3

 

Martin Waller war noch nie zuvor im Hochgebirge gewesen. Jetzt war er noch keine zwei Stunden hier und er hätte nichts lieber getan, als den Wagen zu wenden, und wieder nach Hause zu fahren. Dieses Eingekesseltsein von viertausend Meter hohen Bergwänden löste eine tiefe Beklemmung in ihm aus. Außerdem hatte er Kopfschmerzen, seit er den Lötschbergtunnel hinter sich gelassen hatte. Auch ansonsten fühlte er sich miserabel. Aber das hatte er vorher gewusst. Garantiert wäre das im Sommer anders gewesen. Wahrscheinlich hätten ihn die Berge sogar beeindruckt. Aber jetzt, Anfang November, da die Berge und die Täler weiß vom Schnee waren, konnte er sich unmöglich entspannen. Der Schnee, den die Räumfahrzeuge an den Straßenrändern aufgehäuft hatten, sah aus wie Berge von Zuckerwatte. Martin wurde bei diesem Anblick, der jedes Kinderherz hätte höher schlagen lassen, schlecht. Er hasste Schnee. Es gab Menschen, die Rolltreppen, Kerne im Obst oder Spinnen entsetzlich fanden. Bei ihm war es eben der Schnee. Allein der Anblick ließ seine Atmung flach werden und versetzte ihn in eine leichte Panik. Und jetzt war er hier, wo nichts anderes zu existieren schien. Martin ließ seinen Blick schweifen. Weiß, nichts als weiß. Verdammt, er fühlte sich beschissen bei dem Anblick. Aber Dr. Hörschler hatte gesagt, er solle sich seinen Ängsten stellen. Also hatte dieser Job auch etwas Gutes. Er war nicht nur eine gute Gelegenheit, etwas mehr Geld zu verdienen, sondern in gewisser Art und Weise sogar eine kleine Therapie. Dabei verdrängte er so gut es ging die Tatsache, dass heute Annas dritter Todestag war und er somit allen Grund gehabt hätte, sich nicht auch noch diesem psychologischen Wagnis zu stellen. Aber vielleicht hatte er es gerade deshalb getan. Nichts war schlimmer, als die Trauer. Da ersetzte er lieber den einen Schmerz durch einen anderen. Er musste an den Standardspruch seines Großvaters denken, wenn Martin gejammert hatte, weil er beispielsweise hingefallen war und sich das Knie aufgeschürft hatte:

»Komm her, ich hau dir mit dem Hammer auf den kleinen Finger, dann tut das Bein nicht mehr weh.« Und dann hatte sein Großvater über Martins verängstigten Blick schallend gelacht.

Doch die Trauer um den Menschen, den man über alles geliebt hatte, ließ sich nicht durch eine Fahrt in den hohen Schnee übertünchen. Wenn er ehrlich war, hatte er das auch nicht wirklich erwartet. Tiefe Trauer ließ sich nur kaschieren. Sie schien immer durch wie die Umrisse einer Zeichnung unter Butterbrotpapier. Aber immerhin. Er saß nicht, wie an beiden Jahrestagen davor, an Annas Grab und weinte. Das hatte er gestern erledigt.

Seine Gedanken rissen ab, als er zu nah an den Straßenrand kam und der hintere Teil des alten Audis kurz ins Schlingern geriet. Fortan konzentrierte er sich wieder auf die Straße.

Im Dorf Täsch musste Martin seinen Wagen in einem Parkhaus abstellen und den Rest der Strecke nach Zermatt mit dem Zug zurücklegen. Nur Fahrzeuge mit Sondergenehmigung der Kantonspolizei durften die schmale Straße, die in den Ort führte, benutzen.

Nach etwa fünfzehn Minuten hielt der Zug in Zermatt. Der Bahnhof war nur fünfzig Meter von der Talstation der Gornergratbahn entfernt. Die Zahnradbahn sollte ihn hinauf zum höchsten Hotel der Alpen bringen.

Der Direktor des Hotels, ein Mann namens Walter Zurbriggen, hatte ihm den Weg haarklein erklärt. Auch die abschließende Fahrt mit der Zahnradbahn, selbstverständlich auf Kosten des Hotels. Außerdem hatte Zurbriggen auf Martins Nachfrage angegeben, dass das Hotel über eine eigene Werkstatt verfüge. Also hatte Martin nur das Spezialwerkzeug, Schleifpapier und verschiedene Polituren in einer Werkzeugtasche mitgenommen. Die wenigen Kleider, die er für die paar Tage dort oben brauchte, hatten bequem in eine Reisetasche gepasst.

Er überquerte die Haupteinkaufsstraße Zermatts, die direkt neben dem Bahnhof verlief. Ein stilechtes Alpenhotel reihte sich dort an das Nächste. In den Erdgeschossen befanden sich meist Geschäfte mit Souvenirs oder Kleidern aber auch Restaurants und Bars.

