5

 

Martin war kurz davor gewesen einzuschlafen, als es an seine Zimmertür klopfte. Er ging zur Tür und öffnete. Es war Selma. Auf ihrem Gesicht war ein breites Lachen und ihre Augen strahlten, als sie hereintrat und ihn umarmte. »Schön, dass du da bist«, sagte sie.

Selma Nowak war die beste Freundin seiner Frau Anna gewesen. Sie war jetzt erst neunundzwanzig und sah umwerfend aus. Sie war groß und schlank und hatte mittelblonde lange Haare, die sie zumindest bei der Arbeit zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte.

Martin hatte Selma erst nach Annas Tod näher kennen gelernt und mit der Zeit der gemeinsamen Trauer, waren auch sie Freunde geworden. Sie war der netteste Mensch, den er kannte.

Als sie ihn endlich losließ, musterte sie ihn mit besorgtem Blick.

»Du fühlst dich nicht besonders, was?«

Martin zuckte mit den Achseln.

»Es geht schon. Ich hab nur entsetzliche Kopfschmerzen.«

»Lügner«, sagte sie und lächelte dabei. »Ich weiß, was heute für ein Tag ist. Und das, was du in deinem Kopf spürst, sind Höhenkopfschmerzen. Das Hochgebirge bringt die Hormone durcheinander. Einige Menschen reagieren darauf eben mit heftigen Kopfschmerzen und Schlafstörungen.«

Er lächelte bemüht zurück. Das waren ja hervorragende Aussichten. Er hatte Selma nichts von seinem Problem mit dem Schnee erzählt. Das hatte er niemandem außer Anna anvertraut. Es war ihm peinlich gewesen. Selbst sein Vater hatte nie davon erfahren, von dem Schneegrab, in dem sie ihn verbuddelt hatten, schon, aber nicht von den Konsequenzen. Bislang hatte er auch keine Mühe gehabt, sein Geheimnis zu wahren. Ihre Urlaube hatten sie am Meer verbracht und allzu oft hatte es in Frankfurt und Umgebung nicht geschneit und wenn doch, dann hatte er als Kind immer eine Ausrede gefunden, nicht vor die Tür gehen zu müssen. Als im letzten Jahr der Schnee ausnahmsweise einmal hoch gelegen hatte, hatte Martin seinen Vater gebeten, mit Paul Schlitten fahren zu gehen.

»Es kann schon ein paar Tage dauern, bis sich dein Körper an die Höhenluft gewöhnt hat«, sagte Selma.

»Das bedeutet, dass die Kopfschmerzen bleiben, bis ich wieder nach unten fahre. Du weißt ja, länger als drei Tage kann und will ich Paul nicht allein lassen.«

»Warte es doch zuerst mal ab. Dein Vater kommt mit Paul schon zurecht.«

Die Frage war eher, ob Paul mit Martins Vater zurechtkommen würde, dachte er.

Er nickte und warf noch einen Blick aus dem Fenster. Überall nur Schnee. Ein Alptraum.

»Hier arbeitest du also, sehr schön«, sagte er trotzdem. Alles andere wäre Selma gegenüber unhöflich gewesen. Und das hatte sie nicht verdient. Sie legte den Kopf schief und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sie spürte, dass er es nicht so meinte, wie er es gesagt hatte. Vielleicht hatte auch ein gewisser Sarkasmus in seiner Stimme gelegen.

»Ja, es ist toll. Aber es kann auch unangenehm hier oben werden.«

Er wusste nicht, was sie meinte. Selma war begeisterte Skifahrerin und liebte die Berge. Deshalb hatte sie vor zwei Jahren Deutschland verlassen und diesen Job in der Schweiz angenommen. Nun sah er sie stirnrunzelnd an.

»In der Hauptsaison komme ich manchmal wochenlang nicht von diesem Berg herunter und hier oben gibt es ja nichts außer diesem Hotel. Da kannst du leicht einen Lagerkoller kriegen«, sagte sie.

