22
Sie wagten kaum zu atmen, als sie den Korridor entlang bis zur Wohnung des Hoteldirektors schlichen. Er reagierte nicht auf das leise Klopfen. Also öffnete Söder mit dem Generalschlüssel, Zurbriggens Wohnungstür. Sie suchten die Wohnung ab, aber Walter Zurbriggen war nicht da. Die Wohnung machte einen ordentlichen und aufgeräumten Eindruck. Es gab keine Spuren, denen zufolge er unfreiwillig gegangen wäre.
Niemand wagte es, zu spekulieren, wo der Direktor sich um diese Zeit noch aufhalten konnte.
Sie verließen die Wohnung und gingen die Treppe hinunter in die zweite Etage. Die dezente Beleuchtung warf ihre gespenstischen Schatten an die Wand, während sie, Söder mit der Pistole im Anschlag voran, durch den Flur schlichen. Plötzlich vernahmen sie ein dumpfes Klopfen. Es kam aus dem Seitentrakt, in dem sich der Aufzug befand. Es handelte sich um ein anderes Geräusch, als das, welches der Aufzug verursachte, wenn die Kabine in Bewegung war.
Sie bogen links ab und blieben auf Höhe des Treppenhauses kurz stehen. Dann ging Söder entschlossen weiter. Die anderen warfen sich fragende Blicke zu, folgten ihm dann aber nach. Während sie vorsichtig an den Zimmertüren vorbei auf den Fahrstuhl zugingen, wurde das Geräusch eindringlicher. Bommm .... Bommm. Zwischen jedem Krachen vergingen gute zehn Sekunden. Sie bogen nach links ab und standen nach weiteren zehn Metern vor der verschlossenen Aufzugstür. Das Geräusch drang aus dem Fahrstuhlschacht nach oben. Selma hielt es, bei dem Heidenlärm, den dieser im Moment verursachte, für keine gute Idee, den Lift anzufordern.
»Dadurch ist Kaltenbach doch sofort klar, wo wir sind«, sagte sie.
Bumann sah Söder an und der tat ihre Anmerkung mit einer abwertenden Handbewegung ab.
»Na und?«, tönte er. »Ich habe keine Angst vor dem Kerl und wie schon gesagt, er hat im Gegensatz zu mir, garantiert keine Kanone.«
Bumann stimmte ihm zu und Meier stand völlig verängstigt da und sagte gar nichts. Söder drückte den Knopf. Aber auch nach mehrmaligem Drücken tat sich nichts. Der Lift blieb, wo er war. Offensichtlich gab es irgendeine Störung. Es musste mit diesem rhythmischen Krachen, das aus dem Aufzugschacht dröhnte, zusammenhängen. Es klang, als ob jemand etwas zwischen die Schiebetüren der Kabine gestellt hätte, so dass diese sich nicht vollständig schließen konnten und statt dessen, in einer Endlosschleife vor und zurück fuhren.
»Auch gut, dann nehmen wir eben die Treppe«, sagte Söder.
Während sie langsam die Stufen der breiten Treppe nach unten schlichen, schloss Bumann, der bisher das Schlusslicht in der Vierergruppe gebildet hatte, zu Söder auf.
»Wollen Sie tatsächlich runter in den Keller?«, flüsterte er. Söder sah ihn an, als ob er einen in der Ausbildung befindlichen Kadetten vor sich hätte, der sich erdreistete, den Oberbefehlshaber in ungebührendem Ton anzusprechen.
»Selbstverständlich. Wir gehen runter und stellen zuerst einmal fest, was den Fahrstuhl blockiert. Vielleicht ist es Kaltenbach selbst. Wenn ja, schalten wir ihn aus. Danach gehen wir in den Anschlussraum und sehen nach, ob die Telefonleitungen wieder hergestellt werden können. Wenn das nicht funktioniert, holen wir das CB-Funkgerät und verständigen damit die Polizei.«
Bumann nickte unterwürfig. Der Ton Söders ließ keinen Zweifel daran, wer das Sagen hatte.
Als sie im Erdgeschoss ankamen, öffnete Söder die Tür, welche das Treppenhaus von dem schmalen Korridor trennte, der in die Eingangshalle führte. Es war nichts Auffälliges zu sehen. Sie schlüpften in den Flur und schlichen am Büro des Direktors vorbei bis zu der Ecke, hinter welcher der Eingangsbereich mit der Rezeption lag. Sie konnten von hier aus den Großteil der Fläche überschauen, aber nicht jeden Winkel einsehen. Auch der Aufzug war aus dieser Position nicht zu sehen. Plötzlich riss ein lautes Geräusch die angespannte Stille in Fetzen und ließ allen Vieren den Schrecken in die Glieder fahren. Selbst Söders Augen weiteten sich für einen Sekundenbruchteil. Es war kein Schuss, der gefallen war. Es war auch kein menschlicher Laut. Es war die Standuhr. Es war vier Uhr und sie schlug zur nächsten vollen Stunde.
