14
Martin hatte das Gefühl gerade einmal fünf Minuten geschlafen zu haben, als er hellwach aufschreckte und kerzengerade im Bett saß. Ihm war unerträglich heiß und er stieß die Bettdecke zur Seite. Gleichzeitig fühlte er eine innere Aufgewühltheit, sein Atem ging schnell. Er wischte sich den dünnen Schweißfilm von der Stirn und starrte auf die roten Leuchtziffern seines Reiseweckers. Es war elf Minuten nach zwei. Er hatte nur drei Stunden geschlafen und fühlte sich trotz der Schlaftablette völlig aufgedreht. Auch seine Kopfschmerzen waren keinen Deut besser. Er hatte gelesen, dass manche Menschen in dieser extremen Höhe, in der sich das Hotel befand, Probleme mit dem Schlafen hatten. Doch die Symptome, die er bei sich wahrnahm, waren ihm auch so bestens bekannt. Es war die typische Art, wie sein Körper auf übermäßige Anspannung und psychischen Stress reagierte. Wie selbstverständlich schossen ihm zuerst die Gedanken in den Kopf, die ihn so stark belasteten. Aus welchem Grund war Eddie Kaltenbach hier in diesem Hotel? Wer hat die E-Mails unter dem Namen meiner Frau geschrieben? War es vielleicht wirklich Anna, lebte sie doch noch? Wen hatten sie dann vor drei Jahren beerdigt? Er spürte, dass er im Begriff war, sich an eine Hoffnung zu klammern, die mit Sicherheit unerfüllt bleiben würde. Er wusste, wenn er sich weitere emotionale Schmerzen ersparen wollte, durfte er sich nicht vorstellen, wie es wäre, wenn Anna noch am Leben wäre. Aber natürlich tat er es trotzdem. Auch wenn es weh tat, an sie zu denken. Früher hätte er das, womit er sich nicht beschäftigen wollte, mit einer Flasche Wodka weggespült. Heute wusste er, welchen Preis er dafür bezahlen würde. Dem kurzen Rausch, der alles verdrängte, würde eine ekelhafte Phase der Ernüchterung folgen, in der alles, vor dem er geflohen war, noch viel stärker auf ihn einstürmen würde und am Ende wäre er gezwungen, wieder zur Flasche zu greifen, um sich eine erneute Befreiung von den Gedanken, zu einem viel zu teuren Preis zu erkaufen. Trotz des Wissens über diesen Teufelskreislauf war es unglaublich schwer, der Entspannung, welche der Inhalt der Minibar versprach, zu widerstehen. Der Mensch strebt allgegenwärtig nach Wohlbefinden, dachte er. Auch wenn es nur von kurzer Dauer ist. Er knipste die Nachttischlampe an und setzte sich auf die Bettkante.
Er wusste, dass er so schnell nicht wieder einschlafen würde, und öffnete das Fenster, um sich ein wenig abzukühlen, und Luft zum Durchatmen hereinzulassen. Draußen war es rabenschwarz. Nur das Hotel wurde weiterhin von den Bodenstrahlern erleuchtet. Er ließ das Fenster offen und setzte sich wieder aufs Bett. Notfalls würde er bis zum Morgen wach bleiben und dann mit der ersten Bahn von hier verschwinden.
Sein Blick fiel auf das Notebook. Wenn er schon wach war, konnte er genauso gut nachsehen, ob Ram schon etwas über den Absender der E-Mails herausgefunden hatte. Vielleicht würde ihn ein wenig mehr Gewissheit auch davon abhalten, weiter zu grübeln und in allem etwas Schlechtes zu sehen.
Entschlossen schaltete er das Notebook an und klickte auf das E-Mail-Programm. Und tatsächlich Ram hatte geantwortet. Er klickte auf die Nachricht und las:
Ruf mich an! Ich versuche schon die ganze Zeit, dich telefonisch zu erreichen, aber da oben scheint kein Handynetz zu existieren und an der Rezeption ist nur der Anrufbeantworter geschaltet.
Martin stöhnte auf. Er hatte keine Lust jetzt mit Ram zu reden, denn beim Reden kam Ram im Gegensatz zum Schreiben selten schnell auf den Punkt. Und überhaupt, Ram schrieb lieber E-Mails, als zu telefonieren. Also was hatte das nun wieder zu bedeuten?
