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Ernst Söder hatte im Vorbeigehen nur einen kurzen verächtlichen Blick auf den Koch Hans Meier geworfen, der sich unter dem Schreibtisch hinter der Rezeption verkrochen hatte. Wäre er näher herangegangen, hätte er feststellen können, dass Meier bereits nicht mehr am Leben war.
Mit äußerster Vorsicht schlich Söder zum Büro des Direktors. Er griff mit der Hand um die Ecke, fand den Lichtschalter und betätigte ihn. Sogleich leuchteten die beiden Neonröhren an der Decke das Vorzimmer zum Büro des Direktors aus. Es war sauber. Jetzt drückte er die Türklinke zu Zurbriggens Bürozimmer hinunter, ließ die Tür aufschwingen und ging neben dem Türrahmen in Deckung. Nichts. Er ließ schnell seinen Kopf hinter dem Rahmen hervor und wieder zurückschnellen. Es blieb alles ruhig. Mit einem Satz und der Pistole im Anschlag sprang er in das Zimmer. Der Lauf seiner Pistole folgte seinen schnellen, jeden Winkel des Zimmers absuchenden Blicken. Es war niemand hier. Das einzige Geräusch, das er vernahm, war das monotone Rauschen des im Computergehäuse eingebauten Ventilators. Der Raum war in das bläuliche Licht getaucht, welches das Display des PC-Monitors verströmte.
Er ging hinter den Schreibtisch und legte die Waffe neben die Tastatur. Auf dem Bildschirm lief ein roter Schriftzug vor einem weißen Hintergrund als Bildschirmschoner. Söder drückte eine Taste, worauf der Bildschirmschoner verschwand und rief mit einem Mausklick auf das entsprechende Icon das E-Mail-Programm auf. Während der Computer arbeitete, dämmerte ihm, dass hier ein Spiel lief, dem er vielleicht doch von Anfang an nicht gewachsen war. Wer hatte den Computer angeschaltet? Zurbriggen, bevor er nach unten gegangen war? Warum hätte er das Gerät anlassen sollen? Dafür gab es nur eine Erklärung: Zurbriggen musste unter Zwang gehandelt haben. So musste es sein. Der Hinweis in Form des Zettels in Zurbriggens Lederslip, der Mörder hatte alles präzise geplant.
Er klickte auf den Ordner gesendete Objekte und fand seine Vermutung bestätigt. Die letzte E-Mail ging von diesem Computer um 00.35 Uhr raus. Empfänger war das Bundeskriminalamt. Söder klickte auf die E-Mail. Der kurze Text lautete:
Beigefügt erhalten Sie Beweismittel zu Mord, Drogen-, Menschen- und Waffenhandel.
Mit freundlichen Grüßen
Anna Waller
Im Anhang waren mehrere Dateien aufgeführt. Söder wusste, wer diese Dateien zusammengetragen hatte. Knut Winkler, der verdeckte Ermittler, den das BKA in ihre Organisation eingeschleust hatte. Sie hatten Udo Kaltenbach beauftragt Winkler zu eliminieren und dafür zu sorgen, dass das belastende Material verschwindet. Udo hatte den Job seinen Bruder Eddie ausführen lassen. Der hatte Winkler zwar, kurz bevor er das Material übergeben konnte, erschossen und den USB-Stick mit den Dateien sichergestellt. Allerdings gab es, wie sich später herausstellte, eine Kopie. Marianne Seewald hatte gedacht, sie hätte die Sache im Griff, indem sie der leitenden Staatsanwältin die Dateien abkaufte. Aber weit gefehlt. Marianne hatte ihrem Sohn Konstantin einige Jahre später die Firma, wie sie ihre Organisation nannte, übertragen und sich mit Söder, ihrem liebsten Mitarbeiter, zurückgezogen. Doch dann war Zurbriggen aufgetaucht, mit den gleichen Dateien.
Söder fragte sich jetzt, wie lange das BKA brauchen würde, um herauszubekommen, von welchem Rechner die E-Mail geschickt worden war. Vielleicht half es, dass es Nacht war. Möglicherweise würde die E-Mail dann erst am nächsten Morgen ausgewertet und die Spuren verfolgt werden. Dann hätte er noch Zeit genug, um sich aus dem Staub zu machen. Für einen Moment dachte er, dass Marianne es besser hatte. Sie hatte es hinter sich.