»Dieser Kaltenbach muss total irre sein«, zeterte Meier. »Nur ein Wahnsinniger hat nichts Besseres zu tun, als eine stehen gebliebene Uhr in Gang zu setzen.«
Söder wies die anderen an, zu warten. Er verschwand kurz aus dem Blickfeld und kam dann wieder zurück.
»Alles in Ordnung. Hier ist niemand. Die Aufzugtüren sind auch verschlossen, das Geräusch im Schacht kommt klar aus dem Keller.«
Selma, Meier und Bumann atmeten aus, doch Erleichterung wollte sich nicht einstellen. Ihnen war klar, was das bedeutete. Nicht nur die Ursache für die Fehlfunktion des Fahrstuhls war im Keller, sondern Kaltenbach wahrscheinlich auch.
»Ich bleibe hier«, sagte Meier.
Söder sah ihn spöttisch an. Er schnaufte dabei und verzog den linken Mundwinkel zu einem verachtenden Grinsen.
»Was ist mit Ihnen, Bumann, haben sie auch die Hosen voll?«
Bumann biss die Zähne zusammen und schüttelte, gesenkten Hauptes den Kopf.
»Nein, ich gehe mit«, sagte er.
»Und du, Selma? Bleibst du bei dem Koch?«
Selma sah Meier mitleidig an. Der Arme zitterte am ganzen Leib. Aber es gab gute Gründe, bei Söder zu bleiben. Er hatte eine Waffe und er konnte es, trotz seines Alters mit Kaltenbach aufnehmen, zumindest machte er den Eindruck. Allein mit Meier wäre sie hier oben jedenfalls völlig schutzlos.
»Willst du es dir nicht noch einmal überlegen?«, fragte sie Meier.
Der schüttelte wie besessen den Kopf.
»Ich geh da nicht runter, ich geh da nicht runter«, wiederholte er. Seine Nerven hatten ihn eindeutig im Stich gelassen. Selma legte ihm die Hand auf den Arm.
»Ist ja schon gut«, sagte sie. Sie führte ihn hinter die Rezeption und brachte ihn zu einem Stuhl. »Setz dich erst mal und ruh dich ein bisschen aus.«
Dann ging sie wieder zurück, wandte sich Söder zu und flüsterte:
»Sehen Sie nicht, dass er bald durchdreht, jemand sollte bei ihm bleiben.«
Söder sah Bumann an. Der zog die Augenbrauen hoch und wehrte ab.
»Kein Chance, ich bleibe nicht mit dem Koch allein hier oben, keine Chance.«
»Sie können niemanden zwingen«, sagte Söder. Dann drehte er sich um und hielt auf den Restauranteingang zu. Bumann war direkt hinter ihm. Selma sah zu Hans Meier hinüber. Er saß mit gekrümmtem Rücken auf dem Stuhl, wippte vor und zurück und starrte dabei auf den Boden.
»Wir sind gleich zurück«, sagte sie. Dann folgte sie Söder und Bumann, die gerade hinter der Tür zum Restaurantbereich verschwanden. Als Selma in den großen Saal trat, standen die beiden wie angewurzelt direkt hinter der Tür und blickten sich konzentriert um. Durch die großen Fensterscheiben sahen sie, dass draußen inzwischen ein ausgewachsener Schneesturm herrschte. Das typische Rauschen und Pfeifen des Windes füllte als einziges Geräusch den Raum. Bumann schaltete das Licht an und augenblicklich leuchteten die Kronleuchter über den Tischen auf. Kaltenbach konnte überall im Hotel sein. Er konnte aber genauso gut unter einem der Tische lauern oder hinter dem langen Tresen der Bar. Langsam setzte sich Söder in Bewegung in Richtung der zweiflügeligen Schwingtür zur Küche. Dort angekommen inspizierte er zunächst den Bartresen daneben. Dann stellte er sich neben die Tür. Dort war einer der Lichtschalter für die Küche. Nachdem er ihn betätigt hatte, warf er schnell einen Blick durch das Bullauge in die Küche. Dann trat er die Tür mit dem Fuß auf und sprang in den Raum. Nach einer scheinbaren Ewigkeit kam er wieder heraus und deute Selma und Eugen Bumann mit einer Handbewegung zu kommen.
»Hier drin ist alles sauber.«
Selma und Bumann gingen zu ihm und gemeinsam betraten sie die Küche. Hier dominierten die Arbeitsflächen aus Edelstahl, die unter dem hellen Neonlicht wie neu blinkten.