Er nahm das Hoteltelefon und wählte widerwillig Rams Nummer. Diesmal musste er nicht wie üblich zwei Minuten Klingeln lassen. Ram hob bereits nach dem ersten Klingeln ab. Ihn ereilte die Vorahnung, dass etwas zutiefst Ungewöhnliches geschehen sein musste.
»Schön, dass du dich endlich meldest, Waller«, sagte Ram. Ram nannte Martin immer beim Nachnamen, das war so seine Art. »Ich wollte schon eine Vermisstenmeldung aufgeben.«
Martin war nicht in der Stimmung für Rams Späße. Er fühlte sich niedergeschlagen und wünschte sich nur, dass es schon Morgen wäre, so dass er aus diesem Hotel verschwinden könnte.
»Warum soll ich dich anrufen?«, sagte Martin.
»So kenn ich dich Waller«, sagte Ram. »Erst rufst du deine E-Mails nicht ab, bist telefonisch nicht zu erreichen und dann kann es dir auf einmal nicht schnell genug gehen. Kein Hallo, kein wie gehts, nur Infos, Infos, Infos.«
»Ja, ist ja schon gut. Spuck schon aus, was du hast und spiel hier nicht den Beleidigten.«
»Stehst ja ganz schön unter Strom, was?«
Martin gab darauf keine Antwort. Er kannte Rams Spielchen. Ram liebte es, andere auf die Folter zu spannen. Das war Rams Art auf etwas hinzuarbeiten, auf das er ganz besonders stolz war und für das er besonderes Lob erwartete. Auch er war nur ein Mensch und brauchte Anerkennung für das, was er tat. Nach zwei Sekunden des Schweigens merkte Ram, dass Martin nicht zu Späßen aufgelegt war und kam zur Sache.
»Na schön, dann nur die harten Fakten. Du wolltest wissen, wer dir E-Mails unter dem Namen deiner Frau schreibt, richtig?«
»Richtig«, sagte Martin.
»Kennt irgendjemand das Passwort zum E-Mail-Konto deiner Frau?«
»Nicht dass ich wüsste. Nicht einmal ich weiß das.«
»Und du hast vergessen, das Konto nach ihrem Tod aufzulösen, stimmt´s?«
»Es gab Wichtigeres zu tun«, gab Martin grob zurück. Er hasste es, wenn das Gespräch auf seine Frau kam. Ihr Tod war für andere eine Sache, die berührte, aber für ihn war es jedes Mal wie ein Stich ins Herz. Er war noch immer nicht darüber hinweg, nicht über die Art und Weise, wie es geschehen war, noch über die Vorgeschichte, wie es dazu kam und für die er sich die alleinige Schuld gab. Er wusste, dass er nicht darüber nachdenken durfte, denn diese Gedanken vermochten es, ihn erneut in ein Land ohne Farbe zu schicken.
»Meine Recherchen haben aber ergeben, dass die E-Mails an dich über das E-Mail-Konto deiner Frau geschickt wurden.«
Martin spürte eine heiße Kugel in seinem Bauch.
»Und was bedeutet das?«
»Entweder kannte jemand, das Passwort oder jemand hat es gehackt, was nicht ganz einfach ist.«
Martin beschloss, diese Information später zu verdauen.
»Du weißt also nicht, wer die Nachrichten geschrieben hat, nur dass sie vom E-Mail-Konto meiner Frau stammen?«
»Nicht ganz.«
»Was soll das nun wieder heißen?«
»Jetzt kommt der eigentliche Clou an der Sache.«
Ram machte eine Pause, als warte er auf eine gespannte Nachfrage Martins. Doch der tat ihm den Gefallen in dieser Nacht nicht.
»Ich weiß nicht, wer die E-Mails geschrieben hat, aber sie wurden von einem Computer abgeschickt, der sich in deinem Hotel befindet.«
Martin verschlug es für einen Moment die Sprache. Sein Hals war mit einem Mal völlig trocken. Er öffnete die Minibar und griff an der Wodkaflasche vorbei, die letzte Wasserflasche. Die Beleuchtung der Minibar tauchte das kleine Schnapsfläschchen neben dem Wasser in ein werbewirksames, verführerisches Licht. Er fuhr sich mit der Zunge über die rauen Lippen, als ob er dadurch die Erinnerung an die betäubende Wirkung des Alkohols hervorkramen könnte. Dann stürzte er das Wasser die Kehle hinunter.