Er nickte verständnisvoll. Für ihn wäre das nichts. Er hatte jetzt schon Beklemmungen, wenn er daran dachte, dass die letzte Bahn gegen 19.00 Uhr nach unten fuhr und es danach keine Möglichkeit mehr gab, das Tal bis zum nächsten Morgen zu erreichen.

»Morgen kommen übrigens auch die Installateure und Fliesenleger, die die Sanitäranlagen neu gestalten sollen«, sagte Selma. »Die Leute sind allerdings von hier und fahren am Nachmittag wieder nach unten. Aber jetzt noch was Offizielles. Der Direktor hat mich auf dem Weg zu dir abgepasst. Er würde dich gern so schnell wie möglich sehen, um mit dir zu besprechen, was es für dich zu tun gibt.«

Martin seufzte. Er hatte gehofft, dass ihm noch etwas Zeit zum Ausruhen bleiben würde. Am liebsten hätte er heute mit niemandem mehr reden wollen. Doch andererseits lenkte es ihn von seinen eigenen Problemen ab.

»Also gut«, sagte er und zog seine Schuhe wieder an. Sie gingen über das Treppenhaus nach unten. Das Büro des Direktors lag gleich im ersten Gang, in unmittelbarer Nähe zum Treppenaufgang.

»Hier ist es«, sagte Selma und blieb stehen. Ein Schild an der Wand verriet, dass dies das Vorzimmer des Direktors war. Selma klopfte an und führte ihn in das Zimmer. Dort gab es eine Theke und dahinter stand ein Schreibtisch mit einem Computer. Vor der Theke standen vier Stühle. Das erinnerte Martin unweigerlich an das Sekretariat einer Schule. Geradeaus befand sich eine massive Holztür. Ein Messingschild neben der Tür verkündete Büro des Direktors. Darunter stand der Name Walter Zurbriggen. Das Vorzimmer war leer und der Schreibtisch aufgeräumt.

»Die Sekretärin ist, wie die meisten anderen Angestellten, heute Morgen in Urlaub gefahren. Jetzt ist nur noch die Notbesetzung im Hotel. Die wenigen Gäste, die noch da sind, werden gerade von Eugen abgefertigt und fahren spätestens mit der letzten Bahn ins Tal«, sagte Selma.

Offenbar hatte der Direktor Selma und Martin hereinkommen gehört, denn nun öffnete sich die Tür seines Büros. Heraus trat ein pockennarbiger Mann mit einem grauen dicken Schnauzer, der ihm ein seehundhaftes Aussehen verlieh. Martin war mit einem Meter achtzig groß, aber Walter Zurbriggen überragte ihn noch um einen Kopf. Er schätzte ihn auf einsneunzig, vielleicht mehr.

»Ah, Herr Waller«, sagte er und schüttelte Martin die Hand so fest, als ob er sie abreißen wollte. Martin beeilte sich, den Händedruck zu erwidern, schon um keine Knochenbrüche zu riskieren. Hände wie ein Schraubstock, dachte Martin.

»Ihr Nachname und mein Vorname unterscheiden sich durch nur einen Buchstaben. Ist Ihnen das schon aufgefallen?«, sagte Zurbriggen und riss dabei seinen Mund zu einem donnernden Lachen auf.

Was für ein Witzbold, dachte Martin. Er hatte plötzlich ein unangenehmes Gefühl bei dem Mann. Er kannte das. Er konnte nicht sagen, woher es kam. Es war ein Unwohlsein, das sich in seinem Magen festsetzte. Es kam selten vor. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass von Menschen, bei denen er dieses Gefühl hatte, etwas Ungutes ausging und er sich besser von ihnen fernhielt.

»Bis nachher«, sagte Selma. Sie sagte, dass sich die Zimmer der Angestellten in einem Seitentrakt befanden, und gab ihm ihre Zimmernummer. Dann winkte sie Martin zum Abschied zu, als sie das Büro verließ.

