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Die E-Mail von Martins Vater Karl an Ram wirkte wie ein Hilferuf. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit griff Ram daraufhin zum Telefon und rief Karl Waller an.
Karl war nach dem zweiten Klingeln am Apparat. Im Hintergrund hörte Ram den kleinen Paul weinen.
»Paul ist vor zwei Stunden wach geworden. Er hatte wohl einen Alptraum. Darin ist etwas Schlimmes mit seinem Vater geschehen. Jetzt gibt er keine Ruhe mehr. Wenn ich Martin wenigstens ans Telefon kriegen würde, aber es hebt einfach keiner in dem Hotel ab.«
Ram hörte Karl an, dass er völlig verzweifelt war. Karl Wallers Besorgnis galt aber nur dem Umstand, dass Paul nicht zu beruhigen war. Der Junge wollte zu seinem Vater. Um seinen Sohn Martin machte sich Karl Waller gar keine Gedanken. Er ging ganz einfach davon aus, dass die Telefonleitung ausgefallen war oder die Rezeption des Hotels, weil ja die Saison vorüber war, über Nacht nicht besetzt war. Ram sagte nichts davon, dass vielleicht ein gesuchter Mörder im gleichen Hotel war und die Telefonleitung gekappt hatte.
Karl fragte Ram, ob er als Technikfreak eine Möglichkeit sähe, auf anderem Wege mit Martin in Verbindung zu treten. Als Ram das verneinte, bat Karl ihn unumwunden, ob er bitte zu ihnen rüber kommen könnte, er brauche seinen Rat. Ram ließ sich erweichen und betrat zwei Minuten später das Haus der Wallers.
Paul war nur noch ein zitterndes Häufchen Elend. Kein Wunder, von Waller wusste Ram, dass Paul aufgrund seines Autismus, kaum noch zu beruhigen war, wenn ihn etwas aufregte. Jetzt hatte der Junge Angst und Panik. In seinem Traum war seinem Vater etwas zugestoßen und Ram war mit einem Mal klar, dass allein die Stimme seines Vaters am Telefon, den Jungen kaum würde beruhigen können. Paul musste seinen Vater sehen. Nur so würde sich der Kleine auch wirklich sicher sein können, dass es seinem Vater gut ging.
Paul stand im Wohnzimmer und weigerte sich, sich zu setzen, oder sich auch nur einen Millimeter von der Stelle zu bewegen.
»Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Was würden Sie an meiner Stelle machen?«, fragte Karl. Ram zuckte die Achseln und sah Paul an, der ihm keinerlei Beachtung schenkte.
»Ich denke, sie sollten darüber nachdenken, hinzufahren.«
Karl seufzte und machte ein gequältes Gesicht.
»Wenn Sie wollen, kann ich Sie begleiten. Wir könnten uns mit dem Fahren abwechseln.«
Karls Gesicht hellte sich augenblicklich wieder auf. Der Gedanke, mitten in der Nacht nicht allein die lange Fahrt nach Zermatt antreten zu müssen, schien ihm sehr zu gefallen.
»Das würden Sie tun?«
Ram nickte.
»Gut.«
Karl beugte sich zu Paul hinunter und sah dem Kleinen in die, von den Tränen verquollenen Augen.
»Dein Papa ist in einem Hotel. Es ist weit weg. Aber wenn du willst, bringen wir dich jetzt zu ihm.«
Paul hörte augenblicklich auf, zu zittern. Er zog die Nase hoch und nickte stumm.
»Gut dann holen wir uns jetzt ein wenig Proviant aus dem Kühlschrank, ziehen uns an und dann geht’s los.«
Karl richtete sich wieder auf und wandte sich Ram zu.
