62
Knut Winkler, so hieß der verdeckte Ermittler, der vor Martins Augen von Eddie Kaltenbach erschossen worden war. Selma war seine Frau gewesen. Martin erinnerte sich dunkel daran, dass Winkler verheiratet gewesen war und die Frau als Nebenklägerin bei dem Prozess gegen Eddie Kaltenbach aufgetreten war. Martin hatte sie damals nicht sonderlich beachtet. Er hätte nur sagen können, dass die Frau dunkle Haare gehabt hatte. Ein Gesicht sah er nicht mehr vor sich. Selma hatte blonde Haare, aber Haare ließen sich färben.
»Was ist mit den Botschaften? Die E-Mails von Anna?«, stotterte Martin.
Selma lächelte ihn dämonisch an. Sie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort, wusste, dass sie ihn so quälen konnte.
»Ich habe dir die E-Mails unter dem Namen deiner Frau geschrieben. Alle Nachrichten, ob der Zettel in Zurbriggens Folterkammer oder der Text auf Zurbriggens Computer. Das war alles ich. Ich wollte dich ein wenig quälen mit der Vorstellung, dass Anna noch leben könnte, dass sie hinter all den Morden stecken könnte. Aber sie ist tot. Es war Anna, die du vor drei Jahren beerdigt hast.«
Martin war wiederum nicht sofort fähig, das schnell genug zu verarbeiten. Die Schmerzen waren unerträglich. Sein Arm, der Kopf, die Rippen und sein Finger, seinen ganzen Körper durchströmten Schmerzen. Aber die Mitteilung, dass Selma ihn nur hatte treffen wollen, indem sie die Hoffnung in ihm geschürt hatte, dass Anna noch leben könnte, traf ihn noch mehr. Und wenn Selma die Schreiberin der E-Mails war, hatte sie dann auch die Menschen im Hotel getötet? Das war völlig abwegig. Sie schien seine Gedankengänge lesen zu können.
»Mattfeld, Dr. Baltes, Udo und Eddie Kaltenbach und du. Diese fünf Personen stehen auf meiner Todesliste«, sagte sie. Sie hielt die Pistole in ihrer Hand hoch. »Die hier ist übrigens seine.« Sie deutete mit einem Kopfnicken auf Eddie. »Den Bullen werde ich sagen, ich hätte sie draußen im Schnee gefunden, als ich mit den Skiern hergefahren bin, um dir zu helfen. In Wahrheit hab ich sie ihm abgenommen, als ich ihn nach seiner Ankunft vor dem Hotel mit einem Elektroschocker niedergestreckt habe.«
Sie hat es zugegeben, dachte Martin. Sie war es, nicht Eddie Kaltenbach. Sie hat die Menschen im Hotel auf dem Gewissen. Er starrte Selma mit halboffenem Mund an. Der Schock der Erkenntnis saß wie ein Kloß in seinem geschundenen Hals. Erst nach einer scheinbaren Ewigkeit war Martin imstande, sich zu artikulieren, wenn auch nur langsam und mühselig. Sein ganzes Denken und Reden glich einer Schlittenfahrt ohne ausreichenden Schnee. Es war frustrierend. Selma war seine Vertraute gewesen, die Person, der er nach Annas Freitod am ehesten sein Leben anvertraut hätte und jetzt stellte sich heraus, dass sie eine Mörderin war, mehr noch, sie wollte ihn umbringen. Aber Zurbriggen stand nicht auf ihrer Liste. Higgins auch nicht, genauso wenig wie Eddies Frau. Doch auch sie waren tot.
»Warum?«
Selma lachte hysterisch auf. Sie warf dabei ihren Kopf zur Seite und wischte sich eine Strähne ihrer blonden Haare aus dem Gesicht. Nichts erinnerte mehr an die Frau, die er kannte. Ihre Züge waren auf einmal vollkommen hasserfüllt.
»Du hast vor sieben Jahren einen Mord beobachtet, den Mord an meinem Mann. Anna hat mir verraten, dass du Eddie Kaltenbach erkannt hast, aber um sie zu schützen, vor Gericht eine falsche Aussage gemacht hast. Sie hat mir alles erzählt. Du hast dafür gesorgt, dass der Mörder meines Mannes bis heute frei herumlief.«
Martin überraschte es nicht, dass Anna sich ihrer vermeidlich besten Freundin mit all ihren Sorgen anvertraut hatte. Er war jedoch überzeugt, dass Anna genauso wenig wie er gewusst hatte, dass Selma die Ehefrau des ermordeten Polizisten gewesen war.