Zehn Minuten später saß er in der Zahnradbahn, wo seine Kopfschmerzen und die Übelkeit mit jedem Höhenmeter zunahmen. Worauf hatte er sich nur eingelassen?

Außer ihm saßen nur wenige Menschen in der Bahn. Sie fuhr sehr langsam und hielt an mehreren Stationen, an denen ein paar Leute ausstiegen, während andere wieder zustiegen. Wie so oft im Laufe eines Tages, und insbesondere an diesem Tag, musste er an sein früheres Leben denken.

Es war so viel versprechend gewesen. Und dann hatte sich seine Frau vor drei Jahren das Leben genommen. Nicht einfach so, aber überraschend war es trotzdem gewesen und es hatte ihn in eine tiefe Krise gestoßen, aus der er bisher noch nicht wieder herausgekommen war. Er hatte schon zu viel darüber nachgedacht. Jede Nuance hatte er im Kopf durchgespielt. Doch bis heute hatte er keine plausible Antwort auf die Frage nach dem Warum ihres Selbstmordes gefunden. Nichts, das ihn letztlich überzeugt hätte.

Er wischte diese unergiebigen Grübeleien weg. Der Zug fuhr jetzt gefährlich nah am Abgrund vorbei. Die Wände des Waggons schienen plötzlich auf ihn zuzukommen. Er wusste, dass es die Platzangst war, die ihm diesen Streich spielte und der verdammte Schnee ringsum. Ruhig atmen, ganz ruhig, ermahnte er sich. Er dachte an seinen Vater, der ihn gedrängt hatte, die Reise zu machen. Aber letztlich war Selma das entscheidende Zünglein an der Waage gewesen. Sie hatte ihm immer wieder eingetrichtert, wie gut ihm der Ortswechsel tun würde, und dass er dadurch bestimmt auf andere Gedanken käme. Schließlich habe er eine Verantwortung Paul gegenüber. Und das stimmte. Allein für ihn musste er es schaffen, wieder auf die Beine zu kommen.

Paul war jetzt sechs Jahre alt. Schlimm genug, dass er seine Mutter verloren hatte. Er brauchte seinen Vater jetzt doppelt. Aber genau das war es, was ihm nicht gelang. Er war kein guter Vater. Er war nie wirklich bei ihm. Körperlich ja, aber geistig war er abwesend. Ständig fühlte er sich, als sei eine unsichtbare Glocke über ihn gestülpt, die ihn von der Außenwelt und der Teilnahme am Leben abschirmte.

Er blickte aus dem Fenster und zwang sich, dem Panorama der schneebedeckten Gipfel und Täler etwas abzugewinnen. Es blieb bei dem Versuch.

Nach fünfunddreißig endlosen Minuten erreichte die Zahnradbahn die Endstation auf dem Gornergrat. Martin stieg aus, durchschritt mit seinem Ticket eine Drehschranke und blickte sich um. Etwa einhundert Meter über ihm thronte das Hotel. In der Ferne streckten sich die Gipfel mehrerer Viertausender nach den Wolken. Martin ging zaghaft zu der Brüstungsmauer, die sich nur ein paar Schritte von der Bahnstation entfernt befand, und bis zum Hotel hinaufführte. Dahinter ging es steil bergab. Ganz unten verlief eine unwirklich glitzernde Gletschersohle. Martin drehte sich um und folgte dem sich nach oben windenden Weg zum Hotel. Es sah aus wie eine mittelalterliche Burg. Diesen Eindruck störten allein die beiden futuristischen weißen Kuppeln auf den flankierenden Türmen, die zu einer Sternwarte gehörten. Hinter dem Hotel führte ein schmaler Weg hinauf zu einer Aussichtsplattform. Dort konnte Martin ein paar Touristen ausmachen.

Zum Glück war der Weg zum Hoteleingang vollständig vom Schnee geräumt. Die Werkzeugtasche machte Martin, hier oben in über dreitausend Metern Höhe, noch schwerer zu schaffen, als im Tal. Das Gewicht war dabei weniger das Problem, mehr lag es an der Höhenluft. Beim Atmen verspürte er einen Druck auf dem Brustkorb und er musste öfter atmen, um die gleiche Menge Sauerstoff in die Lungen zu bekommen, wie im Tal. Seine Kopfschmerzen waren auf dem Höhepunkt angelangt und die eisige Kälte kroch ihm in die Glieder. Die Anzeige auf einer Tafel neben der Bahnstation verriet ihm, dass die Temperatur bei drei Grad unter null lag, dazu blies ein zäher Wind.

Als er vor der gläsernen Eingangstür des Hotels ankam, waren seine Füße feucht und klamm vor Kälte. Trotzdem hielt er kurz inne, um Kräfte zu sammeln, und durchzuschnaufen. An der Tür hing ein Schild. Darauf stand, dass das Hotel ab heute bis 15. Dezember geschlossen sei. Zu seiner Rechten hatte er einen freien Blick auf das weltberühmte Matterhorn. Aber in der Ferne tauchten dunkle Wolken auf. Er betrachtete sich das Hotel noch einmal genauer. Aus der Nähe betrachtet, verströmte der aus großen grauen Steinblöcken errichtete Bau eine zeitlose Eleganz. Die unwirkliche Bergkulisse im Hintergrund verstärkte den Eindruck eines Märchenschlosses.

