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Paul schrie aus Leibeskräften, doch es kam keine Reaktion von dem Mann, auf dessen Rücken er mit einem Gürtel gefesselt war. Die Gürtelschnalle lag unerreichbar unter Rams Körper begraben. Aber Paul dachte nicht rational. Er dachte nicht daran, dass er frei wäre, wenn es ihm gelänge, sie zu öffnen. Er verhielt sich wie ein Tier in einer Falle. Wütend, wild und chancenlos gegen das Unvermeidliche ankämpfend. Er trat nach Rams Beinen und schlug mit den Fäusten auf seinen Rücken. Es tat sich nichts. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass der Mann, mit dem er wie ein siamesischer Zwilling verbunden war, tot sein könnte. Diese Tatsache ließ ihn für eine Sekunde still sein, nur um danach noch lauter zu brüllen.

Als Paul spürte, dass er sich nicht befreien konnte, probierte er etwas anderes. Zur Rechten verlief das Gelände leicht abschüssig. Einige Meter weiter, hinter vereinzelten Tannen, ging es steil bergab. Paul wandte sich nach links und rechts. Ram war von leichter Statur und sein lebloser Körper pendelte ein wenig mit Pauls Seitwärtsbewegungen mit. Mit jeder weiteren Pendelbewegung kamen die beiden Körper mehr in Schwung, bis sie gemeinsam nach rechts in die Seitenlage kippten. Allerdings blieben sie hier nicht liegen. Sie rollten weiter und der Abhang kam mit jeder Umdrehung näher. Paul stemmte sich instinktiv dagegen und schaffte es schließlich. Sie blieben in der Seitenlage liegen, Rams Gesicht auf den Abgrund gerichtet. Paul zappelte weiter, diesmal bemüht, nicht mehr zu pendeln, damit sie nicht weiter rollten. Dafür geschah etwas anderes. Die beiden Körper begannen, zu rutschen.

In diesem Moment öffnete Ram die Augen. Er war benommen wie beim Aufwachen aus einer Vollnarkose. Er hatte das Gefühl zu ersticken. Er brauchte Sauerstoff. Er versuchte, tief Luft zu holen, sog dabei etwas Schnee in die Lungen und musste husten. Was war geschehen? Er brauchte kurz, dann war die Erinnerung wieder da. Er sah seinen Fall vom Motorrad in den Schnee. Dann nichts mehr. Seine Ohren nahmen den Dienst erst einige Augenblicke nach seinem Verstand wieder auf. Jetzt hörte er das Kreischen hinter sich. Paul! Er schrie wie am Spieß und strampelte. Das hieß, mit ihm war alles in Ordnung.

Und sie bewegten sich ... Wo waren sie? Er nahm seine Umgebung noch immer nur schemenhaft wahr. In seinem Kopf herrschte ein Druck wie in einer geschüttelten Champagnerflasche. Es tat höllisch weh. Jetzt sah er auf einmal besser. Sie rutschten über den Schnee, der rund herum das Licht des matten Mondes reflektierte. Die Umgebung sah aus wie ein bläulich schimmerndes Märchenland. Blitzende Eiskristalle, schneebeladene Tannenzweige und dahinter nichts. Sie rutschten einem schwarzen Loch entgegen. Ram krallte sich in den Schnee. Er sah den Abhang langsam näher kommen. Er konnte es nicht sehen, aber er konnte anhand der umliegenden Berge einschätzen, dass es hunderte Meter tief nach unten gehen musste. Sie rutschten jetzt langsamer. Paul hörte auf zu strampeln, als er merkte, dass Ram wach war. Ram war sicher, dass es die Überraschung war und nicht die Logik. Paul reagierte niemals logisch, auch wenn es bedeutete, dass es sie das Leben kostete. Ram sah hinter sich die Tannen. Sie waren sauber zwischen den Stämmen hindurch gerutscht. Dann kamen sie zum Stillstand. Einen Meter vor Abgrund. Ram atmete durch. Sofort gingen seine Hände zu der Gürtelschnalle. Er öffnete sie. Paul blieb einfach hinter ihm mit dem Rücken im Schnee liegen. Er schrie nicht mehr und zappelte auch nicht mehr. Mit offenen Augen starrte er in den Himmel.

Vorsichtig drehte Ram sich zu Paul um. Wie sollte er den Jungen hier weg bekommen. Wenn er jetzt einfach aufstand und weiter rutschte, konnte er ihm nicht mehr helfen. In was für eine Situation hatte er sie nur gebracht. Er hatte nur helfen wollen und viel zu viel riskiert. Das war ihm jetzt klar. Er hätte in seinem Keller bleiben sollen. Er war nicht geschaffen für die wirkliche Welt. Vor allem fühlte er sich viel zu schwach, den Jungen hinauf zu den sicheren Gleisen zu schleppen. Er musste ihn dazu bringen, von selbst hinaufzugehen.

»Paul, du musst jetzt ganz mutig sein, dreh dich um und klettere wie ein Hund oder eine Katze es tun würde auf allen Vieren nach oben, zurück zum Motorrad.«

Der Junge zeigte keine Reaktion.

»Paul, du willst doch zu deinem Vater. Er würde dich so gerne in den Arm nehmen. Es ist nicht mehr weit. Wenn wir es zurück zum Motorrad schaffen, sind wir so gut wie da.«

Ram hasste es, den Kleinen anlügen zu müssen, aber wenn das keine Notlüge war, was dann? Und es funktionierte. Paul tat, was Ram ihm gesagt hatte. Leicht und geschmeidig wie ein Schneetiger bewegte er sich nach oben. Als er einen Vorsprung von mehreren Metern hatte, folgte Ram ihm nach. Eine Minute später saß Ram völlig erschöpft oben auf den Gleisen, während Paul abmarschbereit vor ihm stand und auf ihn herabsah. Der Blick des Jungen war starr. Aber Ram wusste, dass er von ihm erwartete, ihn jetzt zu seinem Vater zu bringen. Doch das würde nicht funktionieren. Bis hinauf zum Hotel konnten sie unmöglich zu Fuß gehen. Sie mussten warten, bis der Zug von unten kam. Außerdem fühlte Ram sich zu schwach für einen Marsch durch die Kälte. Andererseits, wenn sie hier warteten, würde Paul nach kurzer Zeit wieder hysterisch werden. Also rappelte Ram sich auf und schleppte sich langsam an den Gleisen entlang den Berg hinauf. Der Zug würde sie bald einholen. Paul trottete mit gesenktem Kopf neben ihm her. Ram spürte, dass er nicht mehr lange würde gehen können. Seine Beine waren wie Gummi. Schon bald würden sie ihn nicht mehr tragen. Die Wunde an seinem Kopf hatte aufgehört zu bluten. Aber ihm war schwindlig. Er setzte sich in den Schnee. Paul zerrte an seinem Arm.

»Will zu meinem Papa, will zu meinem Papa.« Jetzt weinte der Junge wieder bitterlich. Offensichtlich hatte er begriffen, dass Ram ihm eine Lüge aufgetischt hatte. Wo blieb nur der verdammte Zug? Nach Rams Zeitempfinden hätte er längst hier sein müssen. Dann sah er die sich bewegenden Lichtkegel zweier Taschenlampen. Sie kamen von oben. Wer konnte das sein? Der Schein einer Lampe traf sein Gesicht und blendete ihn.

»Da vorne sind sie!«, rief ein Mann, dessen Stimme er noch nie zuvor gehört hatte.