35
Martin war am Ende des Kellerkorridors angelangt. Immer wieder hatte er sich auf dem Weg dorthin umgedreht. Er kannte diese Angst, die ihn dazu veranlasste. Es war die Angst vorm Schwarzen Mann aus Kindertagen. Der Schwarze Mann konnte praktisch überall lauern, um ihn zu greifen. Während seine früheren Ängste seiner Phantasie entsprangen, waren sie jetzt begründet. Seine Sinnesorgane arbeiteten auf Hochtouren. Bevor er die Abstellkammer am Ende des Ganges betrat, betrachtete er noch einmal das Kreuz, das wie ein Wegweiser an der Stirnseite des Korridors hing. Es schien ihn anspringen zu wollen. Dann schrak er zusammen. Das Knallen drang nur gedämpft bis in den Keller. Aber er war sicher, was es war. Ein Schuss und er kam aus der Etage über ihm. Schnell betrat er jetzt den Raum und ging hinüber zu dem Regal, das jetzt wieder an die Wand gerückt war. Auf dem Boden in der gegenüberliegenden Ecke lagen die Überreste eines elektronischen Gerätes. Das CB-Funkgerät, fuhr es ihm durch den Kopf. Gleichzeitig fielen ihm die roten Fußabdrücke auf dem Steinboden auf, die sich durch die Tür nach draußen in den Gang schlängelten und immer schwächer wurden. Sein Herz schlug schneller. Was wenn es keine Farbe, sondern Blut ist, dachte er. Selmas Blut!
Beherzt zog er das Regal nach vorne und sah die Tür dahinter. Sie war verschlossen, aber der Schlüssel steckte von außen. Er öffnete die Tür und schlüpfte in den hell erleuchten Raum dahinter. Schon beim Reinkommen traf ihn ein erneuter Würgereiz. Diesmal musste er sich übergeben. Zurbriggens geköpfter Leichnam und das viele verkrustete Blut am Boden waren zu viel. Aber er hatte keine Zeit, sich von dem Schock zu erholen. Der Schuss, den er eben gehört hatte, konnte nur bedeuten, dass Kaltenbach und Söder im Erdgeschoss aufeinandergetroffen waren. Die Wahrscheinlichkeit stand hoch, dass einer von beiden bald hier in den Kellergewölben auftauchen würde und bis dahin musste er Selma gefunden haben. Als er sich in dem Raum umblickte, vermied er es, den toten Hoteldirektor anzuschauen. Nach wenigen Sekunden war ihm aber klar, dass es sich hier um eine Folterkammer handelte. Eisenringe, Ketten und die Werkbank mit dem Schraubstock und dem anderen Handwerkszeug. An diesem Ort konnten sie nur einem Zweck dienen. Schmerzen zufügen. Sein Blick blieb an der niedrigen Brettertür hängen. Er drückte sich an der Wand vorbei, hinüber zu der Tür und beugte sich hinunter. Hier steckte der Schlüssel leider nicht im Schloss.
»Selma, bist du da drin?«
Keine Antwort.
»Selma ...«
»Martin?«
Er rüttelte an der Tür. Sie war nicht so stabil, wie sie aussah, aber das Schloss hielt seinem Ziehen und Zerren stand.
»Ja, ich bin’s«, sagte er. »Stemm dich von innen gegen die Tür, ich ziehe von außen.« Er hörte, wie sich jemand von innen gegen die Tür warf. Martin benutzte die mitgebrachte Eisenstange als Stemmeisen, indem er sie in einen Spalt zwischen der Tür und der Wand steckte, und zog gleichzeitig mit aller Kraft am Türgriff. Mit einem lauten Krachen gab das Blatt schließlich nach und Martin fiel rückwärts in das verkrustete Blut. Schnell richtete er sich wieder auf und blickte auf das nun schwarz in der Wand klaffende Loch, das zuvor von der Tür versperrt gewesen war. Zuerst kam Selma heraus gekrochen und blinzelte ihm entgegen. Er atmete auf. Sie schien unverletzt zu sein. Unmittelbar hinter ihr folgte Eugen Bumann. Ohne Worte fiel Selma Martin um den Hals und drückte ihn fest an sich. Als sie sich wieder von ihm löste, sah er Tränen in ihren Augen.
»Wir dachten zuerst Söder wäre zurückgekommen, um uns zu töten«, sagte sie schließlich.«
Bumann lehnte an der Wand und war noch immer stumm. Er starrte ohne Regung auf den Boden.
»Was ist mit ihm?«, fragte Martin.
»Er steht unter Schock.«
Selma nickte mit dem Kopf in Richtung des Verschlages.
»Da drin hat der Mistkerl seine Opfer verscharrt, neben seinen Großeltern, die hat sein Vater auf dem Gewissen.«
»Zurbriggen?«
»Er hat hier unten Frauen gefoltert, missbraucht und anschließend getötet. Sieh dir die Fotos über dem Sofa an, dann weißt du alles.«
Martin schaute kurz hinüber zu der Wand, verspürte aber nicht die geringste Lust dazu, hinüber zugehen. Der Drang, diesen schrecklichen Raum zu verlassen, war viel größer. Nach einem kurzen Zögern tat er es aber doch. Wieder gab er darauf acht, Zurbriggen nicht ansehen zu müssen.
Die Fotos über dem Sofa waren grauenvoll. Er warf nur einen kurzen Blick darauf. Mehr musste er nicht sehen, um mit Gewissheit sagen zu können, dass Zurbriggen auf Fesselspiele, Folter und tödliche Gewalt abgefahren war. Ein weiterer Irrer, dem man die Gefährlichkeit im täglichen Leben nicht angesehen hatte.