Er war konsterniert und mit den Gedanken woanders, als er mit der Pistole in der Hand in den Flur trat. Er war damit beschäftigt, sein Untertauchen zu planen. Er dachte an die falschen Pässe, die in seinem Zimmer bereitlagen, die gefüllten Bankkonten im Ausland und das Bargeld im Tresor des Hotels. Ein einziges Mal hatte er nicht daran gedacht, dass Eddie Kaltenbach überall sein konnte. Das war der Fehler seines Lebens.
Als Söder mit der Pistole voran herauskam, packte Raphael dessen Hand mit einem schnellen Griff, drehte sie gegen Söders Körper und drückte den Abzug, auf dem noch Söders Finger ruhte durch, ehe Söder richtig wahrgenommen hatte, was geschehen war. Die Kugel traf ihn in den Bauch und trat auf der anderen Seite wieder aus. Seine Augen weiteten sich vor Schreck. Dann kam der Schmerz. Raphael drückte ihm seine kalte Hand vor den Mund und schob ihn zurück ins Zimmer. Söders Beine gaben nach. Er war Arzt gewesen und er hatte viele Schusswunden behandelt. Er wusste, es würde noch dauern, aber er würde an diesem Treffer sterben. Er fiel zu Boden, drückte sich mit den Füßen ab und robbte so nach hinten, weg von Raphael, der ihn mit dunklen Augen fixierte. Söder hinterließ eine von dem Gewicht seines Körpers verwischte Blutspur auf dem Holzparkett.
»Wo ist Waller?«, sagte Raphael mit emotionsloser Stimme.
»Dritte Etage, Marianne Seewalds Wohnung«, sagte Söder.
Raphael schüttelte den Kopf.
»Das hat der Kerl vorne unter dem Schreibtisch auch zuerst gesagt. Als ich ihn noch einmal Luft holen ließ, hat er gesagt, Waller sei im Keller. Wollte gerade nachsehen, als du aufgetaucht bist. Von da oben komme ich jedenfalls. Dort ist nur eine tote Frau in der Badewanne.«
»Unmöglich, ich habe Waller selbst an einen Stuhl gefesselt.«
Söder fiel das Reden unglaublich schwer. Die Schmerzen waren kaum auszuhalten und das Blut quoll aus der Einschussstelle in seinem Bauch. Er drückte mit beiden Händen auf das Loch in seinem Körper, um die Blutung zu stillen, vergeblich, das Blut rann unaufhaltsam wie Lava zwischen seinen Fingern hindurch.
»Mir egal, ich glaube er ist im Keller. Wenn ich mit dir fertig bin, kümmere ich mich um ihn.«
»Was willst du von Waller?«, fragte Söder mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht.
»Er hat Eddies Bruder und Eddies Frau auf dem Gewissen.«
Wie sollte das gehen, dachte Söder. Die Polizei sucht nach dir, du Irrer. Du hast die beiden umgelegt. Aber halt ...Von wem hatte er die Information, von Bumann und der hatte sie von Martin Waller. Dann war da wieder der Schmerz und alles andere war egal. Es ging zu Ende mit ihm. Aber er hatte Glück. Er hatte es selbst in der Hand, wie lange sein Leiden dauern würde. Mit Entsetzen stellte er fest, dass Eddie das Interesse an ihm verloren hatte. Er musste schnell handeln. Eine neue Schmerzwelle durchzuckte seinen Körper und er stöhnte auf. Es fühlte sich an, als hätte er ein glühendes Eisen in den Eingeweiden. Er zog es vor, sofort zu sterben und er wusste auch, wie er das anstellen konnte.
»Kennst du mich?«, fragte Söder.
»Nein«, sagte Raphael.
»Ich kenne aber dich. Du bist Eddie Kaltenbach, Spitzname die Bestie, ein krankes paranoides Schwein.«
Raphael sah Söder an wie ein Hund, der zum Angriff ansetzt. Sein ganzer Körper versteifte sich und zeigte keine Regung mehr.
»Deine Frau war eine verdammte Nutte. Sie hat es verdient, zu sterben.«
Söder brauchte nicht mehr weiter zu reden. Die Kugel traf ihn mitten in die Stirn. Er war erlöst.