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Martin versuchte, sich zusammenzureißen. Er sagte sich, dass er früher einfach zu viele Folgen der Fernsehserie Twighlight gesehen hatte. Aber es half nichts. Da waren diese unheimlichen Geräusche, und da waren dieser Flur mit der unruhigen Blumentapete und der spärlichen Beleuchtung und die Tatsache, dass Marianne Seewald zwei Stockwerke über ihm in ihrem eigenen Blut in der Badewanne lag. Er sah ihr totes, blasses Gesicht vor sich. Und er stand ohne Schutz mitten auf diesem Flur und war sich der Geräuschkulisse nach absolut sicher, dass es keine fünf Sekunden mehr dauern würde, bis das Monster, das für diesen Horror verantwortlich war, und das Martins Namen mit Blut an den Spiegel geschrieben hatte, um die Ecke biegen würde. Martin schloss die Augen, als ob das drohende Unheil so verschwinden würde, und biss sich fest auf die Unterlippe, bis sie blutete. Dann passierte das Unerwartete. Es krachte schon wieder und jetzt wusste Martin auf einmal, was es war. Sein Gehirn hatte es geschafft, die aus Geräuschen bestehenden Puzzleteile binnen Nanosekunden zu einem Bild zusammenzufügen und ihm, damit eine letzte Chance verschafft, sein Leben zu retten.

Wer immer auch hinter der Ecke auf dem Gang war, stöhnte nicht nur einfach. Es handelte sich, um die nur geraunte, und kaum zu erkennende Melodie eines Kinderabzählreims. Ehne, mehne Miste, es rappelt in der Kiste, ehne, mehne meck und du bist weg. Hier zählte jemand die Türen ab und kratzte mit einem Stock, einem Messer oder ... einer Pistole, an der Wand und den Türen entlang, bis zum Wort weg, um die so ausgewählte Tür dann aufzubrechen, und nachzuschauen, ob jemand in dem Zimmer war.

Martin hatte höchstens noch fünfzehn Sekunden, dann käme der Irre wieder aus dem Zimmer heraus und würde um die Ecke biegen. Martin konzentrierte sich auf die Tür. Er stellte sich wie ein Karatekämpfer in einem Abstand davor, der seines Erachtens nach die bestmögliche Position für den kraftvollsten Tritt bot. Er baute Spannung in seinem Körper auf. Die ausgekugelte Schulter schmerzte grauenvoll. Wenn Kaltenbach es schaffte, die Türen aufzubrechen, dann konnte er das auch. Und wenn es nicht ging, in dem man mit der Schulter dagegen rammte, dann funktionierte es vielleicht mit einem Tritt. Martin nahm Schwung, stieß sein rechtes Bein mit aller Wucht nach vorn, trat in Höhe des Schlosses mit der kompletten Unterseite des Schuhs gegen das Türblatt und landete einen Volltreffer. Diesmal gab die Tür mit einem lauten Knacken nach. Die Tür flog zurück gegen die Zimmerwand und verursachte das gleiche laute Krachen, wie Martin es vor fünfzehn Sekunden gehört hatte. Er hoffte, dass Kaltenbach es in dem Zimmer, das er jetzt dabei war, zu durchstöbern, nicht gehört hatte. Mit einem Satz war Martin in seinem Zimmer. Er klappte das Türblatt zurück und hatte Glück. Die Tür ließ sich komplett schließen und schnappte sogar wieder ins Schloss, nur absperren, ließ sie sich nicht mehr. Martin legte die Eisenkette vor. Dann entfernte er sich von der Tür, setzte sich auf das Bett, indem er Stunden zuvor noch geschlafen hatte und horchte. Gleich darauf begannen das Schleifen und Klopfen und der Abzählreim von neuem. Nach ein paar Sekunden war klar, dass der Wahnsinnige begonnen hatte, die Zimmer auf der Seite des Ganges abzuzählen, auf der Martins Zimmer lag. Martin flüsterte den Text des Abzählreims mit. Das Pochen kam näher. Jetzt war Kaltenbach an der Tür rechts neben Martins Zimmer angelangt. Der Gegenstand klopfte gegen die Tür. Was kam als Nächstes? Martin war sich nicht sicher. Jedes Wort des Abzählreims zog Kaltenbach wegen des Abstandes der Türen so in die Länge, dass er nicht sagen konnte, welche Tür weg war. Dann war ihm klar, dass es seine Tür sein musste. Es war jetzt völlig still. Kein gutes Zeichen und seit dem letzten Klopfen war schon eine viel zu lange Pause entstanden. Der Irre bereitet sich auf seinen Tritt gegen die Tür vor, schoss es Martin durch den Kopf.