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Durch die Glastür, welche das Restaurant von der Eingangshalle trennte, konnten Martin, Selma und Bumann unbemerkt beobachten, wie Eddie Kaltenbach zum Aufzug rannte, ihn verpasste und darauf wieder zurück in den Seitengang zu den Treppen lief. Sie hatten damit gerechnet, Ernst Söder zu sehen, da er und nicht Eddie die Pistole gehabt hatte. So oder so, bis hierher hatte der mit schnellem Entschluss gefasste Plan, den Aufzug als Ablenkungsmanöver zu benutzen, jedenfalls funktioniert. Doch das war der einfachere Teil gewesen. Was jetzt folgen sollte, war schwieriger zu realisieren und im Wesentlichen von dem Zeitfenster abhängig, dass sie verstreichen ließen, bis sie Eddie die Treppen hinauf folgten.
Der Plan sah vor, dass sie, Eddie unauffällig folgen wollten, während dieser zum Aufzug in der zweiten Etage lief, um schließlich in derselben Etage, die Treppe hinauf in den dritten Stock zu nehmen. Der Aufzug und der Treppenaufgang waren durch zwei Flurbiegungen getrennt, so dass Kaltenbach sie nicht sehen konnte, solange er vor dem Aufzug stand.
Alle drei wussten, dass es ein sehr waghalsiger Plan war. Eine bessere Möglichkeit, ohne Konfrontation nach oben in den vermeintlichen Panikraum zu gelangen, gab es augenscheinlich aber nicht.
Sie warteten zehn Sekunden, dann folgten sie Eddie nach zu den Treppen. Sie liefen an der Rezeption vorbei und spähten über die Theke. Meier war tot, erwürgt. Der Schreck saß tief. Doch sie hatten keine Zeit, sich damit zu beschäftigen. Sie liefen weiter und bogen in den Seitengang.
Die Tür zum Vorzimmer des Direktors stand offen. Im Vorbeilaufen war es unvermeidlich, einen Blick in das Zimmer zu werfen. Das reichte. Abrupt blieben sie stehen. Söder lag leblos auf dem Boden. Im Hintergrund wurde Zurbriggens Büro von dem diffusen Licht des Computermonitors beleuchtet.
»Lauft ihr weiter, ich schaue kurz nach ihm«, sagte Martin.
Selma und Bumann blieb keine Zeit zum Widersprechen. Sie liefen weiter, denn Martin war bereits im Vorzimmer verschwunden.
Söder lag mit dem Rücken auf dem Boden. Seine Augen waren geöffnet und starr auf die Decke gerichtet. In seiner Stirn klaffte ein Loch von der Größe eines zwei Cent Stücks. Unter seinem Schädel hatte sich eine Pfütze aus Blut gebildet. Darin schwamm etwas Weiches, Undefinierbares. Als Martin langsam an Söder vorbeiging, erkannte er, dass es sich um Gehirnmasse und zersplitterte Schädelknochen handelte. Söder war nicht mehr zu helfen. Martin wollte sich nicht ausmalen, wie der Hinterkopf wohl aussehen musste, beziehungsweise, was davon übrig war. Nur beiläufig registrierte Martin, dass Söders Pullover in Nabelhöhe voll Blut gesaugt war.
Martin dachte an den Zettel, den er im Keller in Zurbriggens Folterkammer entdeckt hatte.
Du solltest in meinem Computer nachschauen!
Das und nicht Söder war der eigentliche Grund, warum er das Büro betreten hatte. Auf dem Weg vom Keller nach oben war ihm klar geworden, dass der Zettel bei Zurbriggens Leiche nur bedeuten konnte, dass Zurbriggens Computer gemeint war.
Er wusste die Zeit drängte, aber vielleicht war irgendetwas in diesem Computer, das ihm half, das Rätsel zu lösen, warum all diese Morde geschahen.
