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Martin setzte sich auf eine Holzbank, die an der rechten Wand des Schuppens stand. Die Draisine stand vor ihm auf dem Abstellgleis. Doch das nutzte ihm nichts. Jemand hatte die beiden Vorderräder abmontiert. Das Gefährt war völlig nutzlos. Deprimiert schaute er auf die beiden hinteren Räder. Und dann wusste er es plötzlich. Er wusste, wo er eines der fehlenden Räder, die wie verrostete Stahlfelgen eines Autos aussahen, schon einmal gesehen hatte. Es lag im Hotelflur der ersten Etage. Er hatte es gesehen, als er in sein Zimmer gegangen war, um zu überprüfen, ob Marianne Seewald alias Rita Mattfeld sich mit seinen Schlaftabletten das Leben genommen hatte. Kaltenbach hatte also mit einem Vorderrad der Draisine das Fenster eingeworfen. Doch was brachte ihm diese Erkenntnis? Sollte er ins Hotel zurück humpeln und das Rad holen. Er glaubte nicht, dass er das, ohne aufzufallen schaffen konnte und selbst wenn, dann fehlte immer noch eines der Räder.
Er hatte nun noch mehr das Gefühl, das alle Mühe vergebens gewesen war. Kaltenbach hatte die Räder abmontiert, um eine Flucht zu verhindern und er hatte sein Ziel erreicht.
Martin war plötzlich so müde, dass er auf der Stelle hätte einschlafen können. Er wollte nur noch die Augen schließen und für immer auf dieser Bank verweilen. Mit einem Mal rief er sich zur Vernunft. Wenn er einschlief, würde er erfrieren und Paul wäre Vollwaise, wenn er das Glück hatte und Kaltenbach den Jungen am Leben ließ. Mühsam kämpfte Martin sich auf die Beine. Das lädierte Knie quittierte es mit einem stechenden Schmerz, der ihm die Tränen in die Augen trieb. Der gebrochene Arm pochte unter der Skijacke und strahlte einen dumpfen bohrenden Schmerz über die Schulter in die gesamte linke Körperhälfte aus. Er war am Ende seiner Möglichkeiten angekommen. Er musste zurück ins Hotel. Schwerfällig schlurfte er, das rechte Bein, das sich nicht mehr krümmen ließ, nachziehend, wieder hinaus in den nachlassenden Sturm. Sein Blick fiel kurz in das Tal unter ihm und blieb an einem Punkt hängen. Er konnte das Gebäude nur schwach in Konturen erkennen. Aber da war ein Licht. Plötzlich kehrte ein wenig Hoffnung zurück und speiste seine Lebensgeister. Vielleicht gab es doch noch einen anderen Ausweg.
Das Licht ging von der Seilbahnstation aus, die sich knapp vierhundert Meter unterhalb der Bahnstation befand. Sie war ihm schon beim Hochfahren mit der Bahn aufgefallen, da die Station nur etwa zweihundert Meter neben der Bahntrasse gelegen war. Die Transportkabine hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, weil sie ungewöhnlicherweise auf zwei dicken Stahlseilen ruhte und nicht wie üblich an einem Seil hing. Die längliche, überdimensionierte Kabine sah aus wie ein Weltraumshuttle aus einem science-fiction Film, und nicht wie eine Gondel, die Skifahrer auf eine Skipiste brachte. Martin blickte nun angestrengter in die Tiefe. Warum hatte er nicht schon früher daran gedacht? Die Seilbahn war geschlossen, daran bestand kein Zweifel und niemand war da, aber vielleicht, nein sogar sehr wahrscheinlich, gab es in diesem modernen Gebäude ein Telefon. Allein schon für Notfälle mussten sie ein Telefon haben. Das war die Rettung. Um dort hinunterzukommen, musste Martin die Bahngleise überqueren und dann ging es auf einem weißen Teppich auf ungesichertem Gelände steil bergab. Es würde nicht leicht werden, aber er konnte es schaffen. Er spürte, wie seine Kräfte wiederkamen. Wenn ihm vor wenigen Stunden jemand gesagt hätte, dass er inmitten dieser Schneemassen, allein unterwegs sein würde, er hätte denjenigen für verrückt erklärt. Und jetzt machte es ihm zu seiner Verwunderung kaum noch etwas aus, dass er bis zu den Knien im Schnee versank. Mit jedem Meter, den er zurücklegte, wurde es besser. Dr. Hörschler hatte vollkommen richtig gelegen. Man muss sich seinen Ängsten stellen. Wäre die Situation nicht so gefährlich gewesen und hätte er nicht bei jedem Schritt vor Schmerzen auf die Zähne beißen müssen, hätte er sich ehrlich über seine Fortschritte gefreut.
