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Martins Herz pochte, als er vor seiner Zimmertür stand. Er fühlte sich, als ob ihn jemand zwänge, ohne Fallschirm aus einem Flugzeug zu springen. All seine Sinnesorgane arbeiteten auf maximaler Leistungsstufe, um eine mögliche Gefahr so frühzeitig, wie nur möglich zu erkennen. Wo war Kaltenbach? Wo waren Selma, Söder, Bumann und Meier? Er hatte es bis hierher geschafft, ohne auf sie zu treffen. Das konnte nur bedeuten, dass sie versuchten, das CB-Funkgerät aus dem Keller zu holen.

Auf dem Weg zu seinem Zimmer hatte er ein ums andere Mal seltsame Geräusche gehört. Jedes Mal hatte er vor Schreck innegehalten, sich an die Wand gedrückt, als ob sie ihm irgendeinen Schutz böte, und gelauscht. Doch es war nichts passiert und er hätte auch im Nachhinein nicht beschwören können, ob es diese Geräusche wirklich gegeben hatte oder seine Nerven ihm nur einen Streich gespielt hatten. Wenn er um eine Flurecke hatte gehen müssen, war es noch schlimmer gewesen. Das Gefühl war ähnlich dem, wenn er im Meer badete. Er konnte nicht sehen, was unter ihm war, genauso wenig, wie er sehen konnte, was hinter einer Ecke lauerte. Es war seine verfluchte Phantasie, die ihn verrückt machte.

Es war wie im Urlaub, wenn er im Meer badete und sich fragte, ob er es riskieren sollte, noch weiter rauszuschwimmen. Dann spielte sich in seinem Kopf ein Film ab. Er sah einen Hai, der aus der Tiefe nach oben stieß, ihn an den Beinen packte und mit sich herabzog. Hier im Hotel sah er hinter jeder Ecke Eddie Kaltenbach lauern, blutverschmiert, mit irrem Gesicht und einem Beil in der Hand wie Jack Nicholson in Shining.

Martin hatte einmal in einem Groschenroman gelesen, dass Mut und Phantasie sich gegenseitig ausschlössen. Aber das stimmte nicht. Mut ging nicht ohne Phantasie. Nur jemand der Phantasie hatte, konnte überhaupt mutig sein. Genauso, wie ein phantasieloser Mensch eigentlich nicht mutig sein konnte. So jemand konnte sich gar nicht ausmalen, wie es sein würde, in einem abstürzenden Flugzeug dem Erdboden entgegen zu rasen. Mut zu Fliegen brauchte der Phantasielose gar nicht erst aufzubringen. Wer aber Phantasie besaß, der musste mutig sein, um in ein Flugzeug zu steigen, im offenen Meer weit weg von der Küste zu baden, oder durch die leeren Gänge eines Hotels zu gehen, in dem ein irrer Killer und ein stoischer Hausmeister herumliefen, die es beide auf ihn abgesehen hatten. Das Problem war nur, Martin hatte eine blühende Phantasie, aber er war gewiss nicht mutig, das hatte er in der Vergangenheit allzu oft bewiesen. Jemand der mutig war, versteckte sich nicht hinter einer Flasche Wodka, damit er die Welt besser ertrug. Aber Fakt war, er stand jetzt vor seiner Zimmertür. Er hatte den Weg hierher nur zurückgelegt, um nachzusehen, ob die Packung mit seinen Schlaftabletten noch da war. Er fragte sich, ob es das Risiko wert gewesen war, die Etage zu betreten, in welcher vor nicht allzu langer Zeit jemand das Fenster eingeworfen hatte, um darüber ins Innere zu gelangen. Die Kälte von draußen hatte jedenfalls den Flur schon erobert. Es fröstelte ihn. Er drückte gegen seine Zimmertür. Sie war verschlossen, wie er sie zurückgelassen hatte. Er kramte in seiner Jeans nach der codierten Karte, die als Schlüssel diente. Doch so sehr er auch suchte, die traurige Wahrheit war, dass er sie in der Eile im Zimmer hatte liegen lassen. Es war zum Verzweifeln. Er sah nach links und rechts. Der Flur lag lautlos und verlassen da. Wie lange noch, dachte er? Das Hotel war nicht groß. Ein herumstreunender Killer war wie ein Sicherheitsmann eines Kaufhauses beim Nachtdienst. Er dreht seine Runden, dachte Martin und es dauert nicht mehr lange, dann kommt er in diesen Flur. Panik befiel ihn. Es war wie damals, wenn er als Teenager spät in der Nacht nach Hause gekommen war. Er hatte an der Haustür gestanden und nach seinem Schlüssel gesucht und dann hatte er immer wieder diesen Gedanken: Da draußen in der Dunkelheit ist etwas, es ist schnell, schnell wie der Wind, und wenn du es nicht schaffst, sofort die Tür zu öffnen, dann kommt es und holt dich. Sein Herz begann zu pochen wie damals. Nur, diesmal hatte er keinen Schlüssel, den er benutzen konnte, um ins Innere zu fliehen.

