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Ein Fuß stand auf einer Halterung des Blitzableiters. Der andere hing in der Luft. Mit der rechten Hand klammerte er sich um die dünne Metallstange des Blitzableiters, mit der Linken hielt er sich am Fenstersims fest, um seine Stellung, so regungslos wie möglich, zu halten. Doch genau das funktionierte nicht. Der Wind drückte ihn vom Fenster weg, als ob er ein Dieb wäre, den es galt, in die Tiefe zu stürzen, bevor er Schaden anrichten konnte. Als es tatsächlich passierte und Martins Hand vom Fenstersims glitt, dachte er, es wäre vorbei. Er schloss für einen kurzen Moment die Augen, als er an der Stange hängend um hundertachtzig Grad mit dem Rücken gegen die Mauer des Hotels schwenkte. Wenn er nicht augenblicklich begann, sich nach unten zu hangeln, würde er abstürzen. Aber das konnte er nicht tun. Denn unter ihm lugte Eddie Kaltenbachs Kopf aus dem Fenster und starrte regungslos in die Tiefe. Martin hielt den Atem an, sein Herz trommelte, wie es nur geschehen konnte, wenn einem der Schreck vor dem baldigen Tod in den Körper fährt. Eddie brauchte nur nach oben zu schauen. Dann hatte er ihn. Eigentlich konnte Martin dem Sturm aber auch dankbar sein, denn das Tosen war so laut, dass Eddie es nicht hörte, als jetzt auch noch sein Fuß von der Halterung abrutschte. Martin hielt sich jetzt nur noch mit beiden Händen an dem Gestänge fest. Er spürte, wie der Draht in seinen Händen nachgab. Er blickte hinauf zu der Halterung über ihm. Sie lockerte sich. Die Schrauben traten ganz langsam aus der Wand hervor. Es nutzte auch nichts mehr, dass sein Fuß die Halterung unter ihm wieder gefunden hatte. Die Schrauben konnten sein Gewicht nicht länger halten. Er blickte hinunter. Kaltenbach zog den Kopf zurück. Er hatte nicht hinaufgeschaut. In diesem Moment sprangen die Schrauben aus der Mauer und der Draht kippte von der Wand weg. Martin ließ instinktiv los und stürzte ab. Er versuchte, im Fallen sich irgendwo festzuhalten. Doch zunächst knallte er mit dem Knie gegen das Sims des Fensters der ersten Etage. Danach gelang es ihm noch einmal, den Draht zu fassen. Doch der wurde sogleich durch den Schwung des Fallens herausgerissen und schließlich schlug Martin seitlich auf dem Boden auf. Ein unerträglicher Schmerz durchzuckte seinen Körper. Er hätte schreien müssen, doch er tat es nicht. Er war auf den linken Arm gefallen. Der Unterarm stand in einem seltsamen Winkel ab und die Schwellung von der Größe eines kleinen Luftballons, die sich unter der Jacke abzeichnete, verriet ihm, dass der Arm gebrochen war. Auch sein Schulterblatt schmerzte höllisch, ebenso wie die Rippen auf der linken Seite. Martin versuchte, aufzustehen. Es klappte erst beim zweiten Versuch. Sein rechtes Knie, mit dem er auf dem Sims aufgeschlagen war, schmerzte in dem Moment, als er das Bein belastete. Er sah, dass seine Hose über dem Knie voll Blut war. Mit angelegtem Arm humpelte er hinüber in den Schatten der kleinen Kapelle, die nur wenige Meter von den Mauern des Hotels entfernt stand, und blickte hinauf zum Fenster in der ersten Etage. Der Flur dahinter war hell erleuchtet. Sein Blick blieb für eine Minute an dem Fenster haften. Es tat sich nichts. Eddie tauchte nicht wieder auf. Martin gab sich einen Ruck und ging um die Ecke zum Eingang der Kapelle. Er brauchte einen Ort, an dem er kurz verschnaufen konnte.

