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Um 7.30 fuhr der Zug in Zermatt ein. Karl Waller zog die Augenbrauen zusammen und blickte Ram fragend an, als der ihn und Paul in übertriebener Eile zum Verlassen des Zuges aufforderte. Als sie das Bahngleis hinter sich gelassen hatten und ins Freie traten, fegte ihnen ein starker Wind entgegen. Die Temperaturen, die noch vor kurzem um den Gefrierpunkt gelegen hatten, waren jetzt wieder deutlich unter null Grad abgesunken, und es hatte aufgehört zu schneien. Die Talstation der Gornergratbahn, an deren Endpunkt in über dreitausend Metern Höhe sich das Hotel Himmelwärts befand, lag nur fünfzig Meter vom Zermatter Bahnhof entfernt. Um dorthin zu gelangen, brauchten sie nur die Hauptstraße von Zermatt zu überqueren, die um diese Uhrzeit noch völlig menschenleer war. Schon von weitem konnte Ram auf der elektronischen Anzeigetafel über der Tür der Talstation eine durchlaufende Information erkennen, die ihm ganz und gar nicht gefiel. Nächste Abfahrt Gornergratbahn um 8.30 Uhr.

Ram fluchte innerlich. Jetzt waren sie so nah am Ziel und dann fuhr diese Bahn in der Nebensaison eine Stunde später, als in der Hauptsaison. Sie gingen hinüber zu der vollständig verglasten Bahnstation, hinter deren Glasscheiben Plakate und Landschaftskarten angebracht waren. Ram faltete fassungslos die Hände vor dem Glas und blickte ins Innere. Er sah mehrere Schalter. Sie waren nicht besetzt und es brannte nur die dürftige Nachtbeleuchtung.

Ram wurde immer unruhiger. Er hatte das bestimmte Gefühl, auf keinen Fall so lange warten zu können. Er blickte sich um und sah in der Nähe einer Baustelle hinter dem Bahnhof etwas, das ihm Hoffnung machte. Er lief seitlich an der Bahnstation vorbei und betrachtete sich die Gleise, die nach einigen Metern bereits steil anstiegen. Es waren zwei Gleise. Ihr Abstand voneinander betrug gut einen Meter. Die Gleise selbst und der Raum dazwischen war nur leicht mit Neuschnee bedeckt. Der grobe Schotter ragte hier und da unter der Schneedecke heraus.

Ram rannte zurück zu Paul und Karl, der ihn wieder mit einem fragenden Blick, nach dem Motto, was das Ganze denn sollte, ansah.

»Ich will zu meinem Papa«, jammerte Paul.

Karl blickte sich Hilfe suchend um.

»Wir sollten uns ein Café suchen und dort warten bis der Zug hinauffährt«, sagte er.

Ram überlegte kurz, ob er seine Informationen mit Karl teilen sollte. Dass der angebliche Freund, der nach Waller gefragt hatte, in Wirklichkeit ein durchgeknallter Psychopath war, der zuerst seinen Bruder und seine Frau erschossen hat und es jetzt vielleicht auf seinen Sohn Martin abgesehen hatte. Sollte er ihm sagen, dass außerdem da oben in dem Hotel die ehemalige Königin der Frankfurter Unterwelt die Chefin spielte, und dass das alles irgendwie mit Waller und dem Strafprozess vor sieben Jahren zusammenhing. Abgesehen davon, dass die Zeit für Erklärungen zu knapp war, hätte Karl ihm wahrscheinlich nicht geglaubt oder er hätte ihn für übergeschnappt gehalten. Und wenn Karl ihm doch geglaubt hätte, dann hätte er wie jeder normale Mensch darauf bestanden, die Polizei zu informieren, was wiederum nur Zeit gekostet hätte. Ram versuchte, die Situation logisch zu erfassen.

In einer Stunde fuhr die Zahnradbahn mit den ersten Touristen diesen Berg hinauf. Das bedeutete, was immer Kaltenbach oder sonst wer dort oben mit Waller vorhatte, es musste zu Ende gebracht sein, bevor die erste Bahn kam. Denn niemand konnte daran interessiert sein, von einer Schar Japaner mit umhängender Fotokamera bei der Ausführung eines Verbrechens oder einer sonstigen Schweinerei abgelichtet zu werden.

Nein, er brauchte Karl nicht zu beunruhigen. Karl würde in einer Stunde mit einigen anderen Menschen mit der Bahn nach oben fahren. Wenn bis dahin etwas Verbotenes dort oben geschehen war, würde es spätestens dann auffallen. Jemand würde die Polizei benachrichtigen. Aber er, Ram, würde es nicht tun.

