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Martin klickte auf die erste Tondatei im Ordner Beweismittel auf dem USB-Stick. Es handelte sich um einen Dialog zwischen Marianne Seewald und Ernst Söder. Ihre Stimmen waren unverkennbar. Der Inhalt der Unterhaltung versetzte Selma, Martin und Eugen Bumann jedoch in höchstes Erstaunen und erfüllte sie zugleich mit abgrundtiefem Entsetzen.

Marianne Seewald sprach mit Söder über einen Mann Namens Ali, den Anführer einer neuen Gruppierung, die in das Geschäft mit den Mädchen drängen wollte. Es war deutlich zu hören, dass Marianne Seewald einen Mordauftrag aussprach. Sie sagte zu Söder, er solle den Mann ausquetschen und dann beerdigen.

Selma war nach den ersten Worten, die aus den mageren Lautsprechern des Notebooks drangen, vom Bett aufgestanden und hatte sich neben die, am Tisch vor dem Computer sitzenden Männer gestellt. Eine Hand legte sie dabei auf Martins Schultern. Die Berührung tat ihm gut, hatte eine beruhigende Wirkung auf ihn. Er spürte, wie seine Muskeln sich weiter entspannten. Er rief sich wieder ins Gedächtnis, dass sie es geschafft hatten. Eddie hatte keine Chance, in diesen, speziell für den Fall der Bedrohung gebauten Raum, einzudringen. Er würde irgendwann abziehen müssen, wenn er nicht von der Polizei geschnappt werden wollte. Die Gefahr war vorbei. Paul würde seinen Vater wohlbehalten zurückbekommen. Was es mit den E-Mails von Anna und den Reimen auf sich hatte, würde sich klären. Allein durch Selmas Berührung wurde ihm das alles schlagartig klar. Es war, als ob sich die Fesseln um seinen Brustkorb, die ihn am Durchatmen gehindert hatten, plötzlich in Luft aufgelöst hätten. Er verspürte sogar so etwas wie Glück. Er atmete zum ersten Mal seit Stunden langsam und tief ein und merkte, dass er sich dadurch noch mehr entspannte.

Aber Selmas Hand auf seiner Schulter war ihm auch irgendwie unangenehm. Es war ihm peinlich. Er fragte sich, vor wem er sich schämte. Doch die Antwort war klar, vor Anna.

Auf der zweiten Tondatei war wiederum ein Gespräch zwischen Seewald und Söder zu hören. Sie berieten, was sie mit einem Journalisten Namens Kevin Endres anstellen sollten.

Martin kannte den Mann. Er war ein stadtbekannter Zeitungsreporter. Er verfasste bissige Kommentare und hatte eine wöchentliche Kolumne, über der auch ein kleines Foto von ihm abgedruckt war.

Der Tonaufzeichnung war zu entnehmen, dass er sich in die Prostituierte Olena verliebt hatte, die für Seewald arbeitete. Olena hatte ihm die schmutzigen Details über den illegalen Handel mit den meist minderjährigen Mädchen verraten. Endres hatte Seewald mit seinem Wissen erpresst. Er forderte, dass Seewald Olena frei gab und mit ihm gehen lassen solle, oder er wollte der Polizei von den miesen Geschäften mit den jungen Mädchen erzählen und einen Artikel darüber schreiben. Das wollte Seewald sich nicht bieten lassen. Sie war nicht erpressbar. Söder sollte daher Udo Kaltenbach beauftragen, den Journalisten für immer zum Schweigen zu bringen. Söder schloss mit den Worten, dass dies dann wohl wieder eine Aufgabe für Udos Bruder Eddie sei.

»Wenn ich es nicht selbst gerade gehörte hätte, ich würde es nicht glauben«, sagte Bumann. »Frau Seewald war eine gute Chefin. Nie hätte man darauf schließen können, dass sie in ihrem früheren Leben eine brutale und herzlose Kriminelle gewesen war. Gut, sie war nie besonders gesprächig gewesen und lachen habe ich sie auch nicht gesehen, aber sie hat das Personal immer fair behandelt.«

»Das hat sie wahrscheinlich nur getan, weil sie nicht auffallen wollte«, sagte Selma bissig.

Bumann nickte.

»Söder war mir von Anfang an unsympathisch. Er hat die übrigen Angestellten immer von oben herab behandelt«, sagte er.

Martin stand auf und lehnte sich an die Wand.