Als Martin die Tür öffnete, fegte der Wind in das kleine Gebäude. Hunderte kleine Kerzen flackerten auf einem Ständer vor dem Kreuz an der hinteren Wand. Touristen konnten die Kerzen gegen eine kleine Spende anzünden. Der Wind ließ die kleinen Flammen nun nervös hin und her zucken, wodurch auch Bewegung in die unheimlichen Schatten an der grob verputzten Wand kam. Martin störte es nicht. Er schritt an einem Beichtstuhl zu seiner Rechten vorbei, schleppte sich zu den Bänken und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Holzlehne der hintersten Bankreihe. So konnte er die Tür im Auge behalten. Der Arm pochte zwar wie verrückt, doch er würde die Schmerzen aushalten. Auch das Laufen fiel im schwer und verursachte mit jedem Schritt Schmerzen. Was ihn viel mehr beunruhigte, war die Frage, wie er mit nur einem Arm die Handhebeldraisine bedienen sollte. Kurz hielt er sich seine Optionen vor Augen. Er war schnell fertig. Es gab nur eine. Er musste weitermachen. Wenn er hier blieb, würde Kaltenbach mit der ersten Bahn ins Tal fahren und von dort aus direkt zu Paul und Martins Vater. Er konnte darauf hoffen, dass die Polizei Eddie vorher fangen würde. Aber was, wenn Eddie einfach untertauchen würde. Er konnte dann in zwei Wochen, zwei Monaten oder zwei Jahren zuschlagen. Und die ganze Zeit über wäre die Angst ihr ständiger Begleiter. Nein, er durfte nichts riskieren. Er musste es nach unten schaffen und die Polizei verständigen.

Plötzlich gab es einen lauten Knall. Eine Sturmböe hatte die sperrige Holztür der Kapelle aus ihrem Schloss gezerrt und gegen die Wand knallen lassen. Der Wind donnerte herein wie eine Dampflok. Martin zuckte vor Schreck zusammen. Dann begriff er, dass nicht Eddie dafür verantwortlich war, sondern der Wind, der so stark in die Kapelle geblasen hatte, dass die meisten der Kerzen jetzt erloschen waren. Martin humpelte zur Tür, schaute sich draußen um und wollte schon hinausgehen. Doch dann hielt er inne, machte auf dem Absatz kehrt, schloss die Tür hinter sich und ging nach vorne zu den Kerzen. Er kramte ein paar Münzen, die er immer lose in der Hosentasche hatte, hervor, warf sie in die Sammeldose und nahm sich eine frische Kerze. Mit den daneben liegenden Streichhölzern zündete er sie an. Er schloss die Augen und faltete die Hände.

»Bitte Gott, lass alles gut ausgehen. Beschütze Paul und meinen Vater und lass mich hier lebend raus kommen, damit ich Paul ein guter Vater sein kann, er braucht mich.«

In Filmen ließen die Helden sich niemals dazu herab, Gott um Hilfe anzuflehen. Aber er war kein Held und dies hier war das wirkliche Leben. Er wusste, dass seine Worte kitschig klangen. Aber hier war niemand außer ihm und Gott, der zuhörte. Er hatte als Kind täglich gebetet. Er dachte damals, die Gebete stellten eine direkte Verbindung zu Gott her, und wenn er sie nicht täglich wiederholte, würde diese Verbindung abbrechen und Gott würde sich von ihm abwenden und nicht mehr über ihm wachen. Irgendwann hatte er damit aufgehört. Er hatte nur noch gebetet, wenn es ihm schlecht gegangen war, so wie die meisten Menschen es taten, die sich Christen nannten. Plötzlich wusste er, dass er es als Kind richtig erkannt hatte. Dann wandte er sich um und ging hinaus. Der Sturm peitsche ihm ins Gesicht. Die Windböen schienen aus allen Richtungen gleichzeitig über ihn hereinzubrechen. Die Schmerzen waren schlimm, aber das Gebet hatte ihm auf unerklärliche Weise Kraft gegeben. Der breite, gepflasterte Weg, der bei seiner Ankunft noch vom Schnee geräumt gewesen war, war nun zugeschneit. Die Schneedecke war etwa zehn Zentimeter hoch. Jetzt rächte sich, dass er keine Winterstiefel hatte. Durch die dünnen Sohlen seiner Schuhe drang die Kälte fast ungehindert hindurch. Doch nicht nur die Kälte ließ ihn frösteln. Sein gebrochener Arm, seine wahrscheinlich gebrochene Rippe und die Schulter machten seinem Körper zu schaffen. Von seinem blutigen Knie und den Kopfschmerzen ganz zu schweigen. Was er jetzt gebraucht hätte, war Ruhe und nicht diese Strapazen, die gerade erst begonnen hatten.

