12

 

Ein Klopfen an der Tür ließ Martin hochfahren. Er hatte mit leerem Blick vor dem Notebook gesessen und darauf gewartet, dass Ram sich meldete. Doch das war bisher nicht geschehen. Wie in Trance ging er zur Tür und öffnete.

»Hallo.« Es war Selma. »Dachte, ich schaue mal, wo du bleibst. In ein paar Minuten gibt es was Leckeres zu essen und nichts ärgert Hans mehr, als wenn jemand zu spät kommt.«

»Kann ich verstehen«, entgegnete er geistesabwesend.

»Sag mal, wie siehst du denn aus? Du bist ja kreidebleich, als hättest du ein Gespenst gesehen.«

Er konnte ihr unmöglich sagen, dass sie damit den Nagel fast auf den Kopf getroffen hatte. Es war mehr als unheimlich, plötzlich E-Mails von seiner totgeglaubten Ehefrau zu bekommen.

»Das muss die anstrengende Fahrt hierher gewesen sein. Ich fühle mich ziemlich matt.«

»Na komm, vielleicht hast du auch einfach nur Hunger.«

Martin folgte ihr nach unten in den Speisesaal und beschloss insgeheim, in dieser Nacht noch nicht mit seiner Arbeit an den Möbeln zu beginnen. Er würde nachher Ram anrufen. In seinem Kopf drehte sich nur noch alles um die eine Frage, was hinter diesen merkwürdigen E-Mails steckte. War Anna noch am Leben? Wie sollte das möglich sein? Er dachte an Zeugenschutzprogramme oder eine seltene Krankheit, wodurch die gezwungen gewesen sein könnte, ihre Familie zu verlassen. Aber wer hätte dann an ihrer Stelle in dem Sarg gelegen? Und warum schrieb sie ihm ausgerechnet jetzt diese seltsamen E-Mails, in denen sie es als ihre Aufgabe verkündete, Menschen für ihre Sünden büßen zu lassen.

Als sie ins Restaurant kamen, saßen bereits vier Personen um den runden Tisch, über dem ein prunkvoller Kronleuchter hing. Der Hoteldirektor Walter Zurbriggen, Eugen Bumann von der Rezeption sowie ein Mann Anfang sechzig mit grauem Vollbart und dunklen Haaren und eine Dame, die Martin mindestens ebenso alt schätzte wie den Mann. Die Frau war vollkommen schwarz gekleidet und hatte graue lange Haare, die sie zu einem Zopf zusammengebunden hatte. In der rechten Hand hielt sie einen Stock, der ihr als Gehhilfe diente. Ihre Augenfarbe war fast schwarz und ihr Blick war hart. Zurbriggen bat Selma und Martin, Platz zu nehmen.

»Darf ich vorstellen, die Eigentümerin dieses Hotels, Marianne Seewald«, sagte Zurbriggen und machte eine ausladende Handbewegung in Richtung der älteren Frau. »Und das ist unser Hausmeister«, Zurbriggen nickte in Richtung des Mannes mit dem Vollbart, »Ernst Söder. Frau Seewald ist noch hier, um den Beginn der morgigen Bauarbeiten zu verfolgen. Frau Seewald, Herr Söder«, Zurbriggen wies jetzt auf Martin, »das ist Herr Waller. Er wird unsere antiken Möbel mit der gebotenen Vorsicht restaurieren.«

Marianne Seewald schenkte Martin ein schmales Lächeln, sagte aber nichts. Eugen Bumann stand auf und schenkte rundum Weißwein in die Gläser. Als er bei Martin ankam, lehnte dieser dankend ab und beugte sich über den Tisch, um sich bei dem Wasser zu bedienen. Söder versuchte, die Situation etwas aufzulockern.

»Damit sind die Deutschen an diesem Tisch mit vier zu drei in der Überzahl.«

Zurbriggen zog die Augenbrauen hoch, rieb sich seinen dicken Schnurrbart, der ihm Ähnlichkeit mit einem Walross verlieh, und tat so, als müsse er überlegen. Dann blickte er den Hausmeister mit gespieltem Erstaunen an.

»Söder, Sie haben Recht. Wenn mir das vorher aufgefallen wäre, hätte ich Selmas Vorschlag, Herrn Waller als Restaurator zu beauftragen mit Sicherheit abgelehnt.«

Zurbriggen lachte lauthals los. Er dachte, er hätte einen guten Witz gemacht. Söder stimmte mit ein. Selma, Martin und Marianne zeigten ein höfliches Lächeln.

Alle waren froh, als endlich Hans Meier mit zwei silbernen Tabletts durch die Schwingtür der Küche fegte. Er stellte die Tabletts in die Mitte des Tisches und hob gleichzeitig die beiden Deckel ab. Auf einem Tablett lag aufgeschnittene Entenbrust und auf dem anderen Gemüsebeilagen. Der Duft des Fleisches schoss Martin in die Nase. Er hatte seit dem frühen Morgen keinen Bissen mehr zu sich genommen und dennoch war sein Magen wie zugeschnürt. So schnell, wie Meier an den Tisch gekommen war, war er auch schon wieder verschwunden. Binnen Sekunden kam er mit einer großen Schüssel Rosmarinkartoffeln aus der Küche zurück. Er stellte sich vor seinen Stuhl und hob sein Glas. »Entenbrust nach Art des Hauses, dazu Gemüseallerlei mit Rosmarinkartoffeln, bitte greifen Sie zu und lassen Sie es sich schmecken.«

Während die anderen beherzt zugriffen und sich das Essen auf die Teller schaufelten, bemerkte Martin, wie er mehr und mehr in seiner Gedankenwelt versank. Was tat er hier, unter diesen Menschen, die er nicht kannte? Heute war Annas Todestag. Er sollte an ihrem Grab sein, er sollte bei seinem Jungen sein. Eine tiefe Traurigkeit überkam ihn, als er wieder vor sich sah, wie er Anna kennen gelernt hatte. Es war, als ob es gestern gewesen wäre.

