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Das Notebook stand zusammengeklappt auf Marianne Seewalds Schreibtisch. Er setzte sich an den Stuhl hinter dem Schreibtisch und zog das Notebook näher zu sich heran. Er klappte den Bildschirm auf und drückte die Power-Taste. Es dauerte etwas über eine Minute, bis das Notebook hochgefahren war. Mit zittrigen Händen startete er das E-Mail-Programm. Er sah sich den Ordner mit den versandten E-Mails an und erstarrte. Er hatte nicht daran geglaubt, weil es keinen Sinn ergab und nun war es doch so. Er fand die an ihn gerichteten Nachrichten als Oberstes auf der Liste. Er klickte darauf, las ihren Inhalt und fand die Bestätigung. Die E-Mails mit dem Absender seiner Frau waren von diesem Computer aus an ihn verschickt worden. Augenblicklich arbeitete sein Verstand an einer plausiblen Erklärung. Warum hatte Marianne Seewald, die er noch nie zuvor gesehen hatte, ihm die verstörenden Nachrichten unter dem Namen seiner Frau geschrieben?
Plötzlich schien sich das ganze Zimmer um ihn herum zu drehen. Er ließ sich in den Stuhl zurückfallen und versuchte, seinen hektischen Atem unter Kontrolle zu bringen. Ganz ruhig, tief ein- und ausatmen. Er hörte die beruhigende Stimme Dr. Hörschlers zu ihm sprechen. Langsam wurde es besser. Das Zimmer kam wieder zum Stillstand.
Aber nichts ergab einen Sinn. Er brachte die Puzzleteile, die sich ständig vermehrten, einfach nicht zusammen. Er merkte, wie er wieder schwitzte. Am liebsten hätte er sich alle Kleider vom Leib gerissen, so heiß war ihm mit einem Schlag. Warum sollte Marianne Seewald ihm die E-Mails geschickt haben? Immer wieder dieselbe Frage, auf die er keine Antwort wusste. Es gab kein Motiv. Und warum hatte sie sich danach umgebracht? Er zwang sich wieder an das Notebook und betrachtete das Display. Er sah, dass sich im Ordner Postausgang noch ein Dokument befand, das noch nicht versandt war. Vermutlich wegen des Ausfalls der Telefonleitung, dachte er. Seine Augen weiteten sich, als sich ihm ein übler Verdacht aufdrängte. Mit zittrigen Händen klickte er auf den Postausgang und erstarrte, als er seinen Verdacht bestätigt sah. Empfänger dieser Nachricht, die keinen Betreff hatte, hätte abermals er sein sollen. Er klickte erneut und hatte den Inhalt vor seinen Augen, die sich mit jedem Wort, das er las, mehr und mehr mit dem Ausdruck abgrundtiefen Schreckens füllten.
Lieber Martin,
Blut zur Sühne färbte das reine Wasser rot.
Das Leben ging, langsam kam der Tod.
Mit der Schmerzdame ist es nun auch vorbei.
Übrig bleiben nur noch drei.
In ewiger Liebe
Anna
Zu den Schwitzattacken und den Kopfschmerzen, die wie Turbinen eines Jumbojets unter seiner Schädeldecke wühlten, gesellte sich nun auch noch eine unerträgliche Übelkeit. Er erinnerte sich genau, wann er sich das letzte Mal so gefühlt hatte. Es war, als er den Alkohol von einem auf den anderen Tag abgesetzt hatte. Nur einen Schluck, dachte er und es geht mir besser. Fakt war, dass er in seinem jetzigen Zustand nicht weit kommen würde. Er fühlte sich wie auf Entzug. Aber eigentlich war das nach der langen Zeit der Abstinenz nicht mehr möglich. Doch seine Gedanken kreisten nur noch um einen einzigen Schluck Hochprozentiges. Es war nicht einmal die Lust am Trinken, die ihn anstachelte, den Kühlschrank zu öffnen. Es war das Bedürfnis seinen körperlichen Qualen ein Ende, oder wenigstens Linderung zu verschaffen. Er sah die Flasche mit dem Tequila, griff beherzt zu, öffnete sie und führte sie zum Mund. Kurz bevor die Flasche seine Lippen berührte, hielt er inne. Was war mit Paul? Wenn er jetzt die Beherrschung verlor, würde ihm Anna das niemals verzeihen. Er konnte förmlich sehen, wie sich die Tränen der Enttäuschung in ihren Augen bildeten, je näher die Flasche seinen Lippen kam. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er gerade in Gedanken angenommen hatte, dass Anna noch lebte. Das erschreckte ihn nur noch mehr. Doch irgendwie brachte ihn die Vorstellung auch wieder zur Vernunft. Was, wenn sie wieder eine glückliche kleine Familie werden könnten? Er hatte nur einen großen Schluck nehmen und den Rest in den Ausguss gießen wollen. Jetzt kippte er die ganze Flasche hinein.