Der Weg schlängelte sich nach unten zur Bahnstation und war von einer Seite mit Straßenlaternen beleuchtet. Martin blieb auf der anderen Seite, wo es dunkel war, wenn man von Dunkelheit reden konnte. Der zunehmende Mond reflektierte so stark auf dem Schnee, dass man nun ziemlich gut sehen konnte. Es war allenfalls dämmrig. Nur das Schneetreiben hemmte die weite Sicht. Die umliegenden Viertausender hatten sich in den dichten weißen Wolken versteckt.

Auf der Hälfte des zirka zweihundert Meter langen Weges blickte Martin sich um. Das majestätische Hotel war umhüllt von Schneegestöber. Er sah, dass die Fenster in der ersten Etage hell erleuchtet waren. In der zweiten Etage gingen jetzt nach und nach die Lichter in den Zimmern an. Angst erfüllte ihn. Was wenn Eddie ihn jetzt entdeckte? Er wandte sich wieder um und lief so schnell er mit dem lädierten Knie und dem angelegten Arm konnte auf die Bahnstation zu. Zwei Minuten später war er da. Zu seiner Rechten befanden sich die Schranken, die zum Hauptgleis führten. Um hier durchzukommen, brauchte man eine gültige Bahnkarte. Die hatte er zwar, sein Ziel, den Schuppen mit der Draisine, konnte er aber einfacher über die linke Seite erreichen. Neben den Schranken stand eine große Tafel. Auf ihr war eine Landkarte abgebildet, die den Weg hier hinauf zum Hotel mit den verschiedenen Zwischenstationen darstellte. Oberhalb der Karte leuchtete eine elektronische Anzeige. Martin warf nur einen schnellen Blick darauf. Es handelte sich um ein Lawinenwarnsystem. Der darunter angebrachten Legende nach gab es vier Stufen. Die Lampe leuchtete rot, das bedeutete höchste Alarmbereitschaft.

Er ging, wie Selma es ihm erklärt hatte, links an dem Haus vorbei und kletterte unter der Barriere hindurch, vor der ein Verbotsschild mit der Aufschrift Kein Durchgang, Achtung Lebensgefahr angebracht war. Kein Wunder, nur zwei Meter von der Bahnstation entfernt, fiel das Bergmassiv ein paar hundert Meter fast senkrecht ab in die Tiefe. Er humpelte eng an der Wand des Hauses vorbei und erreichte die hintere Seite. Jetzt sah er den Holzschuppen und das Gleis, das in den Schuppen führte. Als er bei dem Tor ankam, nahm er den Schlüsselbund, den er Dr. Baltes abgenommen hatte, und probierte ein paar der Schlüssel aus, die in das Schloss passen konnten. Beim dritten Schlüssel hatte er Erfolg. Er hatte Mühe, das Tor mit nur einer Hand aufzuziehen, aber schließlich schaffte er es. Ungläubig ging er einige Schritte hinein. Die Erkenntnis war niederschmetternd und raubte seinem Körper augenblicklich die verbliebenen Kraftreserven. Die Draisine war da. Und doch nutzte ihm das gar nichts.