicht waren sie auch bei ihm zu Hause und hielten sie dort fest. Es war egal. Wer auch immer dahinter steckte, hatte einen perfekten Zeitplan aufgestellt. Er musste etwas tun, aber was? Bis ihm etwas einfiel, musste er sie hinhalten.
Langsam ging er zu der offenen Schublade und nahm die Waffe in die Hand. Es fiel ihm keine Lösung ein. Er schwitzte. Die zugeschwollenen Augen seines Bruders weiteten sich leicht, als er die Waffe sah. Mit der wenigen Kraft, die er noch hatte, rüttelte er an seinen Fesseln. Auch versuchte er, etwas zu sagen, doch durch den Knebel drangen nur gedämpfte unverständliche Laute.
Seine Gedanken schossen wild wie Flipperkugeln durch sein Hirn. Würde die Stimme es wirklich tun, würde sie seine Frau töten? Sarah hatte doch keinem etwas getan. Sie war so zart, so gütig. Sie war sein Schutzengel.
»Ich zähle jetzt bis zehn«, sagte die Stimme. »Wenn Sie bei zehn nicht geschossen haben, sterben Ihre Frau und Ihr Bruder in derselben Sekunde.«
Er glaubte, es nicht aushalten zu können, als die Stimme zu zählen begann.
»Eins, zwei, drei, ...«
Raphael hatte schon unzählige Menschen getötet. Er hatte es getan, weil es sein Job gewesen war und sein Job hatte ihm Spaß gemacht. Langsam und mit zittriger Hand, hob er die Pistole und zielte auf seinen Bruder. Diesmal war es etwas anderes. Die Waffe schien plötzlich Tonnen zu wiegen.
»Vier, fünf, sechs, ...«
Er versuchte sich klar zu machen, dass sein Bruder ihn sein Leben lang nur ausgenutzt hatte. Doch es gelang ihm nicht. Wenn es hart auf hart gekommen war, hatte sein Bruder immer zu ihm gehalten. Bilder aus ihrer gemeinsamen Jugend zuckten wie Blitze an seinem inneren Auge vorbei.
Einmal war er in den Fluss gefallen, an dem sie als Kinder gespielt hatten. Sein älterer Bruder war ohne zu zögern in das eiskalte Wasser gesprungen und hatte ihn gerettet.
»Verdammte Scheiße«, schrie er in das Handy.
»Sieben, acht, neun, ...«
Dann sah er Sarah vor sich. Sarah, die weinte, weil ihr ein Irrer eine Pistole an den Kopf hielt. Sie war seine Zukunft.
»Zehn.«
Blitze zuckten in schneller Folge durch den Raum. Jeder begleitet von einem kurzen puffenden Geräusch. Jeder Treffer schüttelte den Körper des Gefesselten. Er hörte nicht auf, bevor er das Magazin vollständig leer geschossen hatte.
Der Kopf seines Bruders hing leblos zur Seite, als er fertig war. Das ehemals weiße Unterhemd war jetzt vollständig vom Blut rot gefärbt. Er hielt das Handy noch immer ans Ohr und die Waffe auf seinen Bruder gerichtet.
»Sind Sie jetzt zufrieden?«, schrie er.
Es kam keine Antwort. Sekunden vergingen. Die Leitung stand noch.
»Das haben Sie gut gemacht. Jetzt müssen Sie nur noch das Notebook ausschalten. Dann sind wir fertig«, sagte die Stimme.
Er blickte hinüber zu dem Computer. Die Aufnahme lief noch immer. Er ging zu dem Tisch und klappte das Display zu.
»Ich habe getan, was Sie wollten. Jetzt lassen Sie meine Frau frei«, sagte er.
Wieder dauerte es ein paar Sekunden, bis die Stimme antwortete.
»Nein!«
Er traute seinen Ohren nicht. Bevor er seinen Verstand zum Verstehen zwingen konnte, sprach die Stimme weiter.
»Ich habe nicht vor, Ihre Frau am Leben zu lassen.«
»Aber ... Sie haben gesagt ...«
»Ja, ich weiß, was ich gesagt habe«, unterbrach ihn die Stimme.
»Und?«
»Seit wann vertraut man einer verfremdeten Stimme am Telefon? Aufgepasst! Gleich können Sie hören, wie Ihre Frau stirbt. Und wissen Sie was? Sie allein sind schuld daran!«
»Nein, warten Sie!«
In diesem Moment fiel der Schuss am anderen Ende der Leitung.
Er glaubte, zusammenzubrechen. Seine Welt zerfiel mit diesem Geräusch in tausend Scherben, unmöglich, sie je wieder zu einem Teil zusammenzufügen.
»Na, wie fühlt sich das an?«, sagte die Stimme, dann legte sie auf.
Er fiel auf die Knie. Er beugte sich nach vorne, berührte mit der Stirn den Fußboden. Sein Mund öffnete sich. Doch es kam kein Laut. Es war nur das Bild eines lautlosen Schreis. Dann kamen die Tränen. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals geweint zu haben. Er ließ sich zur Seite fallen und lag da, zusammengekauert wie ein kleines Kind.
Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Er beruhigte sich ein wenig. Vielleicht hatte die Stimme nur geblufft. Sein Bruder war ein Schwein gewesen. Auch gab es unzählige Gründe, ihn selbst oder besser Raphael hinter Schloss und Riegel zu bringen. Aber was für einen Sinn ergab es, eine unschuldige Frau zu ermorden? Vielleicht hatte die Stimme daneben geschossen und seine Frau lebte noch. Mit einem Satz war er auf den Beinen. Eddie Kaltenbach steckte die Pistole in seine Jackentasche und rannte los.