»Es ging um das Leben meiner Frau«, sagte er. »Udo Kaltenbach hatte Anna während des Prozesses in seiner Gewalt und sie massiv bedroht. Wenn ich die Falschaussage nicht gemacht hätte, hätte er sie getötet. Dein Mann war bereits tot, meine Aussage hätte ihn nicht wieder lebendig gemacht.«
»Sehr geschickt formuliert, Herr Strafverteidiger. Ich bekomme fast Mitleid mit dir. Mein Mann hat große Stücke auf dich gehalten.«
»Dein Mann?«
»Ja, er kannte dich. Du warst damals ziemlich gut, in dem, was du getan hast. Knut hatte einen Termin bei dir, als dieses Monster«, dabei zeigte sie mit der Pistole auf Kaltenbach, »ihn, kurz bevor es dazu kam, im Park gefunden hat.«
Sie machte eine kurze Pause und sah Martin direkt in die Augen, um die Wirkung ihrer folgenden Worte noch zu unterstreichen.
»Er hätte nicht sterben müssen, wenn du pünktlich gewesen wärst.«
Martin konnte es nicht glauben.
»Dein Mann war der anonyme Anrufer, der mich an diesem Nachmittag unbedingt sprechen wollte?«, flüsterte er fassungslos.
Selma schloss die Augen und sprach leise weiter. Offenbar fiel es ihr immer noch nicht leicht über das, was geschehen war, zu sprechen.
»Er war zur verabredeten Zeit in deiner Kanzlei. Deine Sekretärin sagte ihm, dass es noch dauern könne. Du seist auf einem Außentermin. Er wartete eine halbe Stunde. Dann wurde er unruhig. Er fühlte sich im Wartezimmer deiner Kanzlei wie auf dem Präsentierteller. Schließlich hielt er die Warterei nicht mehr aus und ging hinaus in den Park, um sich dort zu verstecken. Wahrscheinlich hat Eddie Kaltenbach ihn schon beim Rauskommen beobachtet. Knut rief mich an und sagte, dass er Angst hat, weil er in Mattfelds Organisation aufgeflogen war. Als du dann endlich mit deinem Fahrrad angeradelt kamst, auf dem Weg in die Kanzlei, wurdest du Zeuge, wie Eddie Kaltenbach meinen Mann erschossen hat.«
Martin war geschockt. Er hatte niemals einen Zusammenhang zwischen dem von ihm beobachteten Mord und dem anonymen Anrufer gesehen, der dringend einen Termin bei ihm hatte haben wollen, dann aber nach kurzer Wartezeit wieder gegangen war, wie seine Sekretärin ihm berichtete.
»Dein Mann war zu früh. Er war eine halbe Stunde vor der vereinbarten Zeit da. Ich war höchstens zehn Minuten zu spät.«
Wie aus dem Nichts versetzte ihm Selma eine schallende Ohrfeige. Er spürte es angesichts der übrigen Schmerzen kaum.
»Das spielt keine Rolle mehr. Du warst zu spät. Knut wollte dir das Beweismaterial gegen Rita Mattfeld und Dr. Baltes, das er auf einem USB-Stick gesammelt hatte, übergeben. Wärst du da gewesen, hätte das alles nicht zu geschehen brauchen.«
Martin sah, dass Selma außer sich vor Wut war. Es würde sie nur weiter in Rage versetzen, wenn er ihr jetzt sagte, dass ihr Mann dann möglicherweise trotzdem getötet worden wäre, allein weil er in den Augen dieser Kriminellen ein Verräter war, der sich ihr Vertrauen erschlichen und sie anschließend hintergangen hatte. Diese Tatsache jetzt auszusprechen, war nicht nützlich. Er musste das Gespräch in eine andere Richtung lenken. Denk nach, spornte er sich an. Du warst Strafverteidiger. Du kannst das.
»Warum hat er sich nicht an die Staatsanwaltschaft oder an seine Kollegen gewandt?«, fragte er schließlich.
Selma schüttelte vehement den Kopf.