»Wenn ich ehrlich bin, hatte ich gehofft, dass Sie mitkommen würden. Ich weiß, dass Sie ein Nachtmensch sind, und traue mir die Fahrt allein nicht zu.«
Ram wusste nicht, wie Karl zu der Annahme kam, dass er so mir nichts dir nichts zu einer Autofahrt von sechs Stunden bereit war, aber es hatte funktioniert. Allerdings nur, weil Ram ohnehin vorgehabt hatte, Waller in diesem Hotel einen Besuch abzustatten. Egal, Karl war zufrieden und Ram auch, denn die Fahrt mit dem Auto, war natürlich viel bequemer als seine Kawasaki.
»Wozu hat man denn ...« verdammt, das Wort auszusprechen fiel ihm verdammt schwer »Freunde. Außerdem können Sie du zu mir sagen, ich bin Ram.«
Karl reichte ihm die Hand und Ram schlug ein. »Abgemacht und mir ist das Du auch lieber, ich bin Karl.«
Ram ließ Karl in dem Glauben, dass es hier nur um Pauls Wohlbefinden ging. In Wirklichkeit machte er sich viel größere Sorgen um Waller. Freund hatte er ihn genannt. So ein Scheiß, dachte Ram. Das Wort gehörte eigentlich nicht zu seinem Sprachgebrauch. Irgendwie war es ihm peinlich gewesen, das Wort auszusprechen. Es klang so schwach. Weicheier sprachen andauernd von Freundschaft. Er war kein Weichei. Er drängte die in seinem Kopf aus dem Nichts aufflammende Frage zurück, ob in diesem Wort, in Wallers Fall nicht doch ein Fünkchen Wahrheit steckte.
Während Karl sich und Paul anzog, ging Ram noch einmal in seinen Keller, um sein Notebook zu holen. Als er zurückkam, wartete er auf dem Gehweg. Fünf Minuten später fuhr Karl bereits den Wagen aus der Garage. Paul saß hinten auf dem Kindersitz und schaute aus dem Fenster. Er war jetzt völlig ruhig. Ram setzte sich nach hinten neben Paul. Nicht vorrangig, um den Jungen zu beruhigen, falls er einen weiteren Anfall erlitt, das hätte er sich ohnehin nicht zugetraut. Er wollte, während Karl den Wagen steuerte, ein paar weitere Recherchen anstellen. Sein Notebook verfügte über einen Wlan-Stick, mit dem er unterwegs ins Internet gehen konnte. Nach einer halben Stunde Fahrt klappte er das Display auf und klickte den Internetbrowser an.
Paul saß noch immer regungslos neben ihm und starrte durch das Seitenfenster in die Dunkelheit. Auch Karl hatte seit der Abreise nicht viel gesprochen. Er war den Anweisungen des Navigationsgerätes gefolgt, das an einem Saugnapf innen an der Windschutzscheibe befestigt war, und lauschte jetzt, da sie ein gutes Stück monotoner Autobahn vor sich hatten, dem Hörspiel, dass er für Paul in den CD-Player gelegt hatte.
Die Wegstrecke von Karl Wallers Haus nach Zermatt sah Ram sich nur beiläufig auf google maps an. Die Autoroute endete in Täsch, das bedeutete, dass das Hotel nicht mit dem Wagen zu erreichen war. Die Homepage des Hotels gab Aufschluss über dessen Lage und wie man von Zermatt aus dorthin kam. Mit Verwunderung stellte Ram fest, dass sich das Hotel an einem jener wenigen Orte befand, die nicht rund um die Uhr auf dem Verkehrsweg zu erreichen waren. Tagsüber fuhr eine Zahnradbahn auf den Berg. Die erste Bahn fuhr aber erst ab acht Uhr morgens und sie kämen wahrscheinlich gegen Sieben in Zermatt an. Sie konnten dann eine Stunde warten oder sie ließen sich etwas anderes einfallen. Ram beschloss, sich darüber erst Gedanken zu machen, wenn sie vor Ort wären. Außerdem tobte dem aktuellen Wetterbericht zufolge ein ausgewachsener Sturm in dem Gebiet. Ram hielt es für schlauer, auch diese Informationen Karl und Paul gegenüber unerwähnt zu lassen. Im Moment jedenfalls war das Hotel komplett von der Außenwelt abgeschnitten.
