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Der Helikopter hob, nachdem der Polizeibeamte ausgestiegen war, vom Vorplatz des Hotels Himmelwärts wieder ab und donnerte Richtung Tal über die Shuttlekabine hinweg. Wer auch immer in dem Helikopter saß, konnte nicht ahnen, dass Martin in dem Shuttle, um sein Leben kämpfte und das nur mit Worten bewaffnet.

»Der Helikopter hat wahrscheinlich nur jemanden oben abgesetzt. Niemand weiß, wo wir sind. Wir können also noch reden«, sagte er.

Selma wiegte den Kopf hin und her, als ob sie überlegen müsste. Martin ließ ihr keine Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Er deckte sie mit einer weiteren Frage ein, wenn sie darauf einging, war er wieder im Spiel.

»Wie hast du das gemacht, wie ging das im Hotel vonstatten. Du warst doch die ganze Zeit bei mir?«

Martin bemühte sich, nicht zu zeigen, wie schlecht es ihm ging. Aber er spürte, dass bald der Zusammenbruch kommen musste. Seine Stimme klang jetzt schon wie ein Reibeisen. Er hätte dringend etwas zu trinken gebraucht.

Selma sah ihn noch einmal an. Dann traf sie ihre Entscheidung. Sie redete weiter mit ihm.

»Ich habe dich nach dem Abendessen zu deinem Zimmer begleitet. Danach bin ich wieder zu den anderen in die Bar gegangen. Nach einer Stunde löste sich die Gesellschaft auf und alle gingen schlafen. Ich habe eine weitere Stunde gewartet. Ich ging in das Zimmer, in das ihr Eddie gelegt hattet. Er war, wie zu erwarten, noch immer bewusstlos. Ich legte ihm den Zettel mit dem Vers hin, den er dir eben vorgelesen hat und schmierte mit roter Farbe deinen Namen an den Badezimmerspiegel.«

»Warum dieses Spiel mit den Versen und den Namen?«

»Du sagst es. Es war ein Spiel. Dazu gehörten Hinweise, denen ihr gefolgt seid, wie Mäuse dem Geruch von Käse. Die Reime brachten nach und nach Licht ins Dunkel und die mit Blut an die Wände geschriebenen Namen standen in einem Zusammenhang. Sie standen auf meiner Liste. Am schönsten war, dass du wieder mit Annas Tod konfrontiert warst. Du hast Hoffnung geschöpft, sie könne noch leben. Es war wunderbar. Ich habe es genossen.«

Selma redete sich in einen regelrechten Rausch. Martin glaubte mehr und mehr, dass sie nicht mehr bei Verstand war. Sie hatte selbst gesagt, sie sei in psychologischer Behandlung gewesen. Doch andererseits hatte sie einen extrem ausgeklügelten Plan in die Tat umgesetzt. Es war schrecklich und beeindruckend genial zu gleich.

»Dann habe ich dich in deinem Zimmer besucht«, sagte sie zu Martin. »Du hast unruhig geschlafen und ich hatte schon die Befürchtung, dass du aufwachen würdest. Doch ich hatte Glück. Ich nahm es als weiteres Zeichen, dass Gott wollte, was ich tat. Ich habe dir den Schlüssel für den Fahrstuhl abgenommen und die Packung mit den Schlaftabletten. Dann ging ich zur Chefin, Rita Mattfeld.«

Ein hämisches Grinsen umspielte Selmas Lippen.

»Ein Zimmermädchen hat den Vorteil, dass sie die Schlüssel zu allen Räumen hat. Ich habe die alte Schachtel mit einem unsanften Schlag ins Gesicht geweckt. Sie hätte beinahe vor Schreck einen Herzanfall bekommen, dachte wohl die alten Feinde aus der Frankfurter Milieuzeit hätten sie aufgespürt. Als sie mich erkannte, war sie nur so lange erleichtert, bis sie die Pistole, die ich Eddie abgenommen hatte, sah.«

»Dann hast du sie gezwungen, die Tabletten zu nehmen, den Alkohol zu trinken, und sich in die Wanne zu legen.«

»Korrekt. Die Pulsadern habe ich ihr dann aufgeschnitten, nachdem sie eingeschlafen war. Danach habe ich mich an ihr Notebook gesetzt und dir die erste E-Mail von Anna geschickt. Ich bin in den Keller gegangen, habe deinen Schlüssel in den Aufzug gesteckt, damit Eddie später freie Fahrt hatte und dann habe ich mir Zurbriggen vorgeknöpft.«

»Wie hast du das angestellt?«

»Das war ganz einfach. In seinem Versteck hat er sich sicher gefühlt. Ich habe das Überraschungsmoment genutzt und ihm die Pistole vorgehalten. Ich habe ihn gezwungen, sich bis auf den Slip auszuziehen und sich selbst an Armen und Beinen festzuketten. Danach habe ich ihn mit der Kurbel hochgezogen und ihm den Kopf abgeschlagen. Beinahe hätte ich danach vergessen, das CB-Funkgerät zu zerstören.«

Martin fiel plötzlich etwas ein. Selma hatte Gott erwähnt. Vielleicht konnte er sie bei ihren eigenen Sünden packen.

»Du hast Zurbriggen mit dem Beweismaterial gegen Mattfeld und Baltes ausgestattet und ihm so einen Freifahrtsschein ausgestellt, unter deren Augen weiter Frauen in diesem Keller zu quälen, und zu töten. Und du wusstest davon. Du bist nicht besser, als diejenigen, die du verurteilst.«

»Ich wusste es nicht, als ich ihm die Beweise zukommen ließ. Es sah anfangs so aus, dass der Direktor des Hotels nur Informationen über die neue Chefin sammeln wollte. So etwas ist zwar ungewöhnlich, soll es aber geben. Dass hinter der Fassade Zurbriggens ein perverser Serienmörder steckt, habe ich erst viel später herausgefunden.«

»Dennoch hast du akzeptiert, dass er weitermachen konnte.«

Selma senkte den Kopf.

»Für eine gewisse Zeit, ja.«

Für einen Moment herrschte Schweigen. Dann sah Selma zornig auf.

»Ich musste es tun. Die Therapie bei Dr. Hörschler hat nichts gebracht. Ich dachte, wenn ich meiner Sehnsucht nach Rache nachgebe, wenn ich alle auslösche, die mit meinem Leid zu tun hatten, könnte ich mich heilen. Den USB-Stick mit den Beweisen, und dass mein Mann mir kurz vor seinem Tod davon erzählt hat, habe ich als Auftrag Gottes betrachtet, die Mörder zur Rechenschaft zu ziehen. Zum Lohn, dachte ich, schenkt Gott mir meine eigene Erlösung.«

Martin fiel das Reden immer schwerer. Sein geschundener Körper rebellierte. Seine Kehle war wund und trocken. Die Telefonschnur hatte einen Ring von Blutergüssen um seinen Hals hinterlassen.

»Und hat es funktioniert? Fühlst du dich jetzt besser?«, krächzte er mit letzter Kraft.

Selma sah ihn für einen Moment schweigend an. Ihre Züge entspannten sich.

»Nein«, sagte sie schließlich.

»Und denkst du, es wird besser, wenn du mich jetzt auch noch tötest?«, sagte er und spürte, wie seine Augenlider schwerer wurden.

Selma antwortete nicht auf seine Frage, sondern erzählte einfach weiter.