29
Selma, Bumann und Söder standen starr und regungslos in dem hell erleuchten Raum, dessen Zugangstür hinter einem Regal verborgen gewesen war. Es war nicht nur irgendein Raum. Mit dem Betreten dieses Raumes waren sie in einer anderen Welt gelandet. In der Welt eines Psychopathen. Nicht der schaurigste Horrorfilm hätte bei den Dreien mehr Entsetzen hervorrufen können, als das, was sie jetzt ansehen mussten.
Den abgetrennten Kopf des Hoteldirektors hatten sie vor ein paar Minuten in einer Kühltasche, die zwischen den Fahrstuhltüren gesteckt hatte, gefunden. Schlimm genug, aber das hier war in seiner skurrilen Brutalität noch schockierender. Sie hatten jetzt eine Antwort auf die unausgesprochene Frage, wo der Körper desjenigen verblieben war, auf dessen Schultern einmal der abgeschlagene Kopf geruht hatte.
Der kopflose Körper Walter Zurbriggens schwebte etwas über der Höhe des Türrahmens mitten im Raum. Bumann und Selma starrten kurz auf den Leichnam, der bis auf eine lederne schwarze Unterhose nackt war, dann musste Bumann sich übergeben und auch Selma wandte sich unter Würgen und Husten ab. Nur Söder blieb wie angewurzelt stehen und betrachtete den in der Luft hängenden Toten.
Die Fuß- und Handgelenke hingen an Ketten, die in den Wandecken und an den Wänden entlang über Eisenwinden auf der gegenüberliegenden Seite an einem großen Rad mit einer Kurbel zusammenliefen. Diese Konstruktion hatte es ermöglicht, Zurbriggens schweren Körper so hoch in die Luft zu befördern.
Söder ließ seinen Blick durch den ungefähr fünf mal sechs Meter großen Raum schweifen, an dessen Decke eine starke Neonröhre jeden Winkel ausleuchtete.
Rechts von der Tür, durch die sie gekommen waren, stand eine Werkbank mit einem Schraubstock. Eine Bohrmaschine mit einem rot verfärbten Bohrer lag darauf. An der Wand hinter der Werkbank hingen verschiedene Werkzeuge. Hämmer, Zangen, eine Handsäge, Meißel und Bohrer. An der rechten Wand stand ein Sofa, das man zu einem Doppelbett ausziehen konnte. Darüber hingen unzählige Fotos. An der Wand gegenüber der Eingangstür, neben der Kurbel, stand ein Fernseher auf einem ein Meter hohen Regal. Darin befanden sich Fotoalben, eine Videokamera, eine Sofortbildkamera und ein Kasten mit Videokassetten. Zur Linken waren Eisenringe in verschiedenen Höhen in die Wand eingelassen. An einem baumelte ein Seil mit einem blutigen Ende. In der Mitte der linken Wand flankiert von den Eisenringen befand sich eine schmale, nur etwa einen Meter hohe Brettertür mit schweren Eisenscharnieren.
Zurbriggen musste, nachdem ihm der Kopf abgeschlagen worden war, innerhalb kürzester Zeit völlig ausgeblutet sein. Jetzt tropfte das Blut nur noch in schneller Folge aus seinem Hals in den roten See aus dickflüssigem Blut auf dem kalten Steinboden, der zur Mitte hin ein leichtes Gefälle aufwies und in dessen Zentrum sich ein Bodenabfluss befand. Der Großteil des Blutes musste hierüber abgelaufen sein. Auf dem Boden lag außerdem eine Machete mit einem Holzgriff, der mit kunstvollen Schnitzereien verziert war. Zweifellos handelte es sich um das blutige Mordinstrument.
Der Raum beschwor unweigerlich den Gedanken an eine Folterkammer herauf.
Bumann hatte sich inzwischen wieder gefangen und wollte nur noch raus.
»Warte«, sagte Selma und ging langsam, eng an der Wand vorbei, um nicht unter Zurbriggens Körper und durch das Blut gehen zu müssen, auf das Sofa zu. Als sie davor stand und sich die Fotos aus der Nähe betrachtete, schlug sie die Hände vor den Mund, als müsse sie ihn zuhalten, um einen Schrei zu unterdrücken.
»Das ist doch nicht möglich«, entfuhr es Bumann, der doch nicht den Raum verlassen hatte und nun zu ihr aufgeschlossen war.
Auf den Fotos waren Frauen zu sehen, die auf unterschiedlichste Art und Weise in diesem Raum misshandelt worden waren. Eine Frau war mit dem Kopf zwischen den Schraubstock der Werkbank geklemmt worden. Auf einem anderen Bild sah man Zurbriggen, wie er einer Frau mit dem Hammer die Finger zertrümmerte. Es gab Fotos, auf denen mit unzähligen Schnittwunden übersäte Frauen im Raum hingen, wie jetzt Zurbriggen selbst. Auf anderen Fotos sah man Frauen mit einem Eisenring um den Hals an der Wand hängen, Augen und Zungen herausquellend wie kurz vorm Erdrosseln. Es stellte sich unweigerlich die Frage, wer die Fotos geschossen hatte. Zurbriggen selbst konnte es nicht gewesen sein, zumindest nicht in den Fällen, in denen er selbst auf den Fotos war.
Selma drehte sich schnell zu Söder um, der noch immer nahe an der Tür stand.
»Du hast es die ganze Zeit gewusst!«
Söder blieb stumm. Sein Gesichtsausdruck war nichtssagend.
»Eben als wir Zurbriggens Kopf entdeckt haben, wäre es dir fast herausgerutscht. Du wolltest sagen, Zurbriggen war hier unten dabei erwischt worden, als er seinem Hobby nachging.
Außerdem fiel es dir schwer, in den Abstellraum zu gehen, weil du Angst hattest, dass wir die Verbindungstür hinter dem Regal entdecken könnten, aber wir mussten da rein, weil hier das CB-Funkgerät war.«
Söder sagte immer noch kein Wort. Bumann hörte Selma zu und wandte seinen Blick dabei abwechselnd zwischen Söder, Zurbriggens in der Luft schwebendem Körper und den Fotos hin und her. Er wusste nicht, worüber er mehr entsetzt sein sollte. Über die Fotos, Zurbriggens bestialische Hinrichtung oder die Tatsache, dass Söder von Zurbriggens abartigen Neigungen gewusst haben könnte.
»Das ist einfach nicht möglich«, war alles, was Bumann wieder hervorbrachte.
Ganz langsam hob sich Söders Hand, in der er die Pistole hielt, bis sie in Bauchhöhe auf Selma zielte.
»Du hast es nicht nur gewusst, du hast auch die Fotos gemacht«, sagte Selma.
Söder lächelte dünn. Es kam einem Schuldeingeständnis gleich.
»Mein Gott!«, entfuhr es Bumann. In seinen Augen standen Angst und pures Entsetzen. Er hatte jahrelang in diesem Hotel gearbeitet und von all dem nichts geahnt. Ernst Söder war nichts weiter als ein Hausmeister gewesen, der mit der neuen Hotelchefin gekommen war und der mit dieser eine freundschaftliche Beziehung pflegte. Zurbriggen war als Direktor ein Diktator gewesen. Er war beim Personal unbeliebt und wegen seiner cholerischen Art fast gefürchtet gewesen. Aber Ernst Söder hatte Bumann als einen netten Menschen eingestuft. Um so mehr war Bumann jetzt überrascht, wie die Fassade eines Menschen doch täuschen konnte.
»Warum hast du Zurbriggen das machen lassen, warum hast du ihn nicht gestoppt, die Polizei gerufen oder ihn entlassen?«, sagte Selma in vorwurfsvollem Ton. Sie und Söder hatten sich immer besonders gut verstanden. Deshalb waren sie auch schon nach kurzer Zeit beim Du gelandet.
Söder blickte zu Boden und atmete mit einem deutlich hörbaren Geräusch aus. Dann sah er unvermittelt auf und blickte Selma mit eiskaltem Blick in die Augen.
»Walter Zurbriggen war ein geisteskrankes Schwein. Er hat seinen eigenen Vater ermordet und hier in diesem Raum unzählige Menschen, meist Frauen, zu Tode gequält.«
»Und Zurbriggens Großeltern, die ersten Pächter des Hotels ...«, sagte Selma ungläubig.
Söder nickte.
»Walter Zurbriggens Vater hat sie umgebracht. Deshalb war das Todesjahr auf dem Kreuz draußen im Flur gleich. Der Trieb zu quälen und zu töten, hat sich in dieser Familie genetisch von Generation zu Generation vererbt. Was Zurbriggen hier unten trieb, hat uns nicht gefallen, aber wir konnten nichts unternehmen. Zurbriggen hat uns erpresst.«
»Uns?«, fragte Selma.
Für einen Moment wirkte Söder überrascht, als sei er davon ausgegangen, dass Selma wissen müsse, wer gemeint war. Dann sah sein Gesicht wieder emotionslos und wie versteinert aus.