Erneut kam eine Ansammlung von Hotelgästen aus der Tür. Er spürte eine wohlige, ihm von innen entgegenschlagende Wärme. Diesmal nutzte er die Gelegenheit und huschte, noch bevor die Schiebetür sich wieder schloss, ins Innere.

Nach einer weiteren Tür, die als Windfang diente, fand er sich in dem geräumigen Eingangsbereich des Hotels wieder. An der Empfangstheke hatte sich eine kleine Schlange auscheckender Gäste gebildet. Er nutzte die Zeit, um sich in der Eingangshalle etwas umzuschauen.

Von der Decke hingen schwere Kronleuchter und Teile des Mobiliars waren anscheinend so alt, wie das Hotel selbst. Auf dem mit Schiefer belegten Boden lagen feinste handgeknüpfte Teppiche und an den Wänden hingen eigens angestrahlte impressionistische Gemälde. In einer der Sitzgruppen hatten es sich ein paar zur Abreise bereite Gäste bequem gemacht.

In einem verglasten Vorbau waren kleine Geschäfte untergebracht. Dort gab es vor allem Schweizer Spezialitäten, wie Schokolade und Pralinen, edle Weine, Reisegepäck, Schweizer Messer und Uhren sowie Souvenirs zu kaufen. Die Läden waren gerade dabei zu schließen.

Als niemand mehr anstand, trat Martin an die Empfangstheke. Ein Hotelangestellter in dunkelblauer Uniform mit goldenen Knöpfen sah ihn freundlich an. An der Brusttasche seines Sakkos war ein Schild mit seinem Namen angebracht. Er hieß Eugen Bumann.

»Sie wünschen?«

»Mein Name ist Waller. Ich habe einen Termin mit dem Direktor. Es geht um die Restaurationsarbeiten an dem wertvollen alten Mobiliar.«

Der Blick Bumanns hellte sich weiter auf.

»Ja, ja selbstverständlich. Der Direktor erwartet Sie bereits. Wie war Ihre Anreise?«

»Danke, sehr gut«, log Waller. Das hatte er sich angewöhnt. Alles andere wirkte verstörend auf die Allgemeinheit, die keine anderen Antworten auf die Frage nach dem Wohlbefinden erwartete, als wunderbar, toll, super, ausgezeichnet, könnte nicht besser sein und so weiter. In Wirklichkeit fraßen ihn seine Kopfschmerzen jetzt auf. Er brauchte dringend eine Schmerztablette. Außerdem hatte er viel zu viel an Anna gedacht. Kunststück an ihrem Todestag. Das tat weh und diesen Schmerz hatte er lange Zeit mit Wodka und Tequila betäubt. Jetzt tat er das nicht mehr. Aber das Verlangen danach, sich zu betrinken und nichts mehr zu spüren, war immer noch da. Besonders heute.

Bumann schien ihm anzusehen, dass er etwas Ruhe gebrauchen konnte, denn er sagte:

»Wenn Sie wollen, können Sie, bevor Sie mit dem Direktor reden, zuerst Ihr Zimmer beziehen?«

Martin wollte. Bumann gab ihm das Zimmer mit der Nummer 126 im ersten Stock. Die Tasche mit dem Werkzeug konnte Martin an der Rezeption stehen lassen. Bumann sagte, der Hausmeister würde die Tasche in die Kellerwerkstatt des Hotels bringen. Auch das war Martin recht.

Als Martin sein Zimmer betrat, bemerkte er sofort den Ausblick aus dem großen Fenster. Er ging näher heran. Es schien, als säße er in einer Felswand, ringsum ein Bergmassiv neben dem anderen. Er blieb noch einen Moment vor dem Panoramafenster stehen. Dann erst schenkte er dem Interieur des Zimmers Beachtung.

Wenngleich er sich keine Illusionen machte, dass in diesem Hotel gewiss größere Suiten existierten, die luxuriöser eingerichtet waren, so entging ihm doch nicht, mit welcher Detailverliebtheit dieses Zimmer eingerichtet war. Alles war Ton in Ton abgestimmt. Selbst der Teppichboden stimmte mit der Farbe der Bilderrahmen an den Wänden überein.

Als Martin sich im Bad ein wenig frisch machte, schaute er nur flüchtig in den Spiegel. Früher hatte er jünger ausgesehen, als er wirklich war. Heute war es umgekehrt. Er hatte Ränder unter den Augen, sein dunkles Haar, war von grauen Strähnen durchwandert und seine Haut kam ihm faltig und porös wie ein alter Fahrradschlauch vor. Er warf zwei Schmerztabletten gegen die Kopfschmerzen aus seiner Reiseapotheke ein, legte sich aufs Bett und schloss für einen Moment die Augen.