»Das ging nicht. Er hatte unbemerkt ein Computerprogramm auf Rita Mattfelds PC installieren können, mit dem er auf sämtliche darauf gespeicherte Daten von seinem Computer aus zugreifen konnte. Sie hatte E-Mails mit Inhalten bekommen, die nur die Staatsanwaltschaft oder seine Kollegen kennen konnten. Und irgendjemand aus diesem Kreis hat dann einen Tag vor Knuts Ermordung per E-Mail seine Identität auffliegen lassen. Deshalb konnte er mit seinen Beweisen nicht zur Staatsanwaltschaft gehen. Da bist du ihm eingefallen, der Strafverteidiger. Aber Eddie kam ihm zuvor. Nur, weil du unpünktlich warst.«
»Das tut mir Leid«, sagte Martin. Jetzt verstand er, warum er auf Selmas Liste stand. In ihren Augen hatte er doppelt Schuld. Sie sah in seiner Unpünktlichkeit den Grund dafür, dass ihr Mann im Park erschossen worden war und dann hatte er mit seiner Falschaussage auch noch dafür gesorgt, dass der Mörder ihres Mannes nie bestraft wurde.
Selma schloss die Augen und senkte den Kopf. Er glaubte, eine Träne auf ihrer Wange zu sehen.
»Das macht es nicht ungeschehen. Rita Mattfeld hat Udo Kaltenbach für den Mord an meinem Mann bezahlt und Udo hat wie immer seinen Bruder Eddie geschickt, um die Drecksarbeit zu erledigen. Eddie fand den USB-Stick, den Knut bei sich hatte. Aber etwas anderes übersah er. Im Absatz von Knuts Schuh war ein Schlüssel zu einem Postschließfach. Darin war ein weiterer USB-Stick und im Keller unseres Hauses in einer Flasche mit Sand vom letzten Urlaub am Meer von vor vier Jahren, steckte noch ein Stick mit den gleichen Beweisen. Knut hat mir das am Telefon erzählt, als er im Park war. Kurz bevor er ermordet wurde. Er hat mir gesagt, sie seien ihm auf den Fersen, dass er mich liebt, und wo er die Beweise noch versteckt hatte. Ich hatte nicht mal mehr die Gelegenheit ihm zu sagen, dass ich in sieben Monaten ein Kind von ihm erwarte.«
Martin schluckte.
»Seit ich dich kenne, habe ich nie ein Kind bei dir gesehen.«
»Ich habe auch keins. Ich habe es verloren. Die Ärzte sagten, es sei der Schock über den Tod meines Mannes gewesen. In gewissem Sinne haben Eddie Kaltenbach und die Leute, die hinter ihm standen, nicht nur meinen Mann, sondern auch mein Kind ermordet. Wie würdest du damit umgehen?«
Martin konnte nur erahnen, wie sie sich gefühlt haben musste. Das Verlangen nach Rache war so alt wie die Menschheit, gehörte zu den Urtrieben, die in uns schlummern. Auch wenn Moral und Erziehung uns lehren, diese Triebe im Zaum zu halten, so sind sie doch keinem Menschen fremd. Er konnte sich vorstellen, dass ein so einschneidendes Erlebnis, wie die Ermordung des Ehepartners und der damit einhergehende Verlust des erwarteten Babys alle Dämme zum Brechen bringen konnte. Er wusste nicht, wie er reagiert hätte, wenn Udo Kaltenbach damals Anna etwas angetan hätte, oder wenn jemand Paul, diesem unschuldigen Kind etwas antun würde. Er konnte sich an den Fall Marianne Bachmeier erinnern. Die Mutter des ermordeten Kindes hatte den angeklagten Mörder im Gerichtssaal erschossen, und wenn er ehrlich war, er hatte es nachvollziehen können, wie wahrscheinlich die meisten anderen auch, auch wenn sie es offiziell verurteilten.
»Darum tötest du alle Menschen, die am Tod deines Mannes auf die eine oder andere Art schuld sind«, sagte er. »Aber ich habe deinen Mann nicht ermordet. Und du warst Annas beste Freundin und nach ihrem Tod hast du mir beigestanden, wie passt das zusammen?«
Selma sah ihm daraufhin fest in die Augen.
