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Die Rückfahrt von Frankfurt schaffte Eddie in einer Stunde und dreißig Minuten. Er hatte mit seiner Frau vor zwei Jahren ein kleines Haus, vierzig Kilometer von Stuttgart entfernt, gekauft. Es war klein und verfallen gewesen, aber es hatte ein großes Grundstück und war freistehend. Die Sanierung hatte er fast im Alleingang bewältigt und jetzt mit neuem fliederfarbenem Anstrich auf dem alten Putz, sah es von außen freundlich und fast wie neu aus.
Er machte eine Vollbremsung auf dem Bordstein vor dem Haus, sprang aus dem Wagen und rannte die fünf Treppenstufen zur Haustür hinauf. Hastig sperrte er die Tür auf und trat ins Innere. Alles war still. Fast erwartete er, dass seine Frau im nächsten Moment aus der Küche kam und ihn mit einem Kuss und einer Umarmung begrüßte. Doch das tat sie nicht. Er blickte sich um. Alles war aufgeräumt. An der Garderobe hingen die Jacken. Die Schuhe standen daneben. Auf der Kommode stand ein frischer Strauß Blumen. Er rief ihren Namen. Es kam keine Antwort. Das mulmige Gefühl in seinem Magen nahm zu. Sarah konnte gefesselt und geknebelt sein oder sie war ganz woanders gefangen, dachte er, als er die paar Schritte durch den Flur in die Küche rannte. Von dort aus hatte er einen freien Blick in das Wohn- und Esszimmer. Doch auch hier war sie nicht.
Ohne weiter nachzudenken, lief er nach oben. Plötzlich wusste er, wo sie war. Er stieß die Schlafzimmertür auf und im gleichen Augenblick sah er sie. Sie lag auf dem Bett. Ihre Beine waren am unteren Ende, Ihre Arme am oberen Ende des Bettes gefesselt. Sie war vollständig bekleidet und ihre Augen sahen ihn vorwurfsvoll an. Alles war in Ordnung bis auf die Tatsache, dass die Stimme nicht geblufft hatte. In Sarahs Stirn klaffte ein zwei Cent großes Loch. Die Decke unter ihrem Kopf hatte das Blut wie ein Schwamm aufgesaugt.
Er zitterte jetzt am ganzen Körper. Seine Pistole, die er in der Nachttischschublade aufzubewahren pflegte, lag neben der Leiche seiner Frau. Eine 44er Ruger Blackhawk. Er hatte sie sich auf dem Schwarzmarkt besorgt, weil seine Frau Angst vor Einbrechern hatte. Jetzt hatte sie jemand damit erschossen.
Er ging zu ihr und schloss ihr mit einem Handstreich die Augen. Heute war auch sein Todestag, das spürte er. Er existierte noch, doch er fühlte sich nicht mehr lebendig, würde es ohne sie nie wieder sein. Und das Schlimmste war, dass sie gewusst hatte, als sie starb, dass er allein der Grund dafür war. Man hatte ihn in eine Falle gelockt, seinen Bruder unter Druck gesetzt, ihn anzurufen und nach Frankfurt zu locken. Aber das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er schuld an Sarahs Tod war.
Er legte sich neben sie. Es war ihm egal, dass sein Haar in ihrem Blut klebte. Sie fühlte sich nicht mehr warm an. Aber sie roch noch wie immer. Er sog ihren Duft tief ein, um ihn sich so lange wie möglich zu merken. Dann erhob er sich, nahm sein Handy und tippte die 110 in das Tastenfeld. Die Polizei würde ihm nicht glauben, wahrscheinlich würden sie ihn für den Mörder halten. Doch was bedeutete das jetzt noch? Er hielt sich das Handy ans Ohr. Sein Blick streifte den Nachttisch. Nach dem ersten Klingeln meldete sich eine Polizistin. Ihrer Stimme nach war sie jung. Er hatte sich schon wieder weggedreht. Doch da war etwas gewesen. Er drehte sich wieder zurück. Da auf dem Nachttisch war etwas. Unter dem Rahmen eines Fotos von ihm und Sarah klemmte ein Stück Papier, das da nicht hingehörte. Er nahm es und erstarrte.
»Hallo, was ist denn los, stehen Sie unter Schock? Bitte sagen Sie doch etwas.«
Er ignorierte die Stimme der Frau von der Rettungsleitstelle. Der Fetzen in seinen Händen war eine aus der Zeitung herausgerissene Todesanzeige. Der Name der Toten ließ ihn kurz zusammenfahren. Er kannte den Namen. Es war Anna Waller und ihr Todestag war genau heute vor drei Jahren.
Einen Augenblick später verschwamm das Zimmer vor seinen Augen. Er kannte das von früher. Es war das Zeichen für den Übergang. Er hatte die für den Mittag vorgesehenen Tropfen nicht eingenommen und er würde sie auch nicht mehr nehmen. Es gab keinen Grund mehr, Raphael unter Verschluss zu halten und er bezweifelte, dass der Übergang angesichts dessen, was geschehen war, durch Medikamente überhaupt noch aufzuhalten war.
Anna Waller, jetzt wusste er mit Bestimmtheit, dass Sarah nur gestorben war, weil sie seine Frau war und man ihn damit treffen wollte.
»Sie müssen mir schon sagen, was passiert ist, damit ich Ihnen helfen kann, ansonsten müssen Sie die Leitung freimachen.« Der Tonfall der Polizistin von der Leitstelle war jetzt strenger.
Er hörte ihre Worte nur stark gedämpft wie durch Watte und drückte das Gespräch weg. Im nächsten Moment war er nicht mehr der, der er vorher gewesen war. Er war wieder der, der er nie wieder sein wollte. Er war wieder Raphael. Er blickte emotionslos auf die Tote im Bett. Er wusste, dass sie Eddies Frau gewesen war. Er betrachtete den Text der Todesanzeige in seiner Hand und wusste, Martin Waller hatte Eddies Frau auf dem Gewissen und er hatte Eddie auch gezwungen, seinen Bruder zu töten. Raphael würde Rache nehmen, für das, was Waller Eddie angetan hatte. Über die Telefonauskunft im Internet fand Raphael die Telefonnummer von Martin Wallers Anschluss. Als er dort anrief, meldete sich niemand. Danach rief er die Nummer von Karl Waller an, dessen Anschluss für dieselbe Adresse, wie die von Martin Waller, eingetragen war. Er hatte richtig vermutet, dass es sich um Martin Wallers Vater handelte. Raphael gab sich als ein alter Anwaltsfreund Martins aus, der gerade in Frankfurt sei und ihn besuchen wolle.
»Oh, das tut mir Leid«, antwortete Karl Waller. »Martin ist verreist.«
Auf die Frage, wo er hin sei, bekam er zur Antwort:
»In die Schweiz, ins Berghotel Himmelwärts bei Zermatt.«
Er hatte sich für die Auskunft bedankt, aufgelegt und sich gefragt, warum Martin Waller seine Fährte so offen preisgab? Wieder eine Falle? Er würde es noch erfahren. Er würde alles, was er von Waller wissen wollte, aus ihm herausbekommen, bevor er ihn eigenhändig erwürgte. Er musste schmunzeln. Die Drahtschlinge war schon immer sein liebstes Mordinstrument gewesen. Sie erforderte weniger Kraft, aber viel Technik und den Willen, immer fester zuzuziehen. Gerade wenn die Augen des Opfers vorquollen und die Zunge aus dem Mund hing, durfte man nicht weich werden. Es war am Ende kein physisches Kräftemessen. War die Schlinge einmal um den Hals gelegt und zugezogen, hatte der Gegner keine Chance mehr. Es war eine rein psychologische Angelegenheit. Keinesfalls durfte man sich zu Sentimentalitäten, wie Mitleid oder Mitgefühl hinreißen lassen. Er hatte immer das Gefühl gehabt, gerade wenn er die Drahtschlinge benutzte, seinen Opfern auf diese Weise in ihren letzten Zügen nahe zu sein. Aber Mitleid hatte er nie verspürt. Eddie hatte die Ratschläge des Therapeuten berücksichtigt. Er hatte den Kontakt zu seinem Bruder abgebrochen, war weggezogen und hatte regelmäßig seine Tabletten und Tropfen genommen. Er hatte den Job in der Spedition bekommen und dort Sarah kennen gelernt, dank der er zum ersten Mal ein Leben wie jeder andere, führen konnte. Und es hatte Eddie gefallen. Gleichwohl war die Angst, wieder zurückfallen zu können, Eddies ständiger Begleiter gewesen. Jetzt war es Eddie sogar angenehm, den anderen, rohen Teil, von sich wieder zu spüren. Jenen Teil von sich, der zu Trauer nicht fähig war, der nur Wut, Zerstörung und Blutdurst kannte, und der nun das Steuer übernommen hatte. Raphael warf noch einen Blick auf das Stück Zeitungspapier mit der Todesanzeige von Anna Waller, dann steckte er das Papier hastig in seine Jeans, ging aus dem Haus und startete den Wagen. Kurz nachdem er die Schweizer Grenze hinter sich gelassen hatte, hörte Raphael im Radio die erste Meldung über den Leichenfund, und dass man sich den Mord an Eddies Bruder, live im Internet ansehen könne. Eddie wurde als dringend tatverdächtig gesucht. Er atmete zufrieden durch. Die Grenze lag hinter ihm, das war entscheidend. Es war ihm egal, was die Leute über Eddie dachten, ob sie ihn für einen Mörder hielten. Er war dafür da, Eddie zu helfen. Eddie wollte Rache, das spürte er. Er, Raphael, würde das für Eddie erledigen. Er würde Martin Waller finden und dann würde er ihn töten.