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Die Packung mit den Schlaftabletten. Es war die gleiche Marke wie die, die er sich von zu Hause mitgebrachte hatte, und von denen er eine vor dem Schlafen genommen hatte. Die Tabletten waren verschreibungspflichtig und in der Schweiz gab es diese Marke nicht. Am liebsten wäre er losgestürmt, um zu schauen, ob seine Packung noch in seinem Zimmer lag.

In diesem Moment klopfte es an die Wohnungstür. Martin rannte aus dem Bad, durch das Schlafzimmer in den Wohnbereich. Hier sah er Selma und Meier, die an dem großen Esszimmertisch Platz genommen hatten und jetzt entsetzt in die Richtung schauten, aus der das trommelnde Klopfen an der Tür nun von neuem einsetzte. Nun konnte Martin auch hören, dass jemand Marianne Seewalds Namen rief und sie bat, die Tür zu öffnen.

»Das ist Söder«, sagte Selma und schaute Martin mit einem Hilfe suchenden Blick an.

Die Entscheidung, ob sie die Tür öffnen sollten oder nicht, nahm Ernst Söder ihnen aber ab. Das Klicken der ausrasteten Sicherheitsbolzen machte klar, dass er einen Schlüssel hatte. Die Frage war nur, ob Söder allein war oder unter Zwang handelte. Sie hörten, wie die Wohnungstür sich öffnete und dann schob sich auch die Tür in den Wohnbereich auf. Die Drei starrten Söder an, als ob er ein Geist wäre. Und hinter ihm war noch jemand in die Wohnung gekommen. Es war Eugen Bumann. Martin stieß erleichtert den Schwall Luft aus, den er vor Anspannung angehalten hatte. Doch dann registrierte er etwas, dass ihm einen erneuten Stich in den Magen versetzte. Söder hatte einen Revolver in der Hand und er legte ihn nicht weg, als er in das Zimmer trat. Er richtete das riesige Ding auf Martin.

»Wo ist Marianne?«, fragte er.

Selma und Meier warfen sich einen ungläubigen Blick zu. Söder hatte die Hotelchefin noch nie mit dem Vornamen angesprochen. Er schien vertrauter mit ihr zu sein, als sie es in der Öffentlichkeit gezeigt hatten.

»Sie ist tot«, sagte Selma.

»Tot?«, wiederholte Söder ungläubig und ließ für einen kurzen Moment resigniert die Pistole sinken. Dann funkelte er Martin mit wilden Augen an.

»Er ist an allem Schuld«, sagte er und zielte auf Martins Brust.

Martin war völlig überrumpelt und sprachlos. Söder musste übergeschnappt sein. Dafür ergriff Selma das Wort für ihn.

»Was redest du da für einen Unsinn. Martin war die ganze Zeit bei uns. Außerdem hat er keinen Grund Frau Seewald zu töten. Entweder es war dieser Kaltenbach oder sie hat sich selbst das Leben genommen.«

Söder schnaubte verächtlich und verzog die Mundwinkel zu einem verächtlichen Lächeln.

»Glaub´ mir Selma. Ich weiß ein bisschen mehr als du über diesen Mann. Und ich sage dir, dein Freund trägt die Verantwortung für das, was heute Nacht hier geschieht.«

Selma schaute Söder an, als ob er geisteskrank wäre. Dann sah sie Martin an und von da an verhielt sie sich völlig anders. Als ob jemand einen Schalter in ihrem Kopf umgelegt hätte.

»Das klingt so, als ob du sehr überzeugt bist, von dem was du weißt.«

Martin konnte es nicht fassen. Selma benahm sich, als ob sie ihn gerade erst kennen gelernt hätte.

Söder nickte und hielt Bumann jetzt die Waffe hin.

»Hier, halt ihn damit in Schach. Ich will mir das Bad ansehen.«

Als Söder zurückkam, war er leichenblass.

»Was glaubt ihr, wer meinen Namen an die Wand gepinselt hat? Marianne? Sie war seit fast zwanzig Jahren meine Chefin. Schon lange, bevor sie sich dieses Hotel als Alterssitz ausgesucht hat.«

Söder nahm Bumann wieder die Waffe ab und setzte sich an den Tisch. Dabei ließ er Martin keinen Augenblick aus den Augen.