»Du warst unpünktlich und du hast durch deine Falschaussage dafür gesorgt, dass Knuts Mörder freikommt. Du bist schuldig. Anna hingegen war ein Opfer, genau wie ich.«
Martin hatte bisher nicht geweint, trotz der Schmerzen. Jetzt wurden seinen Augen feucht und ein paar Tränen liefen über seine Wangen. Es waren auch Tränen der Enttäuschung. Die E-Mails von Anna hatten in ihm insgeheim die Hoffnung geweckt, dass seine Frau doch noch am Leben war. Jetzt musste er feststellen, dass ihre beste Freundin ihn mit dieser Vorstellung und der nun so abrupt wieder gestorbenen Hoffnung nur quälen wollte, weil sie ihm eine Mitschuld am Tod ihres Mannes gab.
»Anna war ein Engel«, flüsterte er und senkte den Blick.
Kurz herrschte Schweigen. Kein Geräusch war zu hören. Selbst der Wind war inzwischen verstummt.
»Weißt du, wo ich deine Frau kennen gelernt habe?«, sagte Selma.
Martin sah Selma erstaunt an.
»Anna hat mir erzählt, dass ihr euch beim örtlichen Lauftreff kennen gelernt hättet. Ihr wärt euch auf Anhieb sympathisch gewesen.«
Selma legte den Kopf schief und lächelte.
»Das war gelogen. In Wirklichkeit haben wir uns im Wartezimmer unseres gemeinsamen Psychotherapeuten Dr. Hörschler zum ersten Mal gesehen. Kurz darauf noch mal in der Stadt. Wir haben spontan einen Kaffee zusammen getrunken und uns angefreundet. Ich habe Anna sofort in mein Herz geschlossen. Als wir unsere Adressen austauschten, ging mir auf, mit wessen Frau ich da angebandelt hatte. Mit der Frau des Mannes, der für den Freispruch des Mörders meines Mannes verantwortlich war. Das war für mich ein Zeichen. Ein göttliches Zeichen für meine Blutsühne. Ich glaube, ab diesem Tag, begann der Rachegedanke in mir zu brennen. Anna hat sehr unter ihren Depressionen gelitten. Sie tat mir wirklich leid. Aber Dr. Hörschler konnte ihr genauso wenig helfen, wie mir.«
Martin hörte ungläubig zu. Er hatte versucht, Anna zu einer Psychotherapie zu bewegen, als er merkte, wie sie sich nach und nach aus dem Leben zurückzog und in eine immer größere Niedergeschlagenheit verfiel. Sie hatte es stets abgelehnt. Jetzt erfuhr er, dass sie bei Dr. Hörschler in Behandlung gewesen war, demselben Psychologen, bei dem auch er wegen seiner Ängste und wegen des Alkoholproblems war. Dr. Hörschler hatte nie erwähnt, dass Anna seine Patientin gewesen war. Im gleichen Moment dachte er an die ärztliche Schweigepflicht. Wenn Anna es Hörschler ausdrücklich verboten hatte und er sich auch nach ihrem Tod ihr gegenüber verpflichtet gefühlt hatte, war dagegen nichts einzuwenden. Er fixierte Selma so gut es ging. Sein Kopf wankte dabei langsam hin und her, als ob er getrunken hätte. Aber es war eine Benommenheit, die von seiner Erschöpfung und den verdammten Schmerzen herrührte.
»Und du, hast du Anna die Wahrheit darüber gesagt, warum du in Behandlung warst?«
»Nein, ich habe ihr erzählt, ich hätte meinen Mann und mein Baby bei einem Autounfall verloren und käme damit nicht klar. Das war alles. Sie hatte bis zu ihrem Tod keinen Schimmer, wer ich wirklich war. Aber ich habe deine Frau gemocht, sie war genauso unschuldig wie ich und doch haben wir beide am meisten durchgemacht.«
Martin ging es schlecht. Lange würde er nicht mehr durchhalten und ihn ergriff eine dunkle Vorahnung.
»Hast du etwas mit Annas Tod zu tun?«, hauchte er.
Selma atmete tief ein und wieder aus. Erst dann kamen die Worte, die Martin so tief erschütterten, dass er sich wünschte, auf der Stelle das Bewusstsein zu verlieren.