Als Martin die Bahngleise überquert hatte, lag nur noch der steile Abhang vor ihm. Hier lag der Schnee am Höchsten. Bevor er den ersten Schritt ins Ungewisse machte, blickte Martin noch einmal zurück zum Hotel. Er wollte sich schon wieder umdrehen und losmarschieren, als er etwas Ungewöhnliches wahrnahm. Eine Bewegung, ein dunkler Schatten, der sich im Dickicht des Schneetreibens abzeichnete. Dann formte sich der Schatten zu einer Person. Dem Gang nach ein Mann, der den Berg hinunter lief, genau in seine Richtung. Martin stockte der Atem. Er sah nach unten. Verdammt es war zu weit. Mit zwei gesunden Beinen und Armen hätte er es vielleicht geschafft. Er drehte sich wieder um und fand seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Jetzt konnte er klar erkennen, wer da auf ihn zu kam. Es war Eddie Kaltenbach und der Abstand betrug keine hundert Meter mehr.
Martin dachte an nichts mehr. Panik erfasste ihn. Der Instinkt, dem er folgte, hieß Flucht. Er humpelte los, so schnell er mit seinem lädierten Bein und nur einem gesunden Arm konnte. Dabei kam er sich so verloren vor wie ein Vogel mit einem gebrochenen Flügel umringt von einer Schar hungriger Straßenkatzen. Die Schneedecke war locker und tief. Bei jedem Schritt sackte er fast bis zu den Knien ein. Eddie war jetzt nur noch knapp vierzig Meter hinter ihm. Er hatte nun ebenfalls den tiefen Schnee hinter den Gleisen erreicht und kam etwas langsamer voran, wenn auch immer noch doppelt so schnell wie Martin. Es war ein ungleiches Rennen. Eddie holte mit jedem Schritt weiter auf. Noch dreißig Meter lagen zwischen den beiden Männern.
Martin hätte nicht geglaubt, dass die Angst vor dem unmittelbar bevorstehenden Tod so stark ist, dass sie selbst seine Schmerzen verdrängte und auch, die ihm jetzt völlig lächerlich erscheinende Angst vor dem Schnee. Dabei dachte er überhaupt nicht an sich. Er dachte an Paul und wurde ein wenig schneller. Aber letztlich war ihm völlig bewusst, dass er nicht die geringste Chance hatte zu entkommen. Bis zur Seilbahnstation waren es immer noch gut hundert Meter. Doch noch etwas anderes wurde Martin auf einmal klar. Der Mann hinter ihm hatte eine Pistole in der Hand. Der Abstand zwischen ihnen betrug jetzt nur noch zwanzig Meter. Kaltenbach hätte ihn mühelos aufs Korn nehmen und abknallen können. Aber das tat er nicht. Warum? Martins Kraft neigte sich jetzt dem Ende zu. Die Schmerzen an dem gebrochenen Arm wurden nahezu unerträglich. Und das rechte Bein mit dem zerschundenen Knie wollte sein Gewicht nicht mehr tragen. Wenn Eddie ihn nicht sofort töten wollte, konnte er genauso gut jetzt stehen bleiben. Und genau das tat Martin in diesem Moment.