»Ich bin gespannt, was die Polizei dazu sagt. Wenn Zurbriggen diese Beweise hatte, dann stehen sein Tod und der von Marianne Seewald und Ernst Söder irgendwie in Zusammenhang. Eddie könnte in das Hotel geflüchtet sein, um mit ihnen eine alte Rechnung zu begleichen.«

»Und warum hat er es dann offensichtlich auch auf dich abgesehen?«, fragte Selma.

Martin wusste darauf keine Antwort. Vielleicht war Eddie einfach nur so verrückt, dass er alle Menschen, die in seiner Vergangenheit eine Rolle gespielt haben, tötet.

Martin setzte sich wieder. Jetzt sahen sie sich die Fotodateien an.

Auf dem Ersten befanden sich Seewald und Söder in einer Lagerhalle. Um einen Lastwagen standen jede Menge bewaffneter Männer. Die eine Hälfte war gut gekleidet. Sie trugen ausschließlich schwarze Anzüge. Die andere Hälfte war das genaue Gegenteil. Grobschlächtige Rocker mit Jeanskutten über den Lederjacken. Von der Rampe des Lastwagens reichte einer der Rocker, ein Mann mit einem dunklen Vollbart und einem Pferdeschwanz, Söder ein durchsichtiges Päckchen mit einem weißen Pulver.

Martin dachte unweigerlich an einen Drogendeal, als er das Foto betrachtete. Bei Söder hatte seine Intuition also gestimmt. Er hatte sich nicht wie ein Hausmeister benommen, sondern wie jemand, der mit Gefahren für Leib und Leben bestens umgehen konnte. Jetzt wusste Martin warum. Söder war augenscheinlich Marianne Seewalds rechte Hand in einer über Leichen gehenden, kriminellen Organisation gewesen. Hier in dieses Hotel hatten sich die beiden zurückgezogen, vielleicht auch versteckt, wer wusste das schon. In diesem Milieu musste man wahrscheinlich untertauchen, um am Ende nicht Gefahr zu laufen, doch noch der Rache von einem jener zum Opfer zu fallen, deren Leben man zerstört hatte.

Das nächste Bild war in der gleichen Lagerhalle aufgenommen. Diesmal stiegen aus einem Kleintransporter mehrere asiatisch aussehende Mädchen aus. Söder gab dem Fahrer des Wagens ein Bündel Geldscheine.

Martin hätte darauf wetten wollen, dass diese Lagerhalle Marianne Seewald gehörte.

Das letzte Bild, wieder dieselbe Halle. Diesmal standen Marianne Seewald und Ernst Söder neben einer großen, brusthohen Holzkiste. Einige Männer verluden Waffen in die Kiste. Maschinengewehre und Raketenwerfer.

Eins stand fest, dachte Martin, derjenige, der die Tonaufnahmen gemacht und die Fotos geschossen hatte, war ein verdammt hohes Risiko eingegangen. Auf dem Stick waren Beweise, die Seewald und Söder für sehr viele Jahre hinter Gitter gebracht hätten.

»Bis gestern hätte sich die Polizei sehr über diesen USB-Stick gefreut«, konstatierte Bumann. »Aber leider sind nun alle, die dadurch belastet werden tot.«

Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück, streckte die Beine aus und faltete die Hände hinter seinem Kopf. Er machte einen überaus zufriedenen Eindruck.

Kein Wunder, er fühlt sich in Sicherheit, dachte Martin. Bei ihm wich dieses Gefühl aus irgendeinem Grund schon wieder. Er konnte nicht sagen, woran es lag. Es war zu ruhig. Daran lag es. Er hätte erwartet, etwas zu hören, wenn Eddie im Hotel Amok lief, weil er sie nicht finden konnte. Er hatte sogar erwartet, dass Eddie unmittelbar, nachdem Martin in den Panikraum geschlüpft war, von außen an die Tür trommeln würde. Schließlich war Kaltenbach ihm auf den Fersen gewesen. Aber es geschah nichts. Jetzt mit etwas Abstand war Martin auch klar warum. Eddie wusste schließlich nichts von dem Panikraum. Selbst, wenn er in den Kleiderschrank geschaut hätte, ohne die Kleider beiseitezuschieben und genau auf die Rückwand zu achten, wäre ihm nicht aufgefallen, dass es eine Tür gab.

Aber trotzdem spürte er, dass etwas im Gange war. Und er sollte Recht behalten.