»Ich wusste, dass sie sich umbringen würde. Sie hat oft davon gesprochen. Anfangs habe ich es ihr ausreden wollen, aber dann habe ich verstanden, dass es für alle das Beste war und sie in ihrem Plan unterstützt. Ich war bei ihr, als sie starb. Ich saß auf dem Rand der Badewanne und sah ihr beim Sterben zu. Sie ist friedlich eingeschlafen. Das mit den Pulsadern, den ekligen Teil, den habe ich übernommen. Ich wollte einfach sicher sein, dass sie auch wirklich stirbt. Ihren Abschiedsbrief, den ich dir aushändigen sollte, habe ich verbrannt.«
Martin wurde nicht ohnmächtig. Zu seinen äußerlichen Wunden kam nun ein weiterer innerer Schmerz hinzu, der nicht minder schlimm war. Er hatte sich so oft gefragt, warum Anna ihm keinen Brief zum Abschied hinterlassen hatte. Sein Herz schien vor Kummer stehen bleiben zu wollen. Er schluchzte wie ein kleines Kind.
»Glaubst du es war ein Zufall, dass ich den gestrigen Tag für meinen Plan ausgesucht habe, ihren Todestag?«
»Mein Gott«, entfuhr es Martin. »Wie konntest du das nur tun? Sie hat dir vertraut. Sie dachte, du wärst ihre Freundin und du könntest sie verstehen.«
Selma lachte ungerührt.
»Siehst du es denn nicht? Es ist so einfach. Ich war ihre Freundin, ich bin es immer gewesen und deshalb habe ich ihr geholfen, dieses Leben loszulassen. Ich habe darüber nachgedacht. Der Tod war das Beste für sie. Er war ihre Erlösung. Gleichzeitig bewirkte ihr Tod noch etwas anderes. Er fügte dir, Martin, unsägliches Leid zu. So hast du gespürt, was ich beim Verlust meines Mannes gespürt habe. Du musstest dich fragen, ob du es hättest verhindern können, ob du wirklich alles gegeben hast, um es zu verhindern, ob du es hättest erkennen müssen. Mit Annas Tod begann meine Rache an dir.«
Martin senkte den Kopf auf die Brust und schloss die Augen. Er atmete schwer. All das, was er bisher für Schicksal gehalten hatte, erwies sich nun als ein heimtückischer Plan einer verletzten Seele. Die Erkenntnis stieß ihm heiß wie ein glühendes Eisen in die Eingeweide. Tränen rannen über seine Wangen. Dann hob er den Kopf und diesmal, gelang es ihm zu schreien.
Selma fuhr indessen fort.
»Ich war jahrelang in der Psychotherapie und sie hat rein gar nichts bewirkt. Nicht, dass ich Dr. Hörschler für einen Nichtskönner halte. Er gibt weiter, was man ihm im Studium beigebracht hat. Aber im Grunde genommen wissen wir nicht viel über das menschliche Gehirn. Vielleicht hilft es ja dem ein oder anderen, aber bei mir hat es nicht funktioniert. Immer wieder sollte ich mich mit meinem Trauma konfrontieren, um es irgendwann zu verarbeiten, abzuhaken, sozusagen. Aber je länger ich auf der Couch lag und darüber sprach, desto größer wurde mein Hass. Der Mörder meines Mannes lief frei herum, während ich alles verloren hatte. Mein Leben war zu Ende. Alles, was es ausgemacht hatte, war zerstört. Die ganze Therapie hat mir nur immer wieder klar gemacht, dass ich nicht vergessen wollte, ich wollte nichts abhaken und weitermachen. Ich fing an, in Gedanken die Menschen zu töten, die für mein Unglück verantwortlich waren und ich empfand Erleichterung, sie in dem Film, der sich dabei in meinem Kopf abspielte, sterben zu sehen. Dann traf ich Anna. Das konnte kein Zufall sein. Es war göttliche Fügung.«
Martin versuchte, seinen Hass auf die Frau vor ihm, die Frau, die ihm Anna genommen hatte, zu verdrängen. Er schaffte es, weil er an Paul dachte. Er musste weiter machen.
»Zurbriggen und der Koch hatten mit dem Mord an deinem Mann nichts zu tun.«
Selma lächelte kalt.
»Meier war ein Kollateralschaden. Sein Tod war nicht gewollt, aber unvermeidbar. Er war zur falschen Zeit am falschen Ort. Bei Zurbriggen habe ich es genossen, ihm seinen kranken Kopf abzuschlagen. Er war ein Teufel. Er hatte es schon lange verdient, zu sterben.«
Martin war verblüfft über die Nüchternheit, mit der Selma über ihre Bluttaten sprach. Es war, als beschriebe sie etwas aus der Distanz, ohne das Geringste damit zu tun zu haben.