Als Martins Blick den Boden streifte, sah er ein zusammengeknülltes Blatt Papier. Es konnte nur das sein, wonach er insgeheim Ausschau gehalten hatte. Bis jetzt befand sich bei jeder Leiche eine Nachricht in Form eines Reims. Im Falle Udo Kaltenbachs, den Eddie erschossen hatte, hatte er eine E-Mail erhalten. Bei Marianne Seewald, hatte er eine noch nicht abgesendete E-Mail an ihn, in deren Notebook gefunden.
Er bückte sich, hob das Blatt Papier vom Boden auf und las:
Du solltest in meinem Computer nachschauen!
Er las die Nachricht noch einmal. Kein Reim. Das passte nicht, war er damit gemeint? Er hatte keine Zeit darüber nachzudenken. Aber was immer das zu bedeuten hatte, es musste mit den rätselhaften Geschehnissen zu tun haben, die in dieser Nacht stattfanden. Er ließ den Zettel auf dem Sofa liegen und ging zu Selma, die an der Ausgangstür bereits auf ihn wartete. Jetzt war nur wichtig, dass sie am Leben waren und es auch blieben. Hier unten standen ihre Chancen dafür aber schlecht. Es gab keinen Fluchtweg. Sie befanden sich in einer Sackgasse.
Eugen Bumann stand noch immer an der Wand neben dem Kellerverlies aus dem Martin Selma und ihn gerade befreit hatte. Er machte keine Anstalten mit ihnen zu kommen.
»Was ist Bumann, wollen Sie hier unten verrecken?«, sagte Martin.
Bumann starrte ihn plötzlich mit großen Augen an. Martins Worte schienen ihn aus seiner Trance geweckt zu haben. Er schüttelte den Kopf und lief ihnen schnell hinterher.
Sie machten sich nicht die Mühe, das Regal zurückzuschieben und Martin verkniff sich die Frage, ob Selma und Bumann auch den Schuss vor gut zwei Minuten gehört hatten. Es war davon auszugehen. Aber sie konnten es sich einfach nicht leisten, noch mehr Zeit aufs Reden zu verwenden. Sie mussten jetzt so schnell wie möglich aus diesem Keller raus. Denn hier saßen sie definitiv in der Falle. An der Ausgangstür stoppten sie und Martin schaute vorsichtig in den Kellergang. Als niemand zu sehen war, drehte er sich zu den beiden anderen um.
»Bevor wir da raus gehen, sollten wir festlegen, wohin wir eigentlich wollen. Hat jemand eine Idee?«
»Vielleicht«, sagte Selma. Martin und Bumann blickten sie gespannt an. Gerade als Selma weiter sprechen wollte, durchfuhr alle Drei ein Schreck und ihre Blicke wanderten wie auf ein Zeichen zur Decke. Ein weiterer Schuss in der Etage über ihnen war gefallen. Selma erholte sich als Erstes von dem Schock.
»Es ist schon über ein Jahr her, da habe ich in Marianne Seewalds Zimmer geputzt und ich dachte, sie sei nicht da. Doch das war ein Irrtum. Plötzlich öffnete sich die Tür ihres Schlafzimmerschrankes, gerade als ich das Bett gemacht habe und sie kommt aus dem Schrank. Sie hat keine Erklärung abgegeben und ich habe nicht gefragt. Aber ein anderes Mal, als ich mir sicher war, dass sie außer Hauses war, habe ich nachgesehen. Im Schrank hinter den Kleidern war eine versteckte Tür. Sie führt zu einem kleinen isolierten Raum.«
Eugen Bumanns Augen waren mit einem Mal hellwach.
»Ein Panikraum! Ich hatte ja keine Ahnung«, sagte er.
Dem fragenden Blick Selmas und Martins entnahm er, dass trotz aller Eile eine kurze Erklärung nötig war. Hastig sprach er weiter.
»Ein Panikraum ist ein absolut sicherer Schutzraum. Wenn er verschlossen ist, kommt da niemand von außen rein. In der Regel gibt es sogar einen Schalter, der die Polizei informiert und der ist unabhängig von der sonstigen Raumtechnik geschaltet«, sagte er.
Martin zog die Augenbrauen hoch und sah Selma an.
»Warum hast du uns das nicht schon früher gesagt? Das könnte unsere Rettung sein.«
Selma sah ihn wütend an.
»Es ist mir nicht sofort eingefallen. Und dann kam Söder und hat dich mit seiner Pistole bedroht. Hätte ich es ihm erzählen sollen?«
Martin verzog schuldbewusst den Mund und seufzte.
»Nein, natürlich nicht. Entschuldige bitte.«
Selma sah ihn nur mürrisch an.
»Ein Panikraum wäre jedenfalls unsere beste Chance, das hier zu überstehen«, sprudelte es aus Bumann heraus. »Wir könnten dort in Ruhe den Morgen abwarten. Sobald die ersten Menschen hier rauf kommen, werden Kaltenbach und Söder gezwungen sein, von hier zu verschwinden.«
»Das sehe ich genauso«, sagte Martin. »Wenn wir uns sonst wo im Hotel verstecken, werden wir kurz über lang entdeckt. Also gehen wir das Risiko ein und gehen hoch?«
Die beiden anderen nickten.
»Die Frage ist nur, wie wir in den dritten Stock kommen, ohne auf Söder oder Eddie zu stoßen?«, fragte Selma, während sie in Richtung der Kellertreppe liefen.