»Woher haben Sie die Pistole?«, fragte Meier.

»Ich habe einen Waffenschein. Ich darf sie besitzen, klar?«, blaffte Söder ihn an. Dann sah er kurz zu Bumann, der sich mit dem Rücken an die Wand gelehnt auf den Boden gesetzt hatte.

»Ich bin eben doch nicht zurück in mein Zimmer gegangen«, sagte Bumann. »Ich bin hinter euch hergeschlichen. Als ihr in Frau Seewalds Wohnung gegangen seid, bin ich rauf zu Ernst und hab ihm erzählt, dass der Kerl, den wir vor dem Hotel gefunden haben, Eddie Kaltenbach heißt und wegen Mordes in Deutschland gesucht wird, und dass er nicht mehr in seinem Zimmer liegt und seinen Namen«, dabei deutete er auf Martin, »an den Spiegel geschrieben hat.«

»Und das hat mich wirklich umgehauen. Denn zwei Zufälle auf einmal kann es nicht geben«, sagte Söder.

»Was für Zufälle?«, fragte Selma.

Söder blickte kurz in Richtung des Bades.

»Ich weiß, dass der hier«, wieder zeigte er mit der Pistole auf Martin, »und Kaltenbach gemeinsam Teil einer ziemlich bösen Sache waren. Es ging um Mord. Ich habe die Sache damals in der Presse verfolgt.«

Selma sah Martin an und legte den Kopf schief.

»Stimmt das, was er sagt?«

Martin nickte betrübt. Er hätte es bei sich bietender Gelegenheit ohnehin erzählt. Jetzt sah es so aus, als habe er es verheimlichen wollen.

»Es ist sieben Jahre her. Ich war Zeuge in einem Mordprozess gegen Eddie Kaltenbach. Er kam aufgrund meiner Aussage frei.«

Jetzt sprang Bumann wie von der Tarantel gestochen auf.

»Verdammt noch mal, warum haben Sie uns nichts davon erzählt?«

»Ja, warum nicht?«, schloss sich Meier an.

Martin antwortete nicht sofort.

»Was damals war, hat wahrscheinlich nichts damit zu tun, dass Kaltenbach hier ist und ich dachte ...«

Söder schlug plötzlich unvermittelt mit der Pistole auf den Tisch. Er schäumte vor Wut.

»Sie brauchen sich nicht weiter herauszureden. Wenn Sie nichts zu verbergen hätten, hätten sie uns gleich gesagt, dass Sie ihn kennen. Sie und Kaltenbach stecken unter einer Decke. Jedenfalls glaube ich das, bis das Gegenteil bewiesen ist. Ich bin ein sehr vorsichtiger Mann und ich habe keine Lust, mich von Ihnen und diesem Irren umlegen zu lassen.«

Martin machte den Mund auf und dann wieder zu. Er brachte kein Wort mehr heraus. Sicherlich musste sein Verhalten seltsam wirken. Er konnte Söder fast verstehen. Aber er regte sich eine Spur zu viel auf, als es der Situation angemessen gewesen wäre. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf, der sich im nächsten Moment schon wieder verflüchtigte. Warum hat Söder solche Angst? Verheimlicht er etwas? Er wirkt, wie ... ertappt. Außerdem, gesetzt den Fall, Marianne Seewald hätte nicht Söders Namen an die Badfliesen geschrieben, wer dann? Kaltenbach? Das würde bedeuten, dass er auch Söder kannte! Dann fiel Martin wieder ein, dass er, als sie den bewusstlosen Kaltenbach ins Hotel getragen hatten, den Eindruck hatte, Söder würde den Mann kennen.

»Na, hast du das gewusst, Selma?«, sagte Söder. Seine Stimme klang triumphierend.

Selma schüttelte träge den Kopf und richtete dann ihren enttäuschten Blick zu Boden.

»Selma, ich hab nichts mit dem Tod von Frau Seewald oder mit Kaltenbachs Erscheinen hier zu tun.«

»Sparen Sie sich das für die Polizei auf«, sagte Bumann. »Ich traue Ihnen jedenfalls nicht mehr über den Weg. Woher kennst du den Kerl eigentlich, Selma.«

Bitte nicht, dachte Martin. Erzähl ihnen nicht von Anna. Selma schaute kurz zu Martin auf. Er konnte ihrem Gesichtsausdruck ablesen, dass sie ihm den Gefallen nicht tun würde.

