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Er tippte die Nummer seiner Frau in das Tastenfeld des Telefons. Sarah hatte einen Halbtagsjob in der Buchhaltung der gleichen Spedition, in der er als Nachtwächter arbeitete, und würde um halb eins Feierabend haben. Mit den beiden Minigehältern kamen sie über die Runden. Sie brauchten keinen Luxus und Kinder hatten sie auch keine.

Er erzählte ihr, dass er spontan noch einem Kollegen, der ihn gerade angerufen habe, beim Tapezieren helfen wollte. Er wäre also nicht da, wenn sie nach Hause käme. Sie solle auch mit dem Abendessen nicht auf ihn warten.

Er hatte Sarah nie erzählt, dass er einen Bruder hatte. Sie wusste so vieles nicht. Auch Raphael war sie nie begegnet. Vielleicht war sie gerade deshalb das Beste, was ihm je im Leben passiert war.

Er startete den Wagen und fuhr los. Während er sich Frankfurt näherte, spürte er zum ersten Mal seit Jahren wieder die Kälte in seinem Körper. Er musste zugeben, dass er sie vermisst hatte. Sie breitete sich mit jedem Kilometer, den er zurück in sein altes Leben fuhr, weiter in ihm aus, und als er vor dem Mietshaus, in dem sein Bruder wohnte, parkte, hatte er das Gefühl, nie weg gewesen zu sein.

Es machte ihm Angst. Er tat genau das, was sein Therapeut ihm strengstens verboten hatte. Er konfrontierte sich wieder damit. Aber was sollte er tun? Es ging um seinen Bruder, seinen einzigen noch lebenden Verwandten, dessen Leben dem Telefonat zufolge bedroht wurde. Er durfte nur auf keinen Fall zu tief in seine alten Gewohnheiten eintauchen, dann würden die sorgsam aufgebauten Sicherungen in seinem kranken Gehirn auch standhalten. Er musste einen imaginären Schutzwall um sich errichten, der es ihm erlaubte, die Dinge auf Distanz zu halten. Auch wenn er in Bezug auf seinen Bruder keine emotionale Bindung mehr hatte, so konnte er doch die Tatsache, dass sie vom selben Blut abstammten, nicht gänzlich außer Acht lassen.

Blut, das Wort rief Bilder in ihm hervor, bei denen sich die meisten Menschen übergeben hätten. Er hingegen hatte sich notgedrungen daran gewöhnt. Er musste Raphael beschützen, auch wenn man Raphael vorwarf, abartig zu sein, weil es ihn keine Überwindung kostete, oder gar Emotionen in ihm hervorrief, wenn er einem Menschen bei lebendigem Leib mit dem Messer ein Auge entfernte. Das war für Raphael doch nur ein Beruf wie jeder andere auch. Es scheute Raphael nicht, wie Menschen von innen aussahen. Nur war er kein Chirurg geworden, sondern einer, der dafür sorgte, dass die Ärzte etwas hatten, das sie wieder zusammenflicken konnten.

Er stieg aus und blickte die Straße hinunter. Es war jetzt Viertel nach eins. Es regnete und seine Bluejeans sog den prasselnden Regen auf wie ein Schwamm. Bevor er in den überdachten Eingangsbereich des Mietshauses huschte, sah er an der Fassade des achtstöckigen Hauses empor. Sie war noch dreckiger, als er sie in Erinnerung gehabt hatte.

Er hatte nie verstanden, warum sein Bruder noch immer in der alten Bruchbude ihrer früh verstorbenen Tante wohnte. Sein Bruder war reich. Er hätte sich eine Villa in Frankfurts Nobelgegend leisten können. Doch er wollte nicht. Er hatte immer gesagt, hier unter all den normalen Menschen, würde er sich wohler fühlen. Er brauche das Milieu, seine Basis, um nicht zu verweichlichen.

Verrückt, dachte er. Aber wenn er es in Gegenwart seines Bruders ausgesprochen hätte, dann hätte er die Antwort geradezu provoziert.

»Wer von uns beiden ist denn hier der Verrücktere?«, hätte sein Bruder gesagt und dabei kalt gelächelt.

Er klingelte auf dem namenlosen Schild und erwartete, die Stimme seines Bruders über die Sprechanlage zu hören. Doch es geschah nichts. Er drückte drei weitere Male auf den Klingelknopf. Wieder nichts. Dann öffnete sich die schwere Eingangstür und ein Junge mit blonder Zottelmähne von acht oder neun Jahren kam aus dem Haus.