»Ich fahre jetzt nach oben«, sagte Ram und zeigte auf das neben der Baustelle in einer Nische abgestellte Motorrad. Es war eine Geländemaschine von Yamaha. Damit kannte sich Ram bestens aus. »Ich nehme das Motorrad.«

Karl sah ihn ungläubig an. »Aber warum? Wir können doch genauso gut warten, bis die Bahn fährt. Eine Stunde geht doch schnell vorbei.«

»Ich habe jetzt keine Zeit für Erklärungen. Wir sehen uns in einer Stunde oben«, sagte Ram und wollte sich umdrehen und zu dem Motorrad laufen.

In diesem Moment fing Paul an, zu schreien, und zu weinen. Er riss sich von Karls Hand los und warf sich auf den mit Schnee überzogenen Gehweg. Karl bückte sich sofort und versuchte, den Jungen aufzuheben. Aber der wehrte sich mit Händen und Füßen.

»Wir fahren ja gleich zu deinem Papa«, sagte Karl immer wieder. Aber es nutzte nichts. Dann zu Ram gewandt:

»Du kannst nicht einfach das Motorrad nehmen, das ist Diebstahl oder Unterschlagung oder was weiß ich. Jedenfalls ist es strafbar. Außerdem ist es viel zu gefährlich.«

Er hievte Paul auf die Füße und der Junge blieb auch stehen. Allerdings trampelte er jetzt wie wild mit den kleinen Stiefeln auf dem Asphalt und weinte, als habe er sich gerade schlimm verletzt.

»Das geht schon klar«, sagte Ram nur und sah, dass hinter einigen Scheiben des Hotels gegenüber aufgrund von Pauls Geschrei das Licht angeschaltet wurde. Er musste jetzt weg, bevor noch jemand hinauskam. Dann könnte er das Motorrad vergessen. Er hatte sich kurz gefragt, warum hier überhaupt ein Motorrad stand, wo doch nur Elektroautos zugelassen waren. Aber daneben stand noch ein dieselbetriebenes Baustellenfahrzeug. Es gab also Ausnahmen.

Er drehte sich um und lief hinüber zu der Yamaha. Er riss die Plastikverkleidung unter der Armatur weg und fingerte die beiden Kabel heraus, mit denen er die Maschine kurzschließen konnte. Darin war er geübt. In seiner Jugend hatte er unzählige solcher Maschinen geknackt. Die Schweiz war ein sicheres Land. Nur so ließ es sich erklären, dass derjenige, der die Maschine hier abgestellt hatte, weder das Lenkradschloss hatte einrasten lassen, noch eine sonstige Wegfahrsperre benutzt hatte. Beiläufig nahm er wahr, dass Paul aufgehört hatte, zu schreien.

Er hatte gerade die beiden Kabel miteinander verbunden, als ihm jemand auf die Schulter tippte. Noch bevor er sich umdrehte, wusste er, was los war. Paul hatte aus einem ganz bestimmten Grund mit dem Gebrüll aufgehört.

»Wenn du schon fährst, kannst du ihn genauso gut mitnehmen. Der Junge dreht mir nämlich hier sonst noch durch.«

Ram wusste von Waller, dass sie Paul schon ins Krankenhaus bringen mussten, weil er vor Schreien und Weinen vergessen hatte, zu atmen und das Bewusstsein verloren hatte. Seitdem versuchten sie alles, um zu verhindern, dass es wieder so weit kam. In dem Fall hatte Karl Paul wohl gesagt, er könne mit Ram zu seinem Vater fahren, um seinen Anfall zu stoppen. Das hatte funktioniert.

Ram schwang sich auf das Motorrad und trat den Kickstarter durch. Die Maschine heulte auf.

»Es ist zu gefährlich mit ihm da rauf zu fahren«, schrie Ram.

»Ich denke, du weißt, was du tust«, entgegnete Karl und setzte Paul auf den Sitz hinter Ram. Dann zog er seinen Gürtel aus der Hose und schlang ihn um Ram und Paul.

»Halt stehen bleiben!« Ein Bauarbeiter, ein junger Kerl mit Schippenkappe und Anorak über dem Blaumann tauchte plötzlich wie aus dem Nichts auf und wedelte mit den Armen. Offensichtlich gehörte das Motorrad ihm.

Jetzt blieb keine Zeit mehr für Diskussionen. Ram nickte Karl noch einmal zu. Paul klammerte sich mit beiden Armen an ihm fest. Dann gab Ram Gas, fuhr zwischen die Gleise, beschleunigte und schoss den Berg hinauf. Wenn es zu steil oder zu gefährlich für den Jungen werden würde, würde er die Fahrt abbrechen.