Plötzlich kam ihm ein Gedanke in den Kopf. Wenn Eddie Kaltenbach tatsächlich Waller in dieses Hotel gefolgt war, woher hatte er dann gewusst, dass Martin sich dort aufhielt? Ram steckte den Kopf zwischen den Vordersitzen hindurch nach vorne.
»Eine Frage, Karl. Hat sich heute irgendjemand nach Martin bei dir erkundigt?«
Karl wandte den Kopf ein wenig zur Seite, jedoch ohne den Blick von der Straße zu lassen.
»Ja, ein alter Freund von Martin hat angerufen. Er wollte ihn besuchen. Ich hab ihm gesagt, wo Martin ist, und dass er es nächste Woche noch mal probieren soll. Warum fragst du?«
»Ach, nur so«, sagte Ram und Karl bohrte nicht weiter nach.
Jetzt war Ram sicher, dass er mit seiner Vermutung richtig lag. Eddie Kaltenbach, der gesuchte Doppelmörder war hinter Waller her.
Spätestens jetzt hätte jeder normale Mensch in Erwägung gezogen, die Polizei zu verständigen. Aber was das anging, war Ram nicht normal. Er war von dem tiefen Glauben durchdrungen, dass die Polizei ein Haufen bürokratischer Irrer mit Schlagstöcken und Tränengas war, die nichts Besseres zu tun hatten, als Verkehrssünder zur Kasse zu beten, und sich die kleinen Fische zu greifen, während sie Wirtschaftskriminelle mit genug Geld laufen ließen. Wenn es einmal zu Anklagen kam, konnten die Reichen sich meist gegen Geld mit einem Kuhhandel freikaufen, nur weil der Staatsanwalt weder Zeit noch Lust hatte, sich durch ein mit Beweismittelordnern zugestopftes Bürozimmer zu arbeiten.
Die Polizei würde er niemals um Hilfe bitten. Ram erschien es jetzt als am Sinnvollsten, mehr über Kaltenbach und seinen Hintergrund in Erfahrung zu bringen.
Die Verbindung zwischen Eddie Kaltenbach und Martin Waller kannte Ram bereits. Es war der Strafprozess von vor sieben Jahren, indem Waller ausgesagt hatte, dass Eddie nicht der Mann gewesen sei, der den Undercoverpolizisten erschossen hatte, obwohl er ihn in der polizeilichen Vernehmung eindeutig als Täter identifiziert hatte.
Ram dachte angestrengt nach, fand aber auf Anhieb keinen Grund, warum Eddie sieben Jahre danach scharf auf Waller war. Wusste Waller noch etwas, über das noch nicht verhandelt worden war? Alles nur Spekulation.
Bald würde er Karl am Steuer ablösen müssen. Die Zeit drängte. Kurz überlegte er, Corleone um Hilfe zu bitten, verwarf den Gedanken aber wieder. Erst mal wollte er sehen, was er selbst herausfand. Für Detailfragen konnte er immer noch auf Corleones Hackernetzwerk zurückgreifen.
Die anschließende Internetrecherche brachte Ram jedoch keinen Deut weiter. Er erfuhr nur weitestgehend das, was er ohnehin schon wusste. Etwas riskanter aber dafür ergebnisreicher verlief sein Ausflug in den Zentralrechner des Bundeskriminalamtes. Nach jahrelangen Versuchen war es ihm im letzten Jahr gelungen, sich dort einzunisten. Jedoch nicht ohne Hilfe. Eine Hackerkollegin hatte sich als Putzfrau einstellen lassen und rund sechs Monate gebraucht, neben ihrer nächtlichen Putzarbeit, die interne BKA-Hardware und das Netzwerk auszuspähen. Sie hatte das von Ram geschriebene Spionageprogramm schließlich auf dem Zentralrechner vor Ort platzieren können. Dennoch blieb es gefährlich, sich von außen einzuwählen. Die Firewall und die Spionageabwehrprogramme wurden täglich verbessert. Um so länger sich Ram in dem System aufhielt, um so größer war die Wahrscheinlichkeit, dass man ihn entdecken und aufspüren würde. Deshalb benutzte er den BKA-Zentralrechner nur in absoluten Ausnahmefällen. Das hier war so ein Fall. Er nahm sich vor, nicht länger als fünf Minuten in dem Archiv zu stöbern. Was er vorfand, waren ein paar weitere Fakten und die vollständigen Namen der Leute, die hinter den Kaltenbachs standen.
