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Martin wandte sich Eddie Kaltenbach zu und blieb regungslos stehen. Eddie kam bis auf zwei Meter an ihn heran und blieb dann ebenfalls stehen. Einen Moment lang fixierten sich die beiden mit starrem Blick. Kaltenbach war gut einen Kopf größer und wesentlich kräftiger gebaut als Martin. Außerdem hatte Kaltenbach eine Pistole, die er auf Martin gerichtet hielt. Seltsamerweise überkam Martin gerade in diesem Augenblick der größten Bedrohung eine angenehme innere Ruhe. Auch die Schmerzen schienen mit einem Mal viel erträglicher. Vielleicht, weil es vorbei war. Er hatte versucht, zu entkommen und hatte es nicht geschafft. Die Würfel waren gefallen. Er musste sich mit dem Unabwendbaren abfinden. Martin blickte weiter unverwandt in Kaltenbachs Augen und versuchte, darin zu erkennen, was in seinem Gegenüber vorging. Es waren nicht die typischen Augen eines Wahnsinnigen. Sie flackerten nicht, sondern fixierten Martin ebenso fest. Schließlich brach Kaltenbach das Schweigen.
»Warum hast du Eddies Frau erschossen? Sie hat niemandem etwas getan.«
Martin war völlig überrumpelt, die Stimme Kaltenbachs zu hören. Aus irgendeinem Grund hatte Martin erwartet, dass Kaltenbach ihn nun, da sie sich so nah gegenüberstanden, doch einfach nur erschießen würde. Was Martin noch mehr verwirrte, war die Tatsache, dass Eddie Kaltenbach von sich in der dritten Person sprach. Martin öffnete den Mund. Er wusste, er musste etwas sagen, aber er brachte keinen Ton hervor.
»Eddie hat seinen eigenen Bruder erschossen. Du wolltest seine Frau in Ruhe lassen, wenn er das tut. Aber du hast Sarah trotzdem umgebracht«. Eddie schrie ihm die Worte durch das Schneetreiben entgegen.
Martin war noch immer konsterniert. Doch wenigstens gelang es ihm jetzt, einen halbwegs vernünftigen Satz zu formulieren.
»Ich habe damit nicht das Geringste zu tun.«
Martin war klar, dass Kaltenbach das nicht hören wollte. Aber etwas Besseres viel ihm nicht ein und es war die Wahrheit.
Raphael schüttelte den Kopf. Die Sturmböen zerrten an seiner Kapuzenjacke.
»Das kann nicht sein. Die Todesanzeige deiner Frau lag neben Sarah auf dem Nachttisch? Du wolltest Eddie vor Augen führen, wie es ist, wenn man seine Frau verliert. Du wolltest ihn hierher locken. Eddie hat seinen Bruder nur deshalb getötet, weil du Sarah in deiner Gewalt hattest. Genauso hast du deine Falschaussage vor sieben Jahren vor Gericht gemacht, weil damals Eddies Bruder Udo deine Frau in seiner Gewalt hatte. Jemand hat Eddie mit einem Elektroschocker bewusstlos gemacht, als er ankam. Es war ein abgekartetes Spiel. Das kannst nur du oder dein Komplize gewesen sein.«
Martin schüttelte den Kopf. Auch wenn er wusste, dass es nichts half. Was Kaltenbach ihm da vorwarf, konnte nur dem kranken Gehirn eines Psychopathen entsprungen sein.
»Nein, noch mal, ich weiß nicht, was hier vorgeht. Jemand muss absichtlich den Verdacht auf mich gelenkt haben.«
Plötzlich hatte Raphael ein geradezu dämonisches Grinsen im Gesicht.
»Blödsinn, Waller. Du wirst mir die Wahrheit sagen. Ich werde es aus dir rausquetschen.«
Kaltenbach wies mit der Pistole auf die Seilbahnstation. »Du gehst voran, Waller.«
Es war aussichtslos. Egal, was er Kaltenbach auch erzählen würde. Der Kerl würde ihn foltern, nur um zu sehen, ob Martin bei seiner Aussage blieb. Am Ende würde Martin alles gestehen, was der Irre wollte. Martin drehte sich um und machte den ersten Schritt nach unten.
Eddie wollte offensichtlich Antworten von ihm und würde sich demzufolge schwer tun, ihn zu erschießen. Er konnte also einen Fluchtversuch wagen. Aber wie sollte das gehen? Er war verletzt und außerdem wohin sollte er fliehen?
»Du hättest nicht versuchen sollen, abzuhauen, Waller«, schrie ihm Raphael ins Genick. »Jetzt muss ich mich so oder so doch noch um deinen Sohn kümmern.«
Martin blieb abrupt stehen. Eddie hatte keine Kinder, auch war er emotional gar nicht fähig, nachzuempfinden, was es bedeutete, wenn man welche hatte. Sobald sie auf die Welt kamen, veränderten Kinder alles. Sie lösten ein unendliches Glücksgefühl aus. Doch mit diesem Gefühl wurde auch die Angst, um das eigene Kind, ein stetiger Begleiter. Angst, dass etwas eintreten könnte, vor dem man das eigene Kind nicht beschützen kann. Diese Angst vergeht nie mehr. Wenn auch abgeschwächt, so ist sie doch immer da.
Martin hatte Respekt vor Hunden. Wenn er mit Paul unterwegs war und ein Spaziergänger mit einem Kampfhund ihnen entgegen kam, war ihm ganz klar, dass er sich vor seinen kleinen Sohn stellen würde, falls der Hund auf sie zu rennen und angreifen würde. Das war keine Frage. Es war eine Selbstverständlichkeit, ein natürlicher Reflex, über den man nicht nachzudenken brauchte. Der Schutz des eigenen Kindes, ging über den Wunsch, selbst weiter zu leben hinaus.
In dem Kaltenbach Martin unmissverständlich zu verstehen gegeben hatte, dass er auch Paul töten würde, wenn er mit Martin fertig war, löste er die gleiche Schutzreaktion Martins aus. Martin war bereit zu sterben, wenn Paul dafür leben konnte.
Die Gedanken schossen in Sekundenbruchteilen durch Martins Kopf. Wenn sie erst einmal unten in der Station wären, würde Eddie ihn als Erstes fesseln. Dann hätte er keine Chance mehr zu entkommen. Im Grund genommen hatte er die mit seinem gebrochenen Arm und dem kaputten Knie auch hier und jetzt im hohen Schnee schon nicht. Nicht gegen diesen Kerl, der schon unzählige Kämpfe in seinem Leben bestritten hatte, während Martin noch nicht einmal eine kleine Schlägerei auf dem Konto hatte. Aber das spielte keine Rolle mehr. Einem Kampfhund hätte er schließlich auch den Arm in dem Bewusstsein hingehalten, dass der Hund die Knochen mit Leichtigkeit durchbeißen würde. Es ging um seinen Sohn. Im nächsten Augenblick flogen sämtliche Sicherungen aus Martins Gehirn.
Er drehte sich um und ging zu allem entschlossen auf Kaltenbach los. Der Abstand betrug vielleicht drei Meter. Aber in dem hohen Schnee dauerte es eine scheinbare Ewigkeit, einen Fuß vor den andern zu bekommen. Raphael war über Martins Manöver so überrascht, dass er für eine Sekunde nichts sagen konnte. Dann fand er seine Fassung wieder.
»Was soll denn der Scheiß, Waller?«
Er richtete seine Waffe auf Martins Kopf.
»Muss ich dich wirklich jetzt schon erschießen?«
Martin reagierte nicht. Er kämpfte sich weiter auf Raphael zu. Martin sah ihm dabei in die Augen. Er konnte erkennen, dass Raphael hin und her gerissen war. Gerne hätte er Martin eine Kugel verpasst, aber dann würde er niemals die Informationen bekommen, die er sich von ihm erwartete.
Kurz bevor Martin ihn erreichte, senkte Raphael blitzschnell die Pistole und schoss. Die Kugel drang knapp neben Martins linkem Knie in den Schnee ein. Ein Warnschuss. Martin hielt für einen Moment instinktiv inne. Das laute Knallen des Schusses hallte an den umliegenden Bergwänden wieder. Dann machte er eine weitere Bewegung auf Eddie zu. Was dann geschah, dauerte nur Sekunden, auch wenn es Martin in seiner persönlichen Wahrnehmung viel länger vorkam.
Als der Schuss fast verklungen war und Martin den nächsten Schritt machen wollte, wurde der verklingende Widerhall des Schusses von einem anderen Geräusch überlagert und schließlich abgelöst. Es war ein undefinierbares Rauschen wie das Tosen einer anbrandenden Welle. Martin wusste noch nicht, was es war, aber er wusste, dass der Schuss die Ursache dafür gewesen sein musste. Das Geräusch klang bedrohlich und wurde schnell lauter. Martin dachte an Wasser, das in einem gigantischen Wasserkocher zu brodeln begann. Plötzlich wusste er, was es war. Er hatte gerade noch die Zeit, vor Schreck die Augen aufzureißen. Dann ging alles ganz schnell.
Martin sah hinter Eddie eine riesige Schneewolke auftauchen. Es war eine Lawine, ausgelöst durch den Schuss. Martin drehte sich um, nach unten in Richtung der Seilbahnstation und sprang. Eddie schaffte es nur noch, sich umzudrehen. In dem Moment überrollten die Schneemassen ihn auch schon. Weniger als eine Sekunde später erfasste die Lawine auch Martin.