»Die letzte Nacht ist chaotisch verlaufen. Ich glaube nicht, dass du alles geplant hast«, stieß Martin hervor. Die Schmerzen in seinem gewürgten Hals wurden mit jedem Wort unerträglicher. Er konnte nur noch leise sprechen.
Selma legte den Kopf erneut schief und schaute ihn merkwürdig an. Ihre Augen hatten diesen speziellen Touch, wie ihn nur Verrückte hatten.
»Alles kann man eben nicht planen. Meiers Tod konnte ich nicht verhindern. Aber das meiste lief genauso, wie ich es mir ausgedacht habe. Ihr wart alle meine Marionetten für eine Nacht. Es war meine Vorstellung. Das Beste ist, wenn ich dich jetzt gleich töte, wenn ich dir gleich die Luft zum Atmen nehme, dann fällt überhaupt kein Verdacht auf mich. Eddie Kaltenbach ist der verrückte Killer und ich bin die mutige Heldin, die ihn bei dem Versuch, dich zu retten zur Strecke gebracht hat.«
Martin schauderte bei dem Gedanken, aber sie hatte Recht. Es gab keine Möglichkeit, ihr die Morde nachzuweisen. Sie hatte zwar Eddie erschossen, doch das konnte sie als Notwehr hinstellen. Und sie konnte angeben, sie habe Martin Waller schon erdrosselt vorgefunden.
Selma stand plötzlich auf und beugte sich hinunter zu Eddie. Aus der kleinen aufgesetzten Tasche über seiner eigentlichen Hosentasche zog sie einen pillengroßen Gegenstand hervor und steckte ihn ein.
»Ich habe ihm den Sender draußen, als er bewusstlos war, verpasst. Mit dem Gerät hier«, sie zog ein handgroßes, rechteckiges Teil mit einem übersichtlichen Display aus ihrer Jackentasche hervor, »wusste ich die ganze Zeit über, wo genau Eddie sich im Hotel aufhielt. Mit dem Ding habe ich euch beide auch hier in der Seilbahnstation geortet. Sei froh, sonst wärst du jetzt schon tot.«
Ihre Stimme war voll Sarkasmus. Was hätte Martin ihr antworten sollen, oh wie schön, dass ich nicht, ohne die Wahrheit zu kennen, sterben muss.
Martin musste daran denken, was Eddie gesagt hatte. Neben seiner ermordeten Frau habe Anna Wallers Todesanzeige gelegen. Jetzt ging Martin auf, dass Selma damit tatsächlich nur einen Köder für Eddie ausgelegt hatte.
»Hast du Eddies Frau erschossen?«
Selma nickte.
»Es war bedauerlich, aber nicht zu vermeiden. Das Schwein sollte leiden, wie ich gelitten habe. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Er hat mir meinen liebsten Menschen genommen und ich ihm seinen.«
Martin erkannte jetzt, dass Selma einem einfachen Muster gefolgt war. Sie hatte ihren Mann verloren, deshalb mussten Eddie und er ihre Frauen verlieren. Selma war so unerträglich selbstsicher. Das machte Martin wütend. Sie ging felsenfest davon aus, dass sie damit durchkommen würde und das Schlimmste war, er konnte nichts daran ändern. Er war ihr ausgeliefert, wie er es zuvor Eddie gegenüber gewesen war. Er dachte wieder an Paul. Er musste sich irgendwie befreien. Sein Blick schweifte in wilder Panik umher. Er rüttelte noch einmal an seinen Fesseln. Selma behielt ihn dabei im Auge. Schließlich gab er es auf. Es war aussichtslos. Die Stricke saßen fest wie Beton und sie hatte eine Pistole. Er sah ihr wieder in die Augen. Aber er konnte reden. Er war Strafverteidiger gewesen. Jetzt waren Worte vielleicht seine letzte Hoffnung. Konnte er Selma zu einem Freispruch überreden? Er stellte sich den Gerichtssaal vor, wie er mit schwarzer Robe das wichtigste Plädoyer seiner Karriere hielt, denn der Angeklagte war er selbst und ihm drohte keine Freiheitsstrafe, nein, ihm drohte der Tod. Er hatte kein Konzept, keine Zeit sich in die Akten einzuarbeiten, also musste er reden und Fragen stellen und dabei hoffen auf etwas zu stoßen, dass ein Loch in die unerschütterlichen Wände der Festung der Anklage reißen würde. Das Problem dabei war nur, dass er nicht viel Zeit hatte. In diesem Prozess konnte er nicht reden, solange er wollte. Erstens, weil er dafür zu schwach und ihm das Reden vor Schmerzen irgendwann nicht mehr möglich sein würde und zweitens, weil die Anklage ebenfalls unter Zeitdruck stand. Bald würde die Bahn den Berg hinauf kommen und viele Menschen mit bringen. Bis dahin musste Selma ihn töten, wenn ihr Plan aufgehen sollte.