Walter Zurbriggen führte Martin in sein Büro und hieß ihn, gegenüber seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Zurbriggen ließ sich auf dem abgewetzten Schreibtischstuhl nieder und lehnte sich zurück. Er legte die Fingerspitzen aneinander und begann, auf dem Stuhl leicht nach vorne und zurück zu wippen. Dabei bemerkte er Martins Blick auf den Stuhl und bekam ein breites Grinsen ins Gesicht.

»Der Stuhl gehörte schon meinem Vater. Die Hotelführung ist in der Familie geblieben. Wir Schweizer bleiben gern bei einer Tradition.«

Martin nickte ihm nur stumm zu, konnte aber nicht wirklich verstehen, warum Zurbriggen dem Stuhl nicht wenigstens einen neuen Lederbezug spendieren wollte, nur weil sein Vater schon darauf gesessen hatte.

»Normalerweise nehmen wir auch nur ortsansässige Leute für die Instandsetzungsarbeiten im Hotel. Wir unterstützen gern unsere Landsleute. Auch das ist Tradition. Aber Frau Nowak hat uns Sie ganz besonders ans Herz gelegt und ich muss zugeben, es war auch einfacher, als erst nach einem Spezialisten suchen zu müssen.«

Zurbriggen wippte in seinem Stuhl mit dem Oberkörper nach vorne und griff nach einem Schlüsselbund, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag.

»Wie lange arbeiten Sie schon als Möbelrestaurator?«, fragte er dann unvermittelt. Er sank wieder in den Stuhl zurück und ließ die Schlüssel an dem Ring, an dem sie befestigt waren, um seinen Zeigefinger kreisen.

Martin machte das nervös. Zudem war sein Stuhl niedriger als Zurbriggens. Er fühlte sich irgendwie eingeschüchtert von dem Riesen. Martin konnte sich bunt ausmalen, wie Zurbriggen von diesem Stuhl aus die Hotelangestellten bei einem Fehlverhalten von oben herab in den Senkel stellte. Der Mann hatte etwas Herrschsüchtiges.

»Ich mache das seit fünf Jahren.«

Zurbriggen hob überrascht die buschigen Augenbrauen.

»Sie haben das also nicht von der Pike auf gelernt? Ich frage nur, weil wir hier sehr alte und wertvolle Möbel haben.«

»Nein, das nicht. Ich habe mir das alles selbst beigebracht. Aber bisher hat sich noch niemand beschwert und ich habe schon in einigen Hotels rund um Frankfurt gearbeitet.«

»Darf man fragen, was Sie vorher gemacht haben?«

Martin überlegte kurz. Er mochte es nicht, wenn ihn jemand allzu sehr bedrängte und das hier kam ihm wie ein Vorstellungsgespräch vor, obwohl er den Auftrag doch schon hatte.

»Ich war Anwalt«, sagte er schließlich.

Zurbriggen riss erstaunt die Augen auf.

»Vom Anwalt zum Handwerker. Das passiert nicht oft. Warum haben Sie Ihren eigentlichen Beruf aufgegeben? Hat es Ihnen keinen Spaß mehr gemacht?«

Was ging das diesen Kerl an, dachte Martin. Wieder bestätigte sich sein Bauchgefühl, als er Zurbriggen eben zum ersten Mal gesehen hatte. Er fand den Mann unsympathisch und aufdringlich. Aber Selma hatte ihm den Job besorgt und sich für ihn verwandt. Wenn er sich daneben benahm, würde das auf sie zurückfallen und sie musste mit dem Direktor auch noch auskommen, wenn Martin in drei Tagen wieder verschwunden war. Also antwortete er.

»Nein, nicht direkt. Ich konnte das nicht mehr tun.«

Martin überlegte, ob er Zurbriggen mehr sagen sollte. Wenn er es nicht tat, würde Zurbriggen Selma fragen und dann käme sie ihrem Chef gegenüber in die Verlegenheit.

Zurbriggen hob neugierig seine buschigen Augenbrauen.