Es war vor Weihnachten und in der Studentenkneipe stieg eine Nikolausfete. Anna war in Begleitung einer Freundin, die wie Martin Jura studierte und die er kannte. Es war leicht gewesen mit Anna ins Gespräch zu kommen und die Sympathie beruhte auf Gegenseitigkeit.

Er war damals fünfundzwanzig im letzten Semester und Anna war einundzwanzig. Ihr magisches Lächeln und die pure Lebensfreude ausstrahlenden Augen hatten es ihm sofort angetan. Sie hatten am Ende des Abends ihre Telefonnummern ausgetauscht. Eine Woche später hatten sie ein Date und von da an waren sie zusammen. Während Anna ihr Studium in Kunstgeschichte und Germanistik absolvierte, begab sich Martin in das juristische Referendariat und fing nach seinem zweiten Staatsexamen, das er wie das Erste mit Prädikat schaffte, in einer renommierten Kanzlei für Straf- und Steuerrecht an.

Er erinnerte sich noch daran, wie er sich bei einem ihrer ersten Verabredungen darüber amüsiert hatte, dass sie Kunstgeschichte studierte. Wie willst du denn damit Geld verdienen, hatte er gescherzt. Vielleicht will ich ja gar kein Geld damit verdienen. Vielleicht studiere ich es ja nur, weil es mir Spaß macht, hatte Anna keck gekontert. Nach ihrem Studium hatte sie dann entgegen seiner Vermutung einen tollen Job bekommen, den sie liebte. Sie wurde die Assistentin des Marketingleiters einer Bio-Supermarktkette. Eigentlich hatte sie nicht die Ausbildung dafür, aber Anna hatte eben diese Ausstrahlung, der niemand widerstehen konnte.

Nachdem Martin zwei Jahre in der Kanzlei gearbeitet und sich einen guten Ruf als Strafverteidiger erworben hatte, machte er sich mit einem früheren Kommilitonen in einer eigenen Sozietät selbständig. Zwei weitere glückliche Jahre vergingen. Und dann kam mit seiner Aussage vor Gericht nicht nur das vorzeitige Aus für seine Anwaltskarriere, sondern auch Annas Niedergang. Nochmal vier Jahre später beschloss Anna an einem grauen verregneten Morgen im November, sich das Leben zu nehmen. Sie wurde nur einunddreißig Jahre alt.

Nicht jeder beging das Leben auf einem geraden Weg ohne Holpersteine. Martin kam sich vor, als habe sein Weg ihn zu einer unendlich tiefen Schlucht geführt. Es war so abrupt geschehen, dass er ins Leere getreten und hinab gestürzt war. Seinem Gefühl nach dauerte der Sturz immer noch an.

Annas Tod war auch der Grund gewesen, warum er zu Dr. Hörschler gegangen war. Hörschler war Psychotherapeut. Er hatte einen guten Ruf. Ironie des Schicksals. Eigentlich hätte Anna zu Hörschler in die Behandlung gehen sollen. Aber sie hatte sich geweigert und dann war es zu spät gewesen.

Seine Panik vor Schnee und die leichte Klaustrophobie hatte Dr. Hörschler nur nebenbei festgestellt. Die Gründe, warum er Dr. Hörschler eigentlich aufgesucht hatte, waren seine Trauer und seine Alkoholsucht. Das eine bedingte das andere und mit beidem wurde er nicht mehr allein fertig. Um das einzusehen, hatte er ein ganzes Jahr gebraucht.

»Ich finde, das Hotel hat etwas Unheimliches, wenn es so still und leer ist«, sagte Bumann, während er sich von den Kartoffeln auftat.

Martin schrak auf. Er war wieder da und zu seiner Verwunderung, war noch nicht sehr viel Zeit vergangen. Außer Selma schien niemand bemerkt zu haben, dass er nicht bei der Sache gewesen war.

»Haben Sie den Film Shining gesehen?«, fragte Selma in die gerade eingetretene Stille.

»Allerdings«, sagte Zurbriggen. »Aber Jack Nicholson war in dem Hotel mit seiner Familie allein und außerdem hat es dort wahrhaft gespuckt.«

»Der Wahnsinn kann jederzeit und überall von einem Besitz ergreifen. Es kommt nur auf die Umstände an«, sagte Marianne.

Sie hatte eine unglaublich tiefe Stimme. Gleichzeitig war es das Erste und das Letzte, was sie an diesem Abend bei Tisch von sich gab. Wie immer, wenn Leute die zusammensitzen, sich nicht besonders gut kennen, wurde über die Arbeit, Sport und das Wetter geredet. So auch bei diesem Essen. Der Wetterbericht hatte laut Söder starken Wind und Temperaturen von bis zu minus drei Grad vorhergesagt. Hin und wieder bestätigte sich das, wenn sie den Wind gegen die Glasscheiben prallen hörten und die Schneeverwirbelungen im Licht der Außenstrahler sahen. Eine Stunde später hatten sie auch das Eis, das es zum Nachtisch gab, verspeist.

Zurbriggen unterhielt jetzt seine Gäste mit derben Witzen und Geschichten aus der Baubranche, denn wie er jetzt nach drei Gläsern Wein offenherzig ausplauderte, war er in früheren Jahren selbst Bauunternehmer gewesen. Handwerker könnten ihm daher nichts vormachen.