»Zurbriggen hat Marianne und mich mit unserer gemeinsamen Vergangenheit erpresst.«
»Aber du hattest auch deinen Spaß an dem, was Zurbriggen tat, sonst hättest du ihm nicht als Fotograf assistiert«, sagte Selma.
Bumann warf Selma einen verängstigten Blick zu. Er hätte es nicht gewagt, einen Mann, der ihnen die Pistole vorhielt, so anzugreifen. Söder blieb kalt.
»Spaß ist das falsche Wort. Es hat mich interessiert. Zurbriggen war für mich eine Art Forschungsprojekt. Ich war in einem früheren Leben einmal praktizierender Arzt und die menschlichen Abgründe haben mich schon immer besonders gefesselt.«
Söder schmunzelte jetzt. Ganz so, als ob er noch etwas Wichtiges für sich behalten hätte.
»Was hatte Zurbriggen gegen euch in der Hand?«
Söder sah Selma mit einem Blick an, der deutlich machte, dass er überlegte, ob er auf diese Frage eine Antwort geben sollte. Schließlich tat er es doch.
»Zurbriggen hatte Beweise, die Marianne und mich bis an unser Lebensende ins Gefängnis gebracht hätten. Zurbriggen wusste von Mariannes und meiner Vergangenheit, lange bevor ich ihm bei seinem Hobby, wie er es nannte, auf die Schliche gekommen bin. Sobald ihm etwas zugestoßen wäre, wären die Beweise bei der Staatsanwaltschaft gelandet. Er hat damals nur gelacht, als wir ihn zur Rede gestellt haben und uns das Beweismaterial vor die Füße geknallt. Das hat er jetzt davon.«
Söder lachte spöttisch und betrachtete sich den fetten, fast nackten Körper Zurbriggens, der an Ketten gespannt im Raum hing.
Sekunden der Anspannung vergingen. Niemand sagte mehr etwas. Doch eine Frage war offengeblieben, bis Selma sie schließlich stellte.
»Was waren das für Beweise?«
Söder blickte ihr starr in die Augen. Dann atmete er aus. Er vermittelte den Eindruck, dass er bis jetzt überlegt hatte, wie es weitergehen sollte, insbesondere, was er mit Selma und Bumann machen sollte. Jetzt hatte er sich entschieden. Er hatte schon mehr als genug preisgegeben. Jetzt wollte er nicht noch mehr Zeit mit den beiden vergeuden.
»Marianne Seewald und ich waren nicht immer in der Hotelbranche«, sagte er nur. Er wedelte mit der Pistole in Richtung der niedrigen Holztür an der linken Wand.
»Los jetzt, da rein mit euch. Die Messer, die ihr aus der Küche habt, legt ihr vorher auf das Sofa«, sagte er schroff.
Selma und Bumann taten, was Söder von ihnen verlangte und bewegten sich langsam auf die niedrige Brettertür zu.
»Jetzt, wo Zurbriggen tot ist, gehen die Beweise für was auch immer sie getan haben, automatisch an die Staatsanwaltschaft. Das haben sie selbst gesagt«, zeterte Bumann. »Wir haben doch mit all dem nichts zu tun, also warum geben sie nicht auf und lassen uns einfach gehen?«
Söder grinste jetzt breit.
»Noch weiß keiner, dass Eddie Kaltenbach Zurbriggen umgelegt hat«, sagte Söder schroff und dirigierte Selma und Söder mit der Pistole weiter in Richtung der niedrigen Brettertür.
»Die Beweise ... Es hat etwas mit Eddie Kaltenbach zu tun«, sagte Selma.
»Halts Maul!«, sagte Söder. Er zeigte mit der Pistole noch einmal auf die Brettertür. »Du hast keine Ahnung und jetzt rein da, sonst leg ich euch gleich hier und jetzt um.«
Bumann öffnete die Brettertür.
»Ich nehme an, für diesen Verschlag haben Sie sicher auch einen Schlüssel«, sagte Bumann verächtlich.
»Davon kannst du ausgehen«, sagte Söder kalt.
Bumann warf Söder noch einen letzten ängstlichen Blick zu, dann bückte er sich und kroch durch die Öffnung. Selma folgte ihm ins Dunkel des dahinter liegenden Raumes. Söder machte die Brettertür zu und schloss ab. Sie waren eingesperrt. Es dauerte noch eine Weile, dann hörten sie, wie auch die Tür von Zurbriggens Folterraum ins Schloss fiel.