Selma ging zu den beiden Messerblöcken. Zu ihrer Verwunderung steckten alle langen Messer noch an ihrem Platz. Bumann trat neben sie und jeder griff sich eines der Filetiermesser.
Söder war bereits an der Tür, die über den kleinen Zwischenraum hinunter in den Keller führte. Auch hier konnten sie nichts Verdächtiges ausmachen. Sie folgten der Treppe nach unten. Dort gab es nur die spärliche Deckenbeleuchtung, wie in den Hotelfluren, nur noch eine Stufe dunkler. Der Gang war schmal und wand sich um zahllose Ecken. Es gab nicht viele Türen. Aber wenn man eine Tür öffnete, führte eine weitere Tür von einem Raum in den nächsten. Der Hausanschlussraum lag nur wenige Meter von ihnen entfernt, hinter einer Tür zur Linken. Söder öffnete die Tür einen Spalt und ertastete von außen mit der Hand den Lichtschalter. Das helle Neonlicht flammte auf und leuchtete den kleinen drei Mal zwei Meter großen Raum vollständig aus. Hier kamen die Hauptwasser- und Abwasserleitungen sowie die Stromleitung in das Hotel. Der Verteilerkasten für die Telefonleitung lag zertrümmert am Boden.
»Er hat ihn von der Wand gerissen und ist anschließend ordentlich darauf rumgetrampelt«, sagte Bumann.
»Ist auf die schnelle nicht zu reparieren«, gab Söder zurück. »Ich glaube aber nicht, dass er das CB-Funkgerät entdeckt hat.«
Sie folgten Söder weiter den Gang entlang. Sie bogen nach rechts ab. Jetzt sahen sie, woher das Geräusch aus dem Fahrstuhlschacht kam. Es waren tatsächlich die Türen. Sie konnten sich nicht schließen, weil sie immer wieder auf ein Hindernis prallten. Noch konnten sie nicht erkennen, was es war. Es sah aus, wie eine Kiste. Langsam schoben sie sich vorwärts, kamen an zwei weiteren Türen vorbei, hinter der einen war der klimatisierte Vorratsraum. Hinter der anderen der Skiraum zur Aufbewahrung und Reparatur der Skiausrüstungen der Gäste. Auch hier, keine Spur von Eddie Kaltenbach.
»Wo hat sich der Mistkerl nur verkrochen?«, flüsterte Söder.
Dann waren sie beim Aufzug angelangt. Zwischen den Schiebetüren stand eine Kühltasche. Sie war alt und hatte ein lilafarbenes Flechtmuster auf beigefarbenem Untergrund, wobei man nicht genau erkennen konnte, ob das Beige nicht früher einmal weiß gewesen war und nur durch die Jahre von Staub, Schmutz und Sonneneinstrahlung zu Beige mutiert war. Unschlüssig, was sie tun sollten, standen Bumann, Söder und Selma vor dem Behälter, während die Türen weiterhin monoton dagegen knallten. Schließlich griff Söder die Tasche. Er schwenkte sie hin und her, so dass man hören konnte, dass etwas darin dumpf hin und her kullerte. Dann stellte er sie auf den kalten Steinboden des Ganges.
»Es ist auf jeden Fall was drin, schätze zwei bis drei Kilo schwer«, sagte Söder. Er machte einen Schritt in den Fahrstuhl und kam gleich darauf wieder heraus. Die Türen des Aufzugs schlossen sich.
»Der hat noch gesteckt«, sagte er und hielt den Schlüssel hoch. »Ich frage mich, woher Kaltenbach den hat und woher der Kerl weiß, dass man den braucht, wenn man mit dem Aufzug in den Keller fahren will.«
»Vielleicht hat jemand ihn stecken lassen«, sagte Selma.
»Möglich«, murmelte Söder, steckte den Schlüssel ein und rieb sich nachdenklich das Kinn, während er auf die vor ihm stehende Kühltasche starrte. Dann sagte er:
»Na los, machen Sie das Ding endlich auf, Bumann. Ich habe keine Lust, länger als nötig hier unten rumzustehen.«
Zögerlich kniete Bumann sich nieder. Mit der einen Hand hielt er die ovale Box fest, mit der anderen zog er an dem seitlichen Reißverschluss. Er klemmte anfangs ein wenig. Doch dann ließ er sich ganz leicht aufziehen. Bumann öffnete den Deckel nicht direkt. Alle schwiegen in gespannter Erwartung. Dann seufzte Bumann, als ob es ihn unendliche Überwindung kostete, und klappte den Deckel auf. Er hätte es besser nicht getan, denn den Anblick, der sich ihnen bot, würden sie ihr Leben lang nicht mehr vergessen.