20
Für einen Moment herrschte Ruhe und jeder hing mit leerem Blick seinen eigenen Gedanken nach. Selma ging in die Küche und holte sich etwas zu trinken. Martin sah einen nach dem anderen an. Aber niemand erwiderte seinen Blick.
»Hat jemand von euch mir die E-Mails geschrieben?«, sagte er schließlich.
Söder, Bumann und Meier sahen Martin verständnislos an. Selma kümmerte sich nicht weiter um ihn, sondern hantierte weiter in der Küche herum, als ob sie eine Beschäftigung bräuchte, um sich von den Geschehnissen abzulenken. Offensichtlich fühlte sie sich nicht angesprochen. Jetzt wandte er sich direkt an sie. Er hielt es für möglich, dass Anna Selma aus irgendeinem Grund ihr E-Mail-Konto und das zugehörige Passwort verraten hatte.
»Selma, warst du es? Hast du mir die Nachrichten unter Annas Namen geschickt?«
Selma sah ihm jetzt direkt in die Augen.
»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.« Sie klang enttäuscht und kraftlos. Aber schlimmer war, es klang auch ehrlich. Sie hielt Martins Blick stand, bis er seufzend wegschaute.
»Was sind das für E-Mails, von denen Sie da reden?«, wollte Söder jetzt wissen.
»Ach, vergessen Sie es«, gab Martin zurück.
»Wie Sie meinen«, sagte Söder.
Im gleichen Augenblick wurde Martin klar, dass er unüberlegt geantwortet hatte. Die E-Mails auf seinem Rechner konnten ihn entlasten. Sie bewiesen, dass jemand ein Spiel mit ihm trieb. Sie mussten etwas mit Kaltenbachs Auftauchen und der Toten in der Badewanne zu tun haben.
Söder erhob sich von seinem Stuhl.
»Also los, gehen wir«, sagte er.
Selma kam hinter der Küchentheke hervor. Sie nippte noch einmal an ihrer Tasse, dann stellte sie diese auf den Tisch und gesellte sich zu Bumann und Meier, die darauf warteten, dass Söder voranging.
Martin bekam plötzlich noch mehr Angst. Er wollte nicht allein mit der Toten in der Badewanne in dieser Wohnung bleiben.
»Seit ich hier angekommen bin, habe ich mehrere E-Mails erhalten. Absender war meine verstorbene Frau. Die letzte Nachricht beinhaltete eine Verlinkung auf eine Reportage über die Morde Kaltenbachs an seinem Bruder und seiner Frau.«
Söder, Bumann, Meier und Selma sahen Martin verstört an.
»Was reden Sie da für ein wirres Zeug?«, sagte Söder und Bumann schüttelte ungläubig den Kopf. Martin ließ sich nicht beirren und redete einfach weiter.
»Ein Freund von mir ist ein Computerfreak. Kurz bevor hier die Leitungen nicht mehr funktionierten, hat er mir mitgeteilt, dass die E-Mails von dem E-Mail-Account meiner Frau aus abgeschickt wurden. Das Wichtigste war allerdings, dass die Nachrichten von einem Computer in diesem Hotel abgeschickt wurden.«
Für einen Moment herrschte Ruhe. Dann ergriff Bumann das Wort.
»Das können Sie sich genauso gut gerade ausgedacht haben.«
»Die E-Mails können Sie nachlesen. Sie sind auf meinem Notebook gespeichert.«
»Schluss jetzt«, sagte Söder. Er drehte sich um und öffnete die Schublade des Sideboards, das dort stand. Heraus nahm er eine Rolle mit breitem Klebeband. Er ging um den Tisch, klebte es Martin auf den Mund und wickelte es zweimal um seinen Kopf.
»Soll sich die Polizei doch darum kümmern«, sagte Söder.
Martins Augen quollen vor Schreck hervor. Er bekam keine Luft mehr. Seine Nase war leicht verstopft. Panik machte sich breit. Er stöhnte so laut er konnte und wusste doch, dass es nichts nützen würde. Er dachte an die Zwangsjacke, und den Versuch zu schreien, und dass es nicht ging. Er dachte daran, wie er als Kind unter Schneemassen begraben war und keine Luft mehr bekommen hatte. Dann endlich bekam er wieder Luft durch die Nase. Er atmete tief ein und aus. Zu mehr war er jetzt nicht mehr fähig. Nur die Konzentration auf das Atmen konnte den drohenden klaustrophobischen Anfall noch verhindern. Er merkte, wie der Schweiß über seine Stirn rann. Das war das erste Anzeichen.
