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Raphael beeilte sich nicht besonders, als er die Stufen emporstieg. Plötzlich wurde ihm schwindlig.

»Bleib wo du bist!«, zischte er.

Vor der Tür zur ersten Etage setzte er sich auf eine Treppenstufe und presste seinen Kopf mit beiden Händen zusammen. Doch er konnte es nicht verhindern. Seine Identität löste sich in Luft auf. Eddie kam zurück und das fühlte sich elend an.

Eddie wollte selbst nicht in die Welt der emotionalen Schmerzen zurück, nicht in die Welt, in der er Trauer über den Mord an seiner Frau verspürte. Aber nun war er da. Er betrachtete die Pistole in seiner Hand. Für einen Moment war er verwirrt. Seitdem ihn jemand mit einem Elektroschocker niedergestreckt hatte, war Raphael am Zug gewesen. Er hatte diesen überheblichen Kerl unten im Büro des Direktors umgelegt. Der Mann hatte es so gewollt. Eddie hatte wie Raphael keinen Ahnung, wer der Mann gewesen war, aber der hatte ihn gekannt. Er hatte ihn Bestie genannt. Diesen Namen kannten nur Insider. Verrückt, alles hier war verrückt. Auch er war verrückt. In lichten Momenten wie diesen, war ihm das durchaus bewusst. Aber eines war nicht verrückt, seine Rache. Wenn er die bekam, war ihm egal, was mit ihm geschah. Lebenslange Sicherungsverwahrung oder der finale Todesschuss durch einen übermotivierten Polizeibeamten. Wenn er die Wahl haben würde, würde er die zweite Option bevorzugen. Dann wurde ihm klar, dass Raphael nicht wählen würde. Sein Schicksal war besiegelt, sobald er mit der Polizei konfrontiert sein würde. Raphael war keiner, der über die Konsequenzen nachdachte. Er würde die Waffe nicht auf den Boden legen und die Hände heben, nur weil ein Polizist ihn dazu aufforderte. Raphael würde einfach schießen und versuchen, so viele von den anderen zu erledigen, bevor sie ihn erledigten. Eddie musste schmunzeln, als er es sich vorstellte. Damit würden sie nicht rechnen.

Er stand von der Treppe auf. Waller war nach oben gerannt. Das spürte er. Raphael war ihm dicht auf den Fersen gewesen. Die Fahrstuhltüren hatte er im Erdgeschoss mit einem Blumenständer blockiert. Der einzige Weg nach unten führte über diese Treppe. Er hatte jetzt einfach das bessere Blatt auf der Hand. Kurz schaute er unentschlossen auf die Tür zum ersten Stock. Nein, er glaubte nicht, dass Waller in diese Etage geflüchtet war. Sein Blick glitt an den Stufen der Treppe empor. Waller war da oben, im zweiten oder dritten Stockwerk. Er fühlte es förmlich. Aber Glauben war das Eine, Wissen das Andere.

Er dachte kurz an seinen Bruder, den er heute Vormittag erschossen hatte. Die verfremdete Stimme am Telefon hatte ihn dazu gezwungen. Plötzlich schoss ihm eine Frage in den Kopf, auf die er keine Antwort hatte. Wie hatte Waller das gemacht? Er musste irgendwo in der Nähe der Wohnung seines Bruders gewesen sein. Die Stimme hatte gesagt, wenn er seinen Bruder nicht tötete, würde sie es tun. Er hatte vermutet, dass die Stimme einen gezielten Schuss von einem der Fenster auf der anderen Straßenseite abgeben würde. Kurz darauf hatte die Stimme, Waller, Sarah ermordet, obwohl er getan hatte, was man von ihm verlangt hatte. Doch wie konnte das sein? Wie konnte Waller mit einem Präzisionsgewehr hinter einem Fenster in Frankfurt auf seinen Bruder zielen und gleichzeitig Sarah in ihrem Haus bei Stuttgart erschießen. Die Lösung war ganz einfach. Es musste mehrere Täter geben. Wenn es einen Komplizen gab, würde er oder Raphael es aus Waller herausbekommen. Er dachte kurz darüber nach, wie Raphael Waller vor seinem Dahinscheiden quälen würde. Die Fingernägel mit einer Zange ausreißen, gefiel ihm am besten. Der Schmerz war stark, aber nicht so intensiv, dass man dadurch zwingend das Bewusstsein verlieren musste. Danach kam die Kneifzange. Eine Fingerkuppe nach der anderen würde Raphael Waller damit abschneiden. Töten würde er ihn schließlich mit der Drahtschlinge. Aber nicht schnell. Er würde ihn ein paar Mal wieder zu Bewusstsein kommen lassen, bevor er ihm endgültig die Luft abdrehte. Eine weitere Frage drängte sich ihm plötzlich auf. Wer zum Teufel hatte ihn vor dem Hotel mit einem Elektroschocker erledigt, so dass er das Bewusstsein verloren hatte? Und warum hatte dieser Jemand ihn dem Schnee und der Kälte überlassen, ihn aber nicht gleich getötet? Es könnte Waller gewesen sein. Das würde aber bedeuten, dass der Kerl genauso verrückt war, wie er. Denn nur so ließe sich erklären, dass er ihn am Leben gelassen hatte. Es sei denn, jemand wollte ein Spiel mit ihm spielen und hatte dabei übersehen, dass ein völlig durchgeknallter Psychopath wie er, kein guter Kandidat dafür war. Eddies Mund krümmte sich zu einem schmalen Lächeln. Dumpf hörte er wieder die Musik der Bloodhound Gang in seinem Kopf. Oder war es der ominöse Helfer Wallers gewesen, der ihn draußen niedergestreckt hatte? Die Musik in seinem Kopf wurde lauter. Die Kälte kroch wieder heran. Sie brachte das ersehnte Gefühl der Leichtigkeit zurück. Eddie quittierte es mit einem befreienden Seufzer. Er wollte nicht mehr nachdenken. Sein Unterbewusstsein schien diesen Wunsch zu hören, denn es schickte ihm Hilfe aus dem schwarzen Tümpel seiner Seele. Raphael, die Bestie, war auf dem Weg an die Oberfläche. So kündigte es sich immer an, wenn der andere in ihm zum Vorschein kam. Eddie hatte gelernt, darauf zu hören.

Wenige Sekunden später kramte Raphael in der Brusttasche seines Hemdes und zog den zerknitterten Zeitungsausschnitt hervor. Die Todesanzeige von Wallers Frau. Waller hatte sie neben der Leiche von Eddies Frau für ihn zurückgelassen. Es war eine unmissverständliche Botschaft gewesen. Waller hatte ihn herausgefordert, zu einem letzten Gefecht, bei dem einer von beiden die Arena im Leichensack verlassen würde. Die Bassgitarre der Bloodhounds dröhnte mittlerweile in seinem Schädel. Aber warum? Waller hatte seine Frau genau heute vor drei Jahren verloren, das ergab sich aus der Todesanzeige. Und nun zahlte Waller es Eddie am Todestag seiner Frau mit gleicher Münze heim? Diese Theorie ließ sich hören. Es gab weitere Parallelen. Waller hatte Eddie mit verfremdeter Stimme angerufen und unter Druck gesetzt, ganz so, wie es damals beim Prozessauftakt gegen Eddie dessen Bruder Udo mit Waller getan hatte. Das passte. Aber das Motiv lag völlig im Dunkeln. Eddie hatte doch nichts mit dem Tod von Wallers Frau zu tun. Udo sein Bruder hatte diese gekidnappt und bedroht, damit Waller seine Aussage gegen Eddie vor Gericht revidierte. Das war Udos Weg gewesen seinen Bruder rauszuboxen, wie er es heute Morgen, als er Eddie anrief, formuliert hatte.

Nach dem Freispruch und der vorhergehenden Untersuchungshaft, in der Eddie begonnen hatte, die Medikamente zu nehmen, wollte er nicht mehr länger der Laufbursche seines Bruders sein. Eddie hatte auch die Therapiesitzungen regelmäßig weiter besucht. Er hatte endlich erkannt, dass sein Bruder seine psychische Krankheit über all die Jahre für seine Zwecke ausgenutzt hatte. Die Ärzte hatten ihm auch verboten, jemals wieder mit seinem Bruder in Kontakt zu treten und ihm deshalb auch eine räumliche Trennung empfohlen. Er war nach Stuttgart gezogen und hatte dort ein halbes Jahr später den Job als Nachtwächter in der Spedition bekommen. Auf einem Betriebsfest hatte er dann seine Frau kennen gelernt.

Ein paar Jahre hatten sie ein stinknormales Leben geführt. Damit war es seit heute Mittag, nachdem jemand sich die Freiheit genommen hatte, Eddies Frau, die für nichts etwas konnte, einfach zu erschießen, vorbei. Raphaels Augen blieben schwarz und kalt, als er das Bild, wie Sarah mit dem Loch im Kopf und all dem Blut auf dem Bettlaken lag, vor Augen hatte. Jetzt war es an der Zeit, endlich wieder auf die Jagd zu gehen. Ein schrilles Juhu schallte aus seinem Mund und das Treppenhaus verstärkte es wie ein monströser Lautsprecher.