Um in das Büro des Direktors zu gelangen, musste er über Söders Leiche steigen. Er rutschte aus und fiel beinahe hin, als er in die Blutlache um Söders Kopf trat. Er trat hinter den Schreibtisch und betrachtete den Computerbildschirm. Den Bildschirmschoner hätte er unbeachtet gelassen und weggeklickt, wenn dieser nicht so auffällig anders gewesen wäre. Vor einem hellblauen Hintergrund lief ein rotes Band mit weißer Schrift von links nach rechts über den Bildschirm. Die Wörter bildeten nach und nach insgesamt vier Zeilen, bis der ganze Spruch abgebildet war. Dann fror das Bild für ein paar Sekunden ein. Im Anschluss begann das Spiel wieder vor einem leeren Hintergrund von vorne, bis der Reim wieder vollständig da stand. Martin kam zu einem Zeitpunkt, als die erste Zeile bereits stand. Seine Finger wollten gerade die Tastatur bedienen, so dass der Bildschirmschoner verschwinden würde, doch kurz davor stoppte er. Als die zweite Zeile komplett war, hatte sich ein erster Reim gebildet. Die Worte, die erschienen, waren eine Botschaft an ihn, das, wonach er in der Folterkammer im Keller vergeblich gesucht hatte. Wenn der Täter seinem Muster, das er bei Marianne Seewald begonnen hatte, folgte, nämlich die Reime, bei den sie betreffenden Leichen zurückzulassen, dann bezog sich dieser Spruch auf Söder:
Er sollte Leben schützen, doch er ging über Leichen,
Sein Herz war hart, ließ niemals sich erweichen,
Geld und Macht waren am Ende doch einerlei,
Dr. Tod ist tot, übrig bleiben nur noch zwei.
Martin drückte eine Taste. Der makabere Bildschirmschoner verschwand und er hatte den Desktop Bildschirm vor sich. Er klickte auf das Icon für den Explorer und sah, dass ein Wechseldatenträger angeschlossen war. Er klickte darauf und sah eine Datei mit dem Namen: Beweismittel. Er klickte darauf und fand insgesamt sechs Dateien, drei Fotos, zwei Tondateien sowie ein Word-Dokument. Er schaute hinunter auf das Computergehäuse. Vorne steckte der USB-Stick, auf dem die Dateien gespeichert waren. Er wusste, dass er schon viel zu lange hier war. Eddie musste inzwischen erkannt haben, dass der Trick mit dem leeren Fahrstuhl ein Ablenkungsmanöver gewesen war. Und diese Vermutung fand im gleichen Augenblick ihre Bestätigung. Dong, Dong, Dong, der Fahrstuhl hatte sich wieder nach unten in Bewegung gesetzt.
Martin zog den USB-Stick aus dem Slot und lief los. Er machte einen großen Satz über den toten Söder. Dabei fiel ihm etwas Glitzerndes an dessen Hosenbund auf. Ein Schlüsselbund. Martin drehte sich um und löste den Karabiner mit den Schlüsseln von Söders Hosenbund. Die Schlüssel waren blutig. Dann war er raus aus dem Zimmer und hielt auf die Treppen zu. Während er die Stufen empor sprintete, traf ihn eine andere Erkenntnis mit Schrecken. Abrupt blieb er stehen, lauschte nach auffälligen Geräuschen und drückte sich mit dem Rücken an die Wand des Treppenhauses. Doch er hörte nur seinen schnellen Atem.
Was, wenn Eddie es ihnen gleich getan hatte? Er könnte den Aufzug leer nach unten geschickt haben, um dann über die Treppe zu kommen. Eddie konnte sich theoretisch bereits hinter der nächsten Treppenbiegung befinden. Was sollte er tun? Es gab keine Option. Auf keinen Fall konnte er umdrehen. Langsam schritt er weiter nach oben. Dann kam ihm ein Gedankenblitz, der ihn ein wenig beruhigte. Warum sollte Eddie annehmen, dass jemand hinauf wollte? Eddie wusste nicht, dass sich in Marianne Seewalds Wohnung ein verborgener Panikraum befand. Dann war es doch wesentlich logischer, wenn sie vorgehabt hätten, das Hotel zu verlassen und Eddie vom Haupteingang weglocken wollten. Dann wiederum hätte Eddie keine Veranlassung, die Treppen zu benutzen. Er würde den Fahrstuhl nehmen und nach Spuren im Schnee vor dem Eingang Ausschau halten, die bewiesen, dass jemand vor kurzem das Hotel verlassen hatte. Andererseits war logisches Denken nicht gerade eine Eigenschaft, die man Eddie Kaltenbach zuschreiben würde.
Ein flaues Gefühl blieb, während Martin Stufe für Stufe weiter nach oben ging. Jetzt war er im zweiten Stock angelangt und stand vor der Etagentür.
Was, wenn Eddie gar nicht nach unten gefahren war, sondern einfach abwartete, was geschah? Was, wenn er von dem Panikraum wusste und nach oben gegangen war? Die Gedanken in Martins vor Schmerzen hämmerndem Kopf wollten sich nicht verdrängen lassen. Die Tabletten, die er vor einer halben Stunde dagegen genommen hatte, zeigten nicht die Spur einer Wirkung.