Söder ging in den Flur. Meier und Bumann folgten ihm. Als die Männer ihr den Rücken zugewandt hatten, ließ Selma unvermittelt einen Gegenstand aus dem Ärmel ihres Pullovers gleiten und drückte ihn Martin in die hinter dem Stuhl gefesselte Hand. Es war ein kleines, scharfes Gemüsemesser aus der Küche. Der Vorgang hatte keine drei Sekunden gedauert. Mit ein paar schnellen Schritten schloss Selma wieder zu den Männern auf. Sie hatten nichts bemerkt. Martin hörte, wie sich die Wohnungstür hinter ihnen schloss, und wie die Tür abgesperrt wurde. Er hatte sich in Selma getäuscht. Sie hatte Söder und den anderen nur die bitter Enttäuschte vorgespielt. In Wirklichkeit glaubte sie nicht, dass Martin etwas mit dem Tod ihrer Chefin zu tun hatte. Die Gewissheit, dass Selma auf seiner Seite stand, löste ein winziges Gefühl der Erleichterung in Martin aus. Kurz darauf war das Gefühl wieder verschwunden, als er daran dachte, dass sie nun mit diesem angeblichen Hausmeister Söder und den anderen beiden Männern, die ihr im Ernstfall sicher keine Hilfe waren, im Hotel unterwegs war. Fest stand nämlich, dass Kaltenbach ein Mörder war. Er war es vor sieben Jahren, als Martin einen Meineid auf das Gegenteil geschworen hatte und er war es nach wie vor, weil er seinen Bruder und seine Frau hingerichtet hatte. Es schauderte Martin bei dem Gedanken, was Kaltenbach mit Selma anstellen würde, wenn er sie in die Finger bekam. Und sicher war er hier in der Wohnung auch nicht. Wenn es Kaltenbach gelungen war, einmal hier hereinzukommen, sei es um Marianne Seewald zu töten oder auch nur, um Söders Namen mit ihrem Blut an die Fliesen zu schmieren, so könnte er es auch ein zweites Mal tun. Dann hätte Martin keine Chance, mit dem Leben davon zukommen. Das musste auch Selma gedacht haben, als sie das Messer für ihn organisierte, das er jetzt so vorsichtig es in seiner Aufregung ging, in seiner rechten Hand in die richtige Position brachte, um damit das Seil um seine Handgelenke zu zerschneiden. Langsam bewegte er das Messer gleich einer Säge auf und ab. Angesichts der verkrampften Haltung seiner Finger konnte er dabei nicht viel Druck ausüben, ohne zu riskieren, dass das Messer ihm entglitt und zu Boden fiel. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, bis er das Seil schließlich durchgeschnitten hatte, und er brauchte noch einmal die gleiche Zeit, bis er sich von dem Seil, das um seinen Oberkörper und seine Beine mit dem Stuhl verbunden war, befreit hatte. Dann endlich hatte er es geschafft. Er war seine Fesseln los und riss sich das Klebeband vom Mund. Sofort verspürte er Erleichterung.
Er ging hinüber zur Wohnungstür, nur um festzustellen, was er schon wusste. Sie war abgeschlossen und so wie es aussah, hatte er nicht die geringste Chance, die Tür ohne den Schlüssel aufzubekommen. Er raufte sich die Haare und ging zuerst ins Arbeitszimmer und öffnete sämtliche Schubladen und Schränke. Dann ging er durch das Wohnzimmer, die Küche und zurück ins Schlafzimmer und ließ seinen Blick umherschweifen. Wo bewahrte Marianne Seewald ihre Schlüssel auf. Er fand sie nicht. Vermutlich hatte sie irgendjemand mitgenommen, vielleicht Söder oder Kaltenbach. Resigniert ging er zurück ins Wohnzimmer und setzte sich an den Tisch. Dann fiel sein Blick auf die Tasse, die Selma auf dem Tisch abgestellt hatte. Er zog sie zu sich heran. Darin war Orangensaft. Diese Kombination machte ihn stutzig. Selma war, was Gläser und Tassen anging sehr eigen. Sie hatte ihm einmal erzählt, dass sie für jedes Getränk ein eigens dafür bestimmtes Trinkgefäß bevorzugte. Es würde ihr übel bei dem Gedanken, Saft oder Wasser aus einer Kaffeetasse trinken zu müssen. Martin nahm die Tasse, ging zur Küchenspüle und kippte den Orangensaft aus. Mit einem Klimpern purzelte ein kleiner Gegenstand aus der Tasse in das Ausgussbecken. Sein Herz machte einen Satz. Selma, du bist ein Engel, dachte er.
Martin nahm den Schlüssel und trocknete ihn ab. Schnellen Schrittes ging er zur Wohnungstür. Der Schlüssel passte. Er drehte ihn und öffnete die Tür. Gerade wollte er einen Schritt in den Flur machen, als er innehielt. Wohin wollte er eigentlich? Er war so damit beschäftigt gewesen, sich aus seiner Zwangslage zu befreien, dass er keinen Plan hatte, wie es danach weiter gehen sollte. Söder war jedenfalls zuzutrauen, dass er ihn über den Haufen schoss, wenn er ihm zufällig über den Weg lief. Damit hatte er es schon mit zwei potenziellen Gegnern zu tun. Kaltenbach und Söder. Er ging zurück in die Wohnung, schloss die Tür wieder und lehnte sich mit dem Rücken an das Türblatt. Unweigerlich blickte er auf die offene Tür des Arbeitszimmers und dann schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf, den er sogleich wieder abtat. Es wäre pure Zeitverschwendung, dachte er. Mein Gott, aber wenn es doch so war, würde es alles verändern. Er musste sich vergewissern.