»Sie konnten Ihren Beruf, als Anwalt nicht mehr ausüben? Haben Sie etwas angestellt?«

»Es war wegen meiner Frau. Sie wurde krank und brauchte mich in ihrer Nähe. Vor drei Jahren ist sie gestorben und danach wollte ich an ihrer Stelle mehr für unseren Jungen da sein.«

Zurbriggen hob jetzt wieder die Augenbrauen. Diesmal wirkte er, als ob es ihm peinlich sei, dass er offensichtlich in ein Fettnäpfchen getreten war. Seine Mundwinkel hingen schlaff nach unten.

»Oh, das tut mir Leid«, sagte er mit gesenkter Stimme. »Wenn ich gewusst hätte, dass es sich so verhält, hätte ich nicht weiter gebohrt.«

Martin nickte versöhnlich. Er hatte nicht alles preisgegeben. Aber er sah, dass der Direktor damit zufrieden war. In Wahrheit hatte er nicht nur, weil Anna krank geworden war, seine Anwaltstätigkeit aufgegeben. Er hatte dazu noch etwas getan, was es ihm vor seinem eigenen Gewissen unmöglich machte, weiterhin als Strafverteidiger zu fungieren. Er hatte einen vorsätzlichen Meineid geleistet und so dafür gesorgt, dass ein gewalttätiger Schwerverbrecher frei gesprochen wurde.

Danach hatte er sein Hobby zum Beruf gemacht und alte Möbel restauriert. Dann kam Paul auf die Welt. Ein absolutes Wunschkind. Anna und Martin hatten jetzt, da Martin nicht mehr von früh bis spät in der Kanzlei war, genügend Zeit, sich um das Baby zu kümmern. Doch die anfängliche Freude währte nicht lange. Das Geld, das Martin mit dem Renovieren der Möbel verdiente, reichte nicht aus für die Ratenzahlungen des kleinen Hauses, das sie sich erst zwei Jahre davor gekauft hatten. Die Bank begann Schwierigkeiten zu machen und setzte sie unter Androhung der Zwangsversteigerung unter Druck. Martin hatte seinen Vater, der schon seit zehn Jahren Witwer war, um finanzielle Hilfe bitten müssen. Dann stellte sich heraus, dass mit Paul etwas nicht stimmte. Die Kinderärztin stellte fest, dass er nicht so reagierte wie seine Altersgenossen. Gleichzeitig ging es mit Annas Gesundheitszustand, besser gesagt mit ihrer Gemütsverfassung, immer weiter bergab. Zwei Wochen nachdem man bei Paul Autismus diagnostiziert hatte, nahm sie sich das Leben. Anfangs hatte Paul stundenlang nach seiner Mama geschrien. Es hatte Martin das Herz zerfetzt. Die verschreibungsfreien, nicht apothekenpflichtigen Brüder Wodka und Tequila wurden von da an seine Schmerzmittel. Aber ein Heilmittel hatte er nie gefunden. Pauls Schreie nach seiner Mutter hatten sich erst nach Wochen wieder gegeben. Lärm machte Paul danach nur noch, wenn er seinen gewohnten Tagesablauf ändern musste. Ein paar Wochen nach Annas Tod waren Martin und Paul zu Martins Vater Karl gezogen. Das Zusammenleben in einem Haus hatte in Paul und Martins Fall viele Vorteile. Unter anderem benutzte Martin die Garage als Werkstatt und Paul hatte akzeptiert, dass ihn außer Martin auch Karl Waller, Martins Vater von der Spezialschule, in die er seit einem halben Jahr ging, abholte. Für die Zeit, in der er im Hotel arbeiten musste, hatte Martin Paul nun zum ersten Mal und schweren Herzens ganz seinem Vater überlassen.

Zurbriggen rutschte unangenehm betroffen auf dem Stuhl herum. Offensichtlich war ihm seine ganze Fragerei jetzt peinlich. Zumindest tat er so.

»Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen das Hotel zeige? Bei der Gelegenheit kann ich Ihnen auch gleich die Möbel zeigen, die meines Erachtens dringend eine kleine Auffrischung bräuchten«, sagte er.