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Zum Schluss öffnete Martin auch die Textdatei. Ein drei Seiten langer Bericht erschien. Die Überschrift lautete:
Eidesstattliche Versicherung.
Die Köpfe nebeneinander vor dem Display des Notebooks lasen Martin, Selma und Bumann die verstörenden Zeilen.
Mein Name ist Knut Winkler, geboren am 12.April 1975. Ich schreibe die folgenden Zeilen im Vollbesitz meiner geistigen Fähigkeiten. Gleichzeitig hoffe ich, dass niemand lesen muss, was ich hier schreibe, denn das würde bedeuten, dass ich bereits tot bin und meine Aussage nicht mehr persönlich als Zeuge vor Gericht machen kann.
Vor zwei Jahren wurde ich als verdeckter Ermittler des Bundeskriminalamtes in die Organisation von Rita Mattfeld, die von Frankfurt aus operiert, eingeschleust. Nach einem Jahr nahm man mich in den inneren Zirkel auf, betraute mich mit Detailwissen über Vertriebswege und Kontaktpersonen. Leider muss ich auch zugeben, dass ich zum Erwerb dieses Vertrauens Verbrechen begehen musste. Ich musste Heroin und Kokain über die Grenzen ins Land schmuggeln und ich musste einen Menschen töten, einen Drogendealer, der sich einer konkurrierenden Organisation anschließen wollte. Bevor ich ihn erschoss, wurde er von Dr. Tod (den richtigen Namen werde ich gleich nennen) gefoltert, um zu erfahren, ob er als Informant für die Polizei oder die verfeindete Bande gearbeitet hatte. Der Mann war ein Schwein, was meine Tat nicht rechtfertigen soll. Ich tötete ihn durch einen gezielten Kopfschuss. Es war ein Aufnahmetest. Sie wussten, dass ein verdeckter Ermittler so etwas nicht tun durfte und auch nicht tun würde. Mit meiner Tat erkaufte ich ihr bedingungsloses Vertrauen. Hätte ich es nicht getan, hätte es ein anderer getan und man hätte mich ebenfalls sofort getötet. Die Undercoveraktion wäre geplatzt. Das alles bedauere ich sehr. Ich habe den Preis gezahlt und dafür Zugang zum inneren Kreis der Organisation von Rita Mattfeld erhalten. Dieses Beweismaterial möchte ich hiermit schriftlich offen legen, damit dieser Firma, die mit Fug und Recht die Hauptrolle in Frankfurts organisierter Kriminalität spielt, das Handwerk gelegt werden kann. Mattfelds Betätigungsfeld ist breit gestreut. Menschhandel, Waffenhandel und Drogenhandel bilden die Hauptsäulen. In der Szene hat Rita den Spitznamen SCHMERZDAME und sie wird diesem Namen in jeder Hinsicht gerecht. Jeder Widerspruch wird mit Gewalt und Folter im Keim erstickt. Ihre rechte Hand ist ihr Sohn Konstantin. Er übt mittlerweile die eigentliche Macht aus. Er setzt die brutalen Anweisungen seiner Mutter, ohne nachzudenken, oder zu widersprechen um. Ihr Wort ist für ihn Gesetz. Außerdem von herausragender Bedeutung ist Dr. Armin Baltes, ein ehemaliger Arzt, der seine Approbation verlor, weil er die aktive Sterbehilfe oft, gern und immer strafbar anwandte. Danach arbeitete er in der Szene als Arzt, der Schusswunden und Stichwunden versorgte, ohne Meldung an die Behörden zu erstatten, wozu jeder normale Arzt und jedes Krankenhaus verpflichtet ist. Seit vier Jahren arbeitet er ausschließlich für die Schmerzdame. Dort ist Dr. Baltes zuständig für Folter und Tötungen der kriminellen Widersacher. Außerdem vertraut Rita Mattfeld blind seinem Rat. Er trägt den Spitznamen Dr. Tod. Rita Mattfeld und Dr. Armin Baltes sind auf den von mir gemachten Fotos auf diesem Datenträger zu sehen. Sie sind die Hauptpersonen in einem kriminellen Netzwerk, das seinen Profit aus Drogen, Waffen und jungen Mädchen zieht.
Der folgende Text beschrieb den Weg, auf dem die Drogen und Mädchen ins Land kamen, und wie die Waffen Deutschland meist in Dritte Welt Staaten verließen. Auch der Vertriebsweg, also wie die Kriminellen es schafften, die Waren an den Grenzkontrollen vorbei zu schleusen, war dargestellt. Meist lief es über Bestechung und mit gefälschten Frachtpapieren. In wenigen Fällen nutzten sie auch Lücken im Kontrollsystem aus. Außerdem enthielt Winklers Aufzeichnung sämtliche Kontaktpersonen und eine Liste der Helfer und Mitglieder der Organisation. Die Darstellung schloss mit folgenden Worten:
Ich hoffe, dass das von mir zusammengestellte Material ausreicht, diese Bande von Kriminellen vor Gericht zu stellen. Ich bedaure, dass meine Kollegen und Vorgesetzten beim BKA den Eindruck gewinnen mussten, ich sei ins feindliche Lager übergelaufen, weil ich mich zuletzt zu den vereinbarten Treffen nicht mehr einfand und auch ansonsten in den letzten sechs Monaten keinen Kontakt mehr zu ihnen aufnahm. Doch es wäre zu gefährlich für mich und die Mission gewesen. Erstens, weil ich ständig von den Schergen der Schmerzdame im Auge behalten werde. Ich vermute, dass meine gesamte Kommunikation überwacht wird. Zweitens und das ist schlimmer, glaube ich, dass Teile der Staatsanwaltschaft auf der Gehaltsliste dieser Verbrecher stehen. Ich weiß nicht, wem ich noch vertrauen kann. Am meisten muss ich mich bei meiner Frau entschuldigen, die ich über alles liebe. Dieser Job hat mich verändert. Wer so viel Grauenhaftes sieht, dem haftet das an und es lässt sich nicht mehr abwaschen. Irgendwann muss man sich entscheiden, ob man abbricht oder weitermacht. Aber was wäre, wenn ich aufgehört hätte. All die Morde, die Qualen der jungen Mädchen, die zur Prostitution gezwungen und deshalb mit Drogen vollgepumpt werden. Es würde immer weiter gehen. Also habe ich mich entschieden, weiterzumachen, auch wenn es bedeutet, dass ich mit allem, was ich liebe, brechen muss. Ein Leben, nämlich meins, kann nicht so wichtig sein, wie das Hunderter, dass ich vielleicht retten kann, wenn ich zur Zerschlagung dieser Bande beitrage.
Das Dokument datierte mit dem 26. Mai vor über sieben Jahren. Es trug die Unterschrift Knut Winklers.
Martin schnappte nach Luft. Die Eigentümerin dieses Hotels hieß gar nicht Marianne Seewald und ihr Hausmeister hieß auch nicht Ernst Söder. Es handelte sich um Rita Mattfeld und Dr. Armin Baltes. Die Schmerzdame und Dr. Tod.
Jetzt auf einmal passte Söders Verhalten zu der Person, die der BKA-Mann Knut Winkler hier beschrieben hatte. Auch der Tod des Gangsterpärchens Mattfeld und Baltes war jetzt nicht mehr so erschreckend. Eddie stand mit ihnen in Verbindung und Menschen in diesem Milieu wurden ab und an, Opfer ihrer eigenen Profession. Nur warum jetzt und hier und warum überhaupt? Diese Fragen konnte Martin sich nicht beantworten, er wusste nur eins. Diese Beweise auf dem USB-Stick waren Grund genug zu töten.