»Bis du noch dran?«, hörte er Ram fragen.
»Ja.«
»Alles in Ordnung?«
»Jemand schreibt mir von diesem Hotel aus Liebesgrüße aus dem Jenseits und du fragst mich, ob alles in Ordnung ist?«
»Ich wollte nur höflich sein.«
Mit einem Mal wurde Martin klar, dass er seine Panik an Ram ausließ. Kurz überlegte er, ob er ihm erzählen sollte, dass Eddie Kaltenbach hier war und dass diese Tatsache und die E-Mails zusammen ein Zufall zu viel waren. Aber Ram kannte die Geschichte nicht, die Martin mit Kaltenbach verband und es würde zu lange dauern, das alles vor ihm auszubreiten. Martin beschloss Ram später wieder anzurufen, wenn er nachgedacht hatte. Jetzt brauchte er ein paar Minuten Ruhe.
»Ich melde mich später wieder.«
»Wie du meinst«, sagte Ram beleidigt und legte auf.
Ich hätte ihm danken müssen, dachte Martin. Aber er hatte angesichts der Fragen, die auf ihn einstürmten nicht daran gedacht. Ram jetzt gleich wieder anzurufen, dazu fehlten ihm die Nerven. Wahrscheinlich hätte Ram auch einfach nicht abgenommen, wie er ihn kannte. Martin stöhnte, erhob sich von dem Stuhl am Schreibtisch und lief langsam im Zimmer auf und ab.
Er musste nicht wissen, wie Ram herausgefunden hatte, dass die E-Mails an ihn vom Hotel aus geschrieben wurden. Er konnte sich aber darauf verlassen, dass Rams Information hundert Prozent stimmte. Er hatte sich verkniffen, Ram darauf hinzuweisen, dass es noch eine dritte Möglichkeit gab, wer die E-Mails geschrieben hatte, nämlich Anna. Man hörte doch immer wieder von Menschen, die nach Jahren wieder aufgetaucht waren. Aber im Falle seiner Frau war das nicht realistisch. Sie war gestorben, hatte sich das Leben genommen. Sie wurde beerdigt. Sie war nicht nur verschwunden. Sie war tot. Also wer kam noch dafür in Frage? Sein erster Gedanke fiel natürlich auf Kaltenbach, aber der war noch nicht im Hotel gewesen, als die E-Mails ankamen. Oder doch? War er vielleicht unbemerkt zu einem früheren Zeitpunkt herein gekommen und dann wieder nach draußen gegangen, wo er einen Unfall hatte. Wer noch, dachte er? Selma war die beste und am Ende gleichzeitig die einzige Freundin seiner Frau gewesen. Vielleicht hatte Anna ihr das Passwort verraten. Selma war auch im Hotel gewesen, als die E-Mails abgeschickt wurden. Das ließ sich hören, allerdings, warum sollte Selma so etwas Niederträchtiges tun? Sie war eine Seele von Mensch. Sie wüsste, dass der Inhalt der E-Mails Martin bis ins Mark treffen würde. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie es getan hatte, aber er würde sie fragen und er würde es jetzt tun. Er hatte sich gerade seine Kleider angezogen, als er das markante Piepen aus seinem Notebook vernahm, das den Eingang einer weiteren E-Mail signalisierte.
Langsam ging er auf den Schreibtisch zu, bis er auf dem Display den Absender erkennen konnte. Jetzt hatte der Schreiber nicht mehr nur die Anfangsbuchstaben als Kürzel verwendet. Jetzt stand da der volle Name seiner Frau, Anna Waller. Ein Betreff war nicht angegeben. Martin setzte sich und klickte auf die Nachricht.
Hallo Liebster,
ich habe ein Gedicht für dich geschrieben.
Fünf böse Menschen verdarben das Leben mir,
ein Schädling erschoss den anderen,
da waren es nur noch vier.
Genieße es mein Schatz!
In Liebe Anna