Was er spürte waren keine Entzugserscheinungen. Er hätte sich gerne selbst damit getäuscht, um wieder einen Grund zum Trinken zu haben. Es war nur das gleiche elende Gefühl, das er in der Nacht gespürt hatte, nachdem Anna Selbstmord begangen hatte. Er nahm sich jetzt statt des Tequilas ein großes Glas Wasser und trank es in einem Zug aus. Er füllte das Glas wieder und setzte sich an den Tisch. Er atmete bewusst langsamer und dann spürte er ein wenig Linderung. Er konnte sich wieder konzentrieren.
Der Text der letzten E-Mail, die er nur einmal gelesen hatte, hatte sich in seinem Gehirn festgesetzt wie eine Tätowierung auf der Haut. Die Nachricht flimmerte auch jetzt vor seinen Augen, als ob sie ihm etwas Tiefgreifendes verraten wollte. Dabei war die Aussage klar und deutlich. Es gab keine hintergründigen Hinweise. Er dachte an den Inhalt der davor liegenden E-Mail:
Fünf böse Menschen verdarben das Leben mir.
Ein Schädling erschoss den anderen,
da waren es nur noch vier.
Der Text besagte, dass derjenige, der ihn geschrieben hatte, von fünf Menschen Böses zugefügt bekommen hatte. Mit Udo Kaltenbach war der Erste gestorben und mit Marianne Seewald, die Zweite. Für den Schreiber der Mail war Frau Seewald die Schmerzdame.
Übrig blieben noch drei Personen und wie es aussah, gehörten er, Martin, und Ernst Söder dazu. Das konnte man daraus folgern, dass Martins Namen an den Spiegel und Söders Namen an die Badfliesen geschmiert worden war. Aber auch Eddie Kaltenbach stand wahrscheinlich auf der Abschussliste. Nur er konnte mit dem Schädling gemeint sein, der den anderen erschoss. Nur ergab das alles keinen Sinn. Oder war es doch Eddie, der die Zeilen geschrieben hatte? Nein, Eddie Kaltenbach musste Martin dankbar sein. Auch stellte Martin nach dem Freispruch keine Gefahr mehr für Eddie dar. Denn ein Strafverfahren, das mit einem Freispruch endete, konnte nicht noch einmal aufgerollt werden. Auch die Reime passten nicht zu Eddie. Er war kein Mensch der Worte, eher der Taten. Andererseits stand außer Frage, dass Eddie völlig durchgeknallt war und die Reime waren in einer einfachen kindlichen Form verfasst, so dass sie doch von ihm stammen konnten. Martin raufte sich mit den Händen durch die Haare.
Söder hatte etwas zu verbergen. Er wusste über den Prozess Bescheid. Möglicherweise hatte Eddie noch eine Rechnung mit Söder offen. Martin hoffte inständig, dass Söder kein Risiko einging, wenn er auf Kaltenbach stieß. Schließlich war Selma bei ihm. Dann jagte ihm ein anderer Ansatz durch den Kopf. Warum erhielt nur er diese E-Mails? Warum war der Tod Marianne Seewalds so arrangiert, dass er nahezu identisch mit dem Tod seiner Frau war? Und warum waren die E-Mails so gestaltet, als hätte Anna selbst sie geschrieben?