Den Akten nach war Eddie Kaltenbach ein psychisch gestörter Gewalttäter, dem aber bisher, trotz dutzender Strafverfahren, nie mehr als eine schwere Körperverletzung und unerlaubter Waffenbesitz nachgewiesen werden konnten. Sein Bruder Udo war der Kopf, Eddie die ausführende Kraft. Allerdings war Udo Kaltenbach keineswegs der König im Frankfurter Milieu gewesen. Es gab Leute, die in der Hierarchie über den Gebrüdern Kaltenbach standen. Hier tauchte immer wieder der Name Rita Mattfeld auf. In ihre Organisation hatte das BKA Knut Winkler einschleusen können, der nach der ersten Zeugenaussage von Martin Waller von Eddie Kaltenbach erschossen worden war. Die Bestrafung dieses Monsters hatte Waller dann aus unerfindlichen Gründen mit seiner Entlastungsaussage vor Gericht verhindert.
Ram kam zu dem Schluss, dass diese Leute, mit denen Waller zusammengeprallt war, in der Verbrecherbundesliga spielten. Sicher war Waller zu seiner Zeugenaussage gezwungen worden. Doch beweisen konnte das nach dem Prozess niemand mehr.
Rita Mattfeld, so schloss der Bericht des BKA, war drei Jahre nach dem Prozess abgetaucht. Gegen sie hatte es bis dahin nicht zu einer einzigen Anklage gereicht, obwohl sie auf der Liste der Fahnder ganz ober gestanden hatte. Ihr derzeitiger Aufenthaltsort war unbekannt.
An ihre Stelle war Konstantin Mattfeld ihr einziger Sohn getreten. Dem BKA war aufgefallen, dass er versuchte, die Organisation nach und nach in legale Bahnen zu lenken. Vermutlich hatte Konstantin keine Lust, in einen Krieg mit den stark gewachsenen und rivalisierenden Gruppen von Albanern, Russen und Motorradgangs zu geraten.
Nachdem Ram sich aus dem Großrechner des BKA ausgeloggt hatte, schrieb er eine E-Mail folgenden Inhalts an Corleone:
»Auftrag: eilt! Ermittlung des Aufenthaltsorts von Rita Mattfeld, geboren am 12. Juni 1945 in Moskau, zuletzt wohnhaft in Frankfurt am Main.«
Eine Minute später kam Corleones Antwort:
»Freundschaftspreis 2.000 Euro, einverstanden?«
Ram überlegte nicht lange. Er hatte für das Leben, das er sich ausgesucht hatte, mehr Geld, als genug.
»Geht klar. Erwarte Antwort in maximal zwei Stunden.«
»Werde sehen, was sich machen lässt, Herr Kollege.«
Corleone war witzig wie immer. Ram hätte gern gewusst, wie der Kerl aussah. Er nahm sich vor, es herauszufinden, wenn er wieder zurück in seinem Distrikt war.
Ram fuhr das Notebook herunter und blickte nach vorne durch die Windschutzscheibe. Die Hälfte der Strecke lag jetzt hinter ihnen. Paul hatte immer noch keinen Ton von sich gegeben. Er lauschte mittlerweile dem dritten Hörspiel. Rams Gehirn war leer wie der Nachthimmel. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was hier abging. Dann bat Karl, ihn am Steuer abzulösen.