»Seine Frau war meine beste Freundin.«

Sie machte eine Pause. »Sie hat vor drei Jahren Selbstmord begangen. Sie hat Tabletten mit Alkohol genommen, sich ein heißes Bad eingelassen und sich in der Wanne die Pulsadern aufgeschlitzt.«

Diese Worte hatten die Wucht einer Bombe. Söder, Meier und Bumann starrten Martin geschockt an. Doch nicht die Tatsache, dass er seine Frau auf so tragische Weise verloren hatte, war der Grund dafür, sondern dass Anna Waller und Marianne Seewald auf identische Art und Weise aus dem Leben geschieden waren. Das war eindeutig zu viel.

Söder fasste sich erwartungsgemäß als Erster.

»Ich bin dafür, dass wir ihn hier fesseln und dann über das CB-Funkgerät im Keller die Polizei verständigen. Wir haben eine Pistole. Kaltenbach war unbewaffnet, als wir ihn gefunden haben. Wir sind ihm also klar überlegen. Wenn er uns über den Weg läuft und uns angreift, habe ich keine Skrupel von der Schusswaffe Gebrauch zu machen.«

Das klingt nicht wie ein Hausmeister, eher wie jemand, der eine militärische Ausbildung hat, dachte Martin. Er kam sich vor wie ein Aussätziger. Er konnte nicht fassen, dass diese Menschen eine solche Meinung von ihm hatten. Am allermeisten bekümmerte ihn aber, dass Selma ihm nicht vertraute. Sie schaute ihn an, als ob er ein Monster wäre. Doch konnte er es den Leuten wirklich Übel nehmen? Es musste doch auf sie wirken, als hätte er etwas mit dem Tod der Hotelchefin zu tun. Zwei identische Selbstmorde, in die er, Martin, verwickelt war. Es war klar, dass da die Phantasie durchging, insbesondere in der angespannten Situation, in der sie sich befanden. Ein gesuchter Mörder, der im Hotel herumirrt, eine tote Hotelchefin, und keine Möglichkeit die Polizei zu erreichen, oder von diesem Ort zu verschwinden. Nur über eines wunderte er sich. Er war völlig ruhig und verspürte nicht die geringste Lust auf etwas Hochprozentiges. Doch das war damals, als er Anna gefunden hatte, genauso gewesen. Erst Tage später hatte er mit dem Trinken begonnen. Dafür machten ihm diese bohrenden Kopfschmerzen mehr und mehr zu schaffen. Es fiel ihm unglaublich schwer, sich zu konzentrieren.

Er lächelte Selma jetzt freundlich zu. Sie wandte den Kopf ab. Söder schien es mit Genugtuung zu bemerken. Der Mann hat etwas Bösartiges an sich, dachte Martin. Der Eindruck verstärkte sich noch, als Söder aufstand, in die Küche ging und nach kurzem Kramen in den Schubladen mit einer Rolle Paketseil zurückkam. Er übergab abermals Bumann die Waffe, drückte Martins Arme hinter die Stuhllehne und fesselte ihn dann an den Handgelenken. Danach schlang er den Rest des Seiles von der Rolle um Martins Oberkörper und den Stuhl. Die professionelle Art, wie Söder dabei vorging, bestätigte Martins Vermutung, dass dieser so etwas nicht zum ersten Mal tat. Er blieb völlig ruhig und wehrte sich nicht gegen die Fesseln. Immer wieder blendete sich die Realität für Augenblicke aus und er rannte wieder die Treppe in ihrem alten Haus hinauf und rang mit seinem Vater um Einlass ins Bad, wo seine Frau tot in der Wanne lag. Das Trauma war zurück und es nahm ihm jeden Antrieb, sich aus seiner derzeitigen Lage zu befreien. Was ging hier nur vor sich? Und dann kam ihm ein wahnwitziger Gedanke. Was, wenn jemand den Tod von Marianne Seewald nur für ihn so arrangiert hatte? Wenn es zu einem Spiel gehörte, dessen Endziel es war, ihn in den Wahnsinn zu treiben?