Vielleicht hatte das zu bedeuten, dass er den Inhalt auf Anna beziehen musste, was bedeutete, dass nicht Eddie Kaltenbach derjenige war, dem Unrecht angetan wurde und der sich jetzt dafür rächte, sondern ... seine Anna? Er schüttelte den Kopf. Nein, das konnte auch nicht richtig sein. Abgesehen davon, dass sie nicht mehr lebte, warum sollte seine Frau ihn töten wollen? Der Ermordung Udo Kaltenbachs hätte Anna gewiss nicht nachgeweint. Er war der Grund dafür, dass Martin vor Gericht eine Falschaussage unter Eid begangen hatte. Die Richterin war maßlos verärgert gewesen und hatte vor Fassungslosigkeit getobt. Doch Martin war dabei geblieben. Er hatte auch gar keine andere Chance gehabt. Martins Gedanken schweiften zurück an den Tag, als er die Stufen zum Tor des Gerichtsgebäudes emporgestiegen war. Sein Handy hatte geläutet. Es war die Nummer von zu Hause. Anna, sie will mir bestimmt noch einmal Glück wünschen, hatte er gedacht und dann hatte er den Anruf mit einem, angesichts der bevorstehenden Verhandlung bedrückten »Hallo«, entgegen genommen. Er war wie versteinert stehengeblieben, als eine Männerstimme sich am anderen Ende meldete. Es war Udo Kaltenbach.
»Hören Sie mir jetzt ganz genau zu. Das Leben Ihrer Frau hängt davon ab.«
Udo Kaltenbach hatte eine kurze Pause eingelegt, um seinen folgenden Worten mehr Nachdruck zu verleihen.
»Sagen Sie nachher vor Gericht aus, Sie hätten sich geirrt. Sagen Sie, dass es nicht mein Bruder war, den Sie gesehen haben. Sagen Sie, dass ein anderer Mann, den Polizeibeamten erschossen haben muss. Sagen Sie, dass Sie vollkommen sicher sind. Wenn mein Bruder verurteilt wird, stirbt Ihre Frau, wenn er freigesprochen wird, ist auch Ihre Frau frei.«
Dann hatte Kaltenbach aufgelegt. Martin trank das Wasserglas wieder in einem Zug aus, als ob er damit die grässlichen Gedanken an den Tag, seit dem es mit ihm und Anna bergab gegangen war, ertränken könnte.
Ein Schädling erschoss den anderen.
Udo Kaltenbach war ein Schädling und sein eigener Bruder Eddie Kaltenbach hatte ihn erschossen. Eddie war dem Inhalt der Mail nach auch ein Schädling, was bedeutete, dass auch er auf der Abschussliste stehen musste. Dann konnte er aber nicht der Täter sein.
Martin zermarterte sich weiter das Hirn. Doch wie er es auch drehte und wendete, es fiel ihm keine plausible Lösung ein. Blieb noch die unwahrscheinliche Variante, dass Marianne Seewald die ominösen E-Mails an ihn geschrieben und sich danach umgebracht hatte. Aber warum hätte sie ausgerechnet ihm diese Nachrichten zukommen lassen sollen und dann auch noch unter Annas Namen und über deren E-Mail-Konto? Er musste an Söders Worte denken »Soll sich doch die Polizei darum kümmern.« Innerlich stimmte er dem jetzt zu. Mit dem, was er bis jetzt wusste, konnte er das Rätsel nicht lösen. Und viel wichtiger, als die Frage, wer dahinter steckte, war jetzt, wie Selma und er diese Nacht lebend überstehen konnten. Vorsichtig öffnete er die Wohnungstür und schlüpfte lautlos in den Flur. Im gleichen Moment hörte er die Standuhr viermal schlagen.