Er nutzte die Gelegenheit und stellte den Fuß in die Eingangstür. Als der Junge um die Ecke verschwunden war, betrat er das Treppenhaus. Es gab keinen Fahrstuhl.

Die Treppe hinauf in den achten Stock zog sich endlos hin. Sein Bruder bezeichnete es als kostenlose tägliche Fitnessübung, sie hinaufzusteigen. Er selbst empfand es als sinnlose Quälerei. Er erklomm Stockwerk für Stockwerk und stellte dabei bedauernd fest, dass die Pfunde, die er in den vergangenen Jahren zugelegt hatte, ihm dabei erheblich zu schaffen machten.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte er die Etage mit der Wohnung seines Bruders erreicht. Er hielt sich am Treppengeländer fest und schnaufte. Schweißperlen rannen von seiner Stirn. Er ging ein paar Schritte den Flur entlang. Dann sah er die Wohnungstür. Sie stand einen Spalt weit offen. Auf dem Boden vor der Tür lagen Splitter. Aufgebrochen, dachte er. Ein Schreck durchfuhr seine Glieder. Sein erster Impuls war in die Wohnung zu stürmen, doch sein Handy hielt ihn im selben Moment davon ab. Es klingelte. Er hatte eine digitale Kopie des schrillen lauten Klingelns der alten Telefone von vor dreißig Jahren eingestellt. Besser hätte er die Aufmerksamkeit eines potentiellen Einbrechers, der sich vielleicht noch in der Wohnung befand, nicht auf sich lenken können. Er lehnte sich an die Wand neben der Tür und schaute auf das Display des Handys. Es meldete einen unbekannten Anrufer. Kurz zögerte er. Dann nahm er das Gespräch entgegen.

Die Stimme am anderen Ende hatte nichts Menschliches. Sie klang wie ein Roboter. Der Anrufer benutzte eine Maschine oder eine Software zur Stimmenverfremdung. Doch das, was die Stimme sagte, war noch viel schlimmer.

»Gehen Sie rein und warten Sie auf weitere Anweisungen. Wenn Sie versuchen sollten, Ihren Bruder zu befreien, stirbt er. Wenn Sie ohne unsere Zustimmung dieses Telefonat beenden, stirbt ihr Bruder ebenfalls. Wenn Sie ihn sehen, wissen Sie, dass wir es ernst meinen.«

Völlig überrumpelt folgte er der Aufforderung der Stimme und öffnete die Tür. Beiläufig nahm er jetzt wahr, dass zwei Einschusslöcher darin klafften. Ein schaler Geruch von Schweiß und Blut strömte ihm entgegen. Vorsichtig betrat er die Wohnung. Er warf im Vorübergehen einen Blick durch die angelehnte Schlafzimmertür zu seiner Rechten und blieb abrupt stehen. Er sah die Beine eines Mannes, der neben dem Bett lag. Mehr war durch den Spalt nicht zu erkennen. Er ließ die Tür aufschwingen und sah, wer da lag. Es war nicht sein Bruder. Es war Johnny.

Johnny war so etwas wie der Leibwächter seines Bruders, fast schon ein Freund. Mehr als zwanzig Jahre hatte er für Udo gearbeitet. Er lag auf dem Rücken neben dem Bett. Sein für ihn obligatorischer Trainingsanzug war in Brusthöhe rot verfärbt. Seine Augen und sein Mund standen offen. Aber sein Brustkorb bewegte sich nicht. Johnny mit den roten Haaren, dem Backenbart und der Brille, deren Gläser so dick waren, dass sie an Glasbausteine erinnerten und derentwegen er den Spitznamen Maulwurf trug, war tot. Jemand hatte ihn durch die Tür hindurch erschossen und ihn dann hierher geschleift.

Seine böse Vorahnung verstärkte sich. Was zum Teufel wurde hier gespielt? Er spürte, dass sein Schutzwall kurz davor stand, sich in Nichts aufzulösen. Trotz der Tablette am Morgen.

Er schaute wieder nach vorne und folgte wie hypnotisiert dem schmalen Flur bis zu der offen stehenden Wohnzimmertür. Was ihn dort erwartete, traf ihn wie ein Frontalzusammenstoß mit einem Bulldozer.

