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Oh Gott, bitte nein. Panik durchzuckte seinen Körper. Er versuchte, sich gegen das Gewicht des Schnees zu stemmen. Er gewann ein paar Zentimeter und verlor jede Menge Kraft. Sein Atem ging schnell und flach. Seine Augen wanderten unablässig hin und her. Ich komme hier nie wieder raus, ich ersticke. Ich sterbe. Die Gedanken bemächtigten sich seiner, schlugen eine breite Schneise in seine Gehirnwindungen und durchtrennten sämtliche Verbindungen, die es ihm ermöglicht hätten, vernünftig zu sein. Er schwitzte, obwohl er vom kalten Schnee umhüllt war wie ein Lou de Mère im Salzmantel.
Er hatte sein ganzes Leben den Schnee gemieden. Dafür hatte es nur einen Grund gegeben. Das Trauma seiner Kindheit saß tief. Mit jeder Schneeflocke, die seitdem vom Himmel gefallen war, hatte er die schrecklichsten Stunden seines Lebens wieder vor Augen gehabt. Begraben im Schnee. Und jetzt hatte ihn dieser Alptraum in der Realität eingeholt. Er verfluchte seinen Therapeuten, der ihm geraten hatte, sich seinen Ängsten zu stellen. Was wussten diese Psychoheinis schon. Die hatten ihr Wissen aus schlauen Lehrbüchern und gaben das wieder, was man ihnen an der Uni vorgekaut hatte. Und er war ein Schaf in der Herde gewesen, hatte geglaubt, ihm könne geholfen werden. Aber am Ende wusste doch jeder Mensch am besten ganz intuitiv, was für ihn am besten ist. Wie oft hatte er sich schon gesagt, er müsse sich mehr auf sein Bauchgefühl verlassen. Hätte er es getan, hätte er darauf vertraut, dann wäre er nicht in dieses Hotel gefahren. Und er wäre jetzt nicht von einer Lawine erfasst worden und unter Bergen von Schnee ohne Hoffnung auf Rettung begraben.
Paul kam ihm in den Sinn. Er sah ihn vor sich, wie er weinte, weil sein Vater nicht mehr kam, wie schon seine Mutter drei Jahre davor, einfach nicht mehr gekommen war. Martin begriff in diesem Moment, dass er noch lebte und solange er das tat, musste er kämpfen. Das war er Anna und das war er Paul schuldig. Er rief sich seine Sitzungen mit Dr. Hörschler in Erinnerung. Dessen beruhigende Stimme. Beginnen Sie mit der Atmung, wenn Panik und Angst Besitz von Ihnen ergreifen. Mit dem gesunden rechten Arm, der wie ein Wunder vor seiner Brust gelandet war, hatte Martin eine Mulde gegen den Schnee gedrückt, mit der rechten Hand, begann er nun zu schaben. Dabei konzentrierte er sich voll auf seine Atmung. Er spürte, wie er ruhiger wurde. Sein linker Arm lag unter Martins Rücken. Er nahm ihn nur noch in einem großen, alles durchziehenden Schmerz wahr. Wahrscheinlich war der Schmerz der Grund, warum er überhaupt bei Bewusstsein war. Martin fragte sich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn die Lawine ihm gleich das Genick gebrochen hätte. Vermutlich ja, denn bald würde ihm der Sauerstoff ausgehen oder er würde erfrieren, bevor er ersticken würde. Es war vollkommen dunkel in seinem Grab. Die Schneedecke musste dick sein. Die Panik blieb. Er versuchte, sich weiter zu beruhigen und an seinen Atem zu denken. Natürlich wollte es ihm nicht sofort gelingen. Seine Gedanken waren in einer für ihn unerreichbaren Endlosschleife gefangen. So musste es sich anfühlen, wenn man verrückt wurde. Er zwang sich, an etwas Schönes zu denken. Dann sah er kurz ein Bild aufflackern, dann noch eins. Paul an seinem sechsten Geburtstag. Zwei Kinder aus der Nachbarschaft hatten mit ihm gefeiert. Und Paul hatte gelacht, wie er es noch nie getan hatte. Martin war so glücklich gewesen. Es gab Fälle, in denen sich der Autismus mit der Zeit verbesserte und dieser Tag hatte Anlass gegeben, daran zu glauben, dass Paul vielleicht irgendwann ein normales Leben führen könnte. Martin spürte, wie ihm eine Träne an der Backe entlang glitt und das gab ihm neue Hoffnung.