Dieses Gefühl hatte er lange nicht mehr gespürt. Er sah sich den Schlüssel zur elterlichen Haustür ins Schloss stecken, umdrehen, die Tür öffnen. Es war ihm, als hätte er einen kalten Hauch in seinem Nacken gespürt wie eine unsichtbare Hand, die nach ihm griff, und der er im letzten Moment ins Innere des Hauses entkommen war.

Jetzt war es wieder genauso wie damals. Der Flur war nur spärlich beleuchtet. Es war still. Und doch hatte er Angst vor dem Ungewissen. Martins Augen weiteten sich, als er wieder dieses eigenartige Geräusch hörte. Jetzt wusste er auf einmal, was es war. Es war das unheimlichste Stöhnen, das er je in seinem Leben gehört hatte. Mein Gott, es kommt von dieser Etage, dachte er. Er stemmte sich mit aller Kraft gegen seine Zimmertür. Das Türblatt bog sich ein wenig, aber es gab nicht nach. Er versuchte es an den Türen daneben und auf der gegenüberliegenden Seite. Er suchte jetzt einfach nur einen Unterschlupf. Aber alle Türen waren verschlossen. Es gab einen Grund, warum er in sein Zimmer gewollt hatte, aber der interessierte ihn jetzt nicht mehr. Dann sprang er wieder und wieder mit seinem Körper gegen die verdammte Zimmertür. Aber sie gab einfach nicht nach. Er glich einem Frosch in einem Einmachglas, der verzweifelt versuchte, freizukommen und dabei doch immer wieder an dem glatten Glas abschmierte. Er gab erst auf, als er mit der Schulter ungünstig gegen die Tür schmetterte und blitzartig Schmerzen seinen Körper durchzuckten. Er biss sich auf die Zähne, damit er nicht laut aufschrie. Er konnte den Arm kaum noch bewegen. Doch der Schmerz war wie betäubt, als er ein entferntes Krachen hörte. Er drehte den Kopf abrupt in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, konnte sich aber nicht vorstellen, wodurch es verursacht worden war. Es kam von links. Dort beschrieb der Flur nach etwa zwanzig Metern eine Linkskurve. Martin lauschte angespannt in die Stille. Für eine halbe Minute war nichts mehr zu hören. Dann fing es wieder an und die Haare standen ihm zu Berge. Zuerst nahm er wieder dieses Stöhnen wahr, fast wie ein Gesang und es kam näher. Hinzu kam jetzt ein dumpfes Geräusch, ein Schleifen. Es war, als ob ein spitzer Gegenstand mit Kraft über eine glatte Oberfläche fuhr und dort Kratzer und Schleifspuren verursachte. Unterbrochen wurde das Schleifen von rhythmisch pochenden Geräuschen, als ob ..., Martin bekam erneut eine Gänsehaut. Es war, als ob jemand mit einem Messer an den Flurwänden entlang kratzte, wobei das pochende Geräusch durch das Auftreffen des Messers auf den, die Wände unterbrechenden, Türblättern entstand. Und das Stöhnen war in Wahrheit ein seltsamer, das Kratzen und Klopfen begleitender Singsang. Das Schlimme war, dass die Geräuschkulisse, die entfernt an die Geisterbeschwörungen indianischer Medizinmänner erinnerte, mit jeder Sekunde lauter wurde. Es bewegte sich unzweifelhaft genau auf ihn zu.