In einer Ecke, in der Nähe des Fensters, sah er seinen Bruder. Er saß auf einem Stuhl und war mit einem langen Seil gefesselt, das mehrfach um seinen Oberkörper und die Rückenlehne des Stuhles geschlungen war. Seine Beine waren an den Stuhlbeinen festgebunden. Beim Anblick seines Bruders weiteten sich kurz seine Augen. Es war lange her, dass er mit so einer Sauerei und so viel Blut konfrontiert gewesen war. Wenn es nicht sein Bruder gewesen wäre, der vor ihm saß, hätte er vielleicht noch wie früher seine Freude daran gehabt. Damals, als er noch die Drecksarbeit für seinen Bruder erledigt hatte, war er derjenige gewesen, der solche Grausamkeiten verübte. Jetzt hatte ein anderer seinen Bruder erwischt und es diesem mit gleicher Münze heimgezahlt.

Das Gesicht seines Bruders war fast bis zur Unkenntlichkeit angeschwollen. Blutergüsse und Platzwunden zeichneten sich auf Wangen, Kinn und über den Augen ab. Aus seiner Nase, die in schrägem Winkel zur Seite stand, troff Blut auf das weiße Unterhemd und bildete dort einen roten Fleck. Seine Lippen waren aufgeplatzt. Der Knebel in seinem Mund war voll Blut gesaugt.

Regungslos stand er da und starrte seinen Bruder an. Dessen Kopf, der bisher leblos nach vorne gehangen hatte, hob sich. Die Augen seines Bruders blickten ihn dunkel und kalt an.

Er spürte, wie sein Bewusstsein sich trübte und sein Arm, mit dem er noch immer das Handy an sein rechtes Ohr presste, schwer wurde. Er kannte dieses seltsame Gefühl. Das letzte Mal war sieben Jahre her. Im nächsten Moment wollte er losstürmen und seinem Bruder helfen, doch dann erinnerte er sich daran, was die Stimme gesagt hatte.

Wenn er das Telefonat beendete oder versuchte, seinen Bruder zu befreien, stirbt dieser. Hastig suchten seine Augen den Raum ab. Es war niemand zu sehen, der dieses Versprechen hätte einlösen können. Er überlegte noch, ob er die Ankündigung der Stimme einfach ignorieren sollte, als sie erneut zu ihm sprach.

»Auf dem Tisch, steht ein Notebook, drücken Sie die Enter-Taste.«

Er drehte sich um. Erst jetzt bemerkte er das Chaos. In dem Raum musste ein Kampf stattgefunden haben. Ein grüner Fensterschal lag abgerissen auf dem Boden, ebenso die antike Stehleuchte und die Stühle. Die Glasfront der Vitrine war zertrümmert. Die Scherben verteilten sich auf dem davor liegenden handgeknüpften Perserteppich. Etliche in der Vitrine befindliche Gläser waren zerbrochen. Das Bücherregal lag quer über der Couch. Die Bücher lagen überall verstreut herum. Nur der Esstisch stand aufgeräumt und unverändert wie ein Fels in der Brandung. Der einzige darauf befindliche Gegenstand war ein aufgeklapptes Notebook. Das Display war schwarz. Mit drei Schritten war er dort. Als er die Enter-Taste drückte, erschien eine Internetseite. Es war die Seite von YouTube.com. Ein paar Sekunden später ging ein kleines Bildschirmfenster auf. Was er dort sah, ließ das Hämmern in seinem Kopf zu einem unerträglichen Dröhnen anschwellen.

Er sah auf dem Bildschirm den Raum, in dem er stand, und er sah sich selbst und seinen Bruder. Mit einem Mal war ihm klar, dass in diesem Moment über die Webcam des Notebooks eine Liveübertragung der Ereignisse aus diesem Zimmer ins Internet begonnen hatte und unzählige Menschen in der ganzen Welt zuschauen konnten.

Wer war so verrückt, so etwas zu tun? Wer war überhaupt so irre, sich mit seinem Bruder anzulegen? Und warum hatten die, die ihn so zugerichtet hatten, ihn am Leben gelassen? Fragen über Fragen. Im gleichen Moment meldete sich die Stimme wieder.

»Öffnen Sie die oberste Schublade des Sideboards.«

»Was soll das?«, flüsterte er und öffnete die Schublade.

Der Inhalt zerrte weiter an seinen Nerven. Vor ihm lag eine Automatikpistole mit aufgeschraubtem Schalldämpfer.

»Eddie, Sie nehmen jetzt die Waffe und dann erschießen Sie Ihren Bruder!«