»Eddie sagte, es müsse einen Komplizen geben. Jemand, der seinen Bruder Udo in dessen Wohnung überwältigt hatte und der ihn erschossen hätte, wenn er es nicht getan hätte. Du kannst es nicht gewesen sein, wenn du in Eddies Wohnung, bei dessen Frau warst.«
Wieder musste Selma lachen. Martin war es egal, er musste Zeit gewinnen und dabei den richtigen Zugang zu ihr finden. Allerdings machte er sich dabei nichts vor. Seine Chancen standen schlecht. Sie hatte ihren Tag der Rache jahrelang geplant, und wenn sie ihn überleben ließ, bedeutete das gleichzeitig, dass sie für ihre Taten vor einem Gericht zur Rechenschaft gezogen wurde. Er bezweifelte, dass sie das wollte.
»Du glaubst nicht, was man für 30.000 Euro in der Ukraine alles kaufen kann. Zum Beispiel einen Schlägertrupp, denen scheißegal ist, wen sie windelweich schlagen oder töten, ganz egal ob derjenige, ein Unterweltboss ist oder nicht. Die machen ihre Arbeit und dann fahren sie zurück in irgendein Kaff, das noch nicht einmal in einer Landkarte verzeichnet ist. Einer von denen stand an der Straßenecke und hat mich informiert, als Eddie das Mietshaus, in dem sein Bruder wohnte, betrat. Einen Schützen, der Udo erledigt hätte, wenn Eddie sich geweigert hätte abzudrücken, gab es nicht. Hier habe ich geblufft. Aber ich wusste, dass er abdrückt. Das war Eddies Art. Er war ein Killer. Dagegen kam er nicht an.«
Martin wurde sich langsam bewusst, wie detailliert Selmas Racheplan gewesen war. Sie hatte hier im Hotel alle Protagonisten ihres Spiels zusammengetrieben und sie dorthin gelenkt, wohin sie diese haben wollte. Sie hatte ihm den Job als Möbelrestaurator verschafft. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie sie Zurbriggen überhaupt erst auf die Idee gebracht hatte, dass die alten Möbel dringend wieder neuen Glanz brauchten, und dass sie rein zufällig jemand kenne, der genau darauf spezialisiert ist.
Eddie hatte sie dann mit Annas Todesanzeige auf seine Fährte und damit ebenfalls ins Hotel gelockt. Sie hatte Eddie nach dessen Ankunft, draußen vor dem Hotel mit einem Elektroschocker außer Gefecht gesetzt, als er versuchte ins Hotel einzudringen. Das war die einzig wirklich gefährliche Situation für sie in ihrem Plan. Sie hatte ihm die Pistole abgenommen, um sie genau jetzt einzusetzen.
»Du hast begonnen, in dem Hotel zu arbeiten, nachdem du herausgefunden hast, dass die Eigentümerin und ihr Hausmeister, die beiden Personen waren, gegen die dein Mann verdeckt ermittelt hat und die ihn ermorden ließen, nachdem jemand deinen Mann verraten hat«, sagte Martin.
Selma nickte.
»Gut kombiniert, Herr Strafverteidiger. Es war gar nicht einfach, Mattfeld und Baltes aufzuspüren. Die Polizei hat es nach deren Ausstieg aus der Szene erst gar nicht richtig versucht. Es gab keine schlagenden Beweise gegen die beiden. Ich aber hatte den USB-Stick, den Knut bei uns im Keller versteckt hatte. Auf dem Stick waren auch das Programm und das Passwort, mit dem man auf den Computer Mattfelds über das Internet zugreifen und diesen unbemerkt ausspähen konnte. Ich hatte davon keine Ahnung, also beauftragte ich anonym einen professionellen Hacker, das für mich zu übernehmen. Auffällig war ein unregelmäßiger, aber immer wieder stattfindender Emailkontakt zwischen Konstantin Mattfeld und einer Frau namens Seewald. Der Inhalt der Mails gab nichts her. Nur wo sie sich gerade befand, