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Raphael dachte nicht logisch. Er tat das Naheliegenste. Als die Türen des Lifts in der zweiten Etage zur Seite schwangen und die Kabine leer war, trat er ein und drückte die Taste für das Erdgeschoss. Unten angekommen ging er zu der Glastür des Haupteingangs. Er spähte hinaus in den Schnee. Keine Spuren. Dann lachte Raphael laut auf. Es war ein hysterisches helles Lachen und es schallte durch die Eingangshalle. Er ist schlau, dachte er. Er tut das Gegenteil von dem, was man erwartet. Aber damit käme Waller nur noch dieses eine Mal durch. Er würde ihn kriegen und er wusste auch schon genau, wie er das anstellen würde.

Er griff einen Blumenständer in der Nähe des Aufzugs und stellte ihn als Hindernis zwischen die Schiebetüren der Kabine. Schluss mit dem Katz-und-Maus-Spiel. Dann ging er zu den Treppen und stimmte den Refrain von einem seiner Lieblingssongs der Bloodhound Gang an.

 

***

 

Martins Herz wollte fast zerspringen vor Aufregung, als er die Tür zur zweiten Etage öffnete.

Er tat es schnell, wartete jedoch einen Moment, bevor er in den Flur trat. Alles leer. Er sprintete los. Ein Schauer durchzuckte seinen Körper, als er den Gesang aus dem Treppenhaus hörte. Eddie war ihm auf den Fersen.

Vor der Tür zu der schmalen Treppe, die in die dritte Etage führte, wartete Martin nicht. Er zog sie schnell auf und trat in den kleinen Raum, an dessen rechter Seite die einläufige Treppe nach oben führte. Fünf Sekunden später war er in Marianne Seewalds Wohnung. Die Tür war nur angelehnt gewesen. So, wie er sie gelassen hatte, als er die Wohnung verlassen hatte.

Er stürmte ins Arbeitszimmer, griff sich das Notebook und lief dann ins Schlafzimmer. Von Selma und Bumann keine Spur.

Er gönnte sich nicht den Funken Zeit, sich auszumalen, was wäre, wenn Eddie sie erwischt hätte oder wenn sich in diesem Schrank keine Tür zu einem Panikraum befand. Er zog an der verspiegelten Tür des Kleiderschrankes, schob die dicht gedrängten Kleider, die an Bügeln an der Stange hingen zur Seite und sah die Tür. Sie war in dergleichen Farbe wie die Rückwand des Schrankes gestrichen. Wenn man nicht wusste, dass sie da war, konnte man sie kaum finden. Für einen Moment hielt Martin inne. Er hatte sich bisher nicht gestattet, über Alternativen zu diesem Raum nachzudenken. Es gab auch keine. Allerdings bedeutete dieser Raum, ein verschlossener, vermutlich kleiner Raum für Martin nicht nur die Rettung. Für ihn konnte es auch der Untergang sein. Denn er war hier in diesem Hotel auch aus therapeutischen Gründen. Er sollte sich seiner Angst vor dem Schnee stellen. Doch diese Angst war nur Ausfluss des eigentlichen Problems und das hieß Klaustrophobie.

Für jemanden, der unter Platzangst litt, war schon der Verbleib in einem Kleiderschrank eine Tortur. Aber die Tür war nicht abgeschlossen. Aus dem Schrank konnte er, wann immer er wollte, heraus. Aber wenn er den Panikraum betreten würde, dann musste er darin bleiben, bis die Polizei kam. Die Türen würden verschlossen bleiben. Selbst wenn er wollte, er konnte nicht früher raus. Denn dann würde er das Leben von Selma und Bumann gefährden. Kurz schreckte er zurück. Er konnte unter diesen Umständen nicht da rein gehen. Aber was war dann? Hinter sich glaubte er, Kaltenbach jetzt einen Song von Metallica singen zu hören. Wenn Eddie ihn in die Finger kriegen würde, würde er ihn töten. Er musste es versuchen. Paul brauchte doch wenigstens seinen Vater. Er atmete tief durch und rief sich Dr. Hörschlers Worte ins Gedächtnis. Sie müssen sich ihren Ängsten stellen. Es kann ihnen nichts geschehen. Ihr Gehirn spielt ihnen das nur vor. Sie sind absolut sicher.

Martin zog die Tür des Kleiderschrankes hinter sich zu und klopfte an die geschlossene Tür. Eine Sekunde hielt er den Atem an. Dann kam ganz leise von irgendwo her im Schrank Selmas Stimme.

»Martin?«

Die Stimme drang leise aus einem im Schrank versteckten Lautsprecher.

»Ja, ich bin’s«, flüsterte er.

Im selben Moment öffnete sich die Tür und Martin ging in gebückter Haltung zwischen den Kleidern hindurch hinein.

Bumann ließ sogleich die Tür wieder ins Schloss fallen und sperrte ab. Man hörte die zahlreichen Sicherheitsbolzen einrasten.

Der Raum war nur vier mal vier Meter groß. Willkommen bei der Konfrontationstherapie deiner Wahl, dachte Martin. Der winzige Raum verfügte über ein Bett, einen Kühlschrank, zwei Stühle und einen Tisch sowie eine Waschgelegenheit und ein WC, das in der Ecke hinter einem Mauervorsprung verborgen war.

Als Martin eintrat fiel Selma ihm in die Arme.

»Gott sei Dank, ich dachte schon, er hätte dich erwischt. Womit hast du dich denn so lange aufgehalten und was willst du mit dem Computer?«

»Moment noch«, sagte Martin und hielt den Finger an den Mund, als Zeichen leise zu sein. Er lauschte angestrengt, hörte aber nichts. Während sie warteten, stand Martin völlig verkrampft, das Notebook unter den Arm geklemmt, neben Selma. Doch es blieb still. Jetzt entspannte er sich ein wenig. Er stellte das Notebook auf den Tisch und drückte die On-Taste. Dann fiel sein Blick auf das Telefon. »Funktioniert es?«

Bumann seufzte.

»Leider nicht. Ich wette, es hängt an der Hauptleitung, wie alle anderen Telefone auch.«

»Mist«, sagte Martin.

»Hey, nicht so pessimistisch. Wir haben es geschafft, wir sind in Sicherheit«, sagte Selma und ließ sich mit einem Lachen im Gesicht auf dem Bett nieder. Bumann nahm am Tisch Platz und durchwühlte mit den Händen seine Haare. Er sah zermürbt aus und konnte Selmas Euphorie noch nicht teilen.

»Ich wüsste auch nicht, wie der Irre hier rein kommen sollte«, sagte er dann und zwang sich, ebenfalls ein freundlicheres Gesicht zu machen.

»Ich hab das hier in Zurbriggens Computer gefunden«, sagte Martin und hielt den USB-Stick hoch. »Zurbriggens Mörder wollte, dass die darauf befindlichen Dateien gefunden werden.«

»Das hört sich ja an, als ob hier jemand eine verdammte Schnitzeljagd mit uns veranstaltet«, sagte Bumann.

Martin setzte sich nun ebenfalls an den Tisch und schob den USB-Stick in den Slot am Notebook. Für Selma und Eugen Bumann war dieser Raum ein Geschenk Gottes, was er für ihn war, würde sich noch herausstellen.

»Söder ist tot«, bemerkte er noch kurz, während der Computer hochfuhr.

Bumann zuckte gleichgültig mit den Schultern und auch Selma sagte kein Wort. Es war ihnen egal.