Sein Therapeut hatte ihm geraten, er solle sich mit der damaligen Situation, als ihn die Kinder im Schnee begraben hatten, auseinandersetzen. Völliger Unsinn, es hatte Martin nichts von seiner Angst genommen, aber eine Sache, die er damals aus therapeutischen Gründen zum Thema Schnee und Lawinen gelesen hatte, fiel ihm jetzt wieder ein. Bis eben hatte er noch nicht einmal gewusst, wie seine Lage im Schnee war. Er konnte quer zur Oberfläche liegen oder mit dem Kopf nach unten. Jetzt wusste er es genau. Die Tränen waren senkrecht nach unten an seinen Backen herunter gelaufen, das bedeutete, dass sein Gesicht gerade nach oben zur Oberfläche blickte. Er musste sich also nicht noch mühselig in die richtige Lage bringen, sondern brauchte nur irgendwie gerade nach oben zu stoßen. Um das in Erfahrung zu bringen, hätte er auch etwas Speichel aus dem Mundwinkel fließen lassen können. Aber das war ihm in seiner Hoffnungslosigkeit nicht mehr eingefallen. Vielleicht hatte er es sich auch einfach nicht getraut, weil ein negatives Ergebnis gleichzeitig sein Todesurteil gewesen wäre. Und noch etwas anderes hatte er anscheinend instinktiv befolgt, wie es in dem Bericht über Schutz vor Lawinen für den Fall einer Verschüttung geraten wurde. Er hatte die Beine angewinkelt. Jetzt konnte er sich durch das Strecken der Beine den Platz schaffen, den er zum Atmen, und um mit der einen Hand weiterzuschaufeln, dringend brauchte.
Er hatte keine Ahnung, wie lange er gegraben hatte. Aber er stellte fest, dass allein die Beschäftigung mit seiner Befreiung seine Panik in Schach hielt. Er hatte seinen linken Arm hinter seinem Rücken befreien können. Die Schmerzen waren nicht zu beschreiben. Dann machte er weiter und weiter, schob sich Stück für Stück durch den Tunnel, den er nach oben in den Schnee grub, hinauf. Immer wieder dachte er an Paul. An das Leben, das sie gemeinsam führen konnten, wenn er es aus diesem Grab schaffen würde. Er dachte daran, dass es dann vorbei war. Er musste nur noch hier raus. Eddie war tot. Die Lawine hatte ihn frontal erwischt. Die Bedrohung war vorüber, sobald er hier raus wäre.
Als seine Kräfte fast völlig versiegten, entdeckte er etwas, das neue Hoffnung in ihm nährte und ihn weitermachen ließ. Es wurde heller über ihm. Und mit jedem Zentimeter, den er den Schnee beiseite räumte, war er sicherer über sich, ein helles Licht zu sehen. Irgendwann durchstieß seine Hand die Schneedecke. Sein Kopf folgte und schließlich schaffte er es, seinen ganzen Körper aus dem Tunnel zu wuchten. Als er dann, völlig erschöpft auf dem Schneeberg lag, unter dem er begraben gewesen war, konnte er es nicht fassen. Er hatte es geschafft. Und im gleichen Moment wusste er, dass er nicht nur dem Tod entkommen war, sondern sich auch von seinem Trauma befreit hatte.
Er rappelte sich auf und blickte sich um. Die Lawine hatte ihn über hundert Meter nach unten mit sich gerissen. Er saß zu Füßen der Seilbahnstation und das Licht, dass er durch die Schneedecke hatte scheinen sehen, stammte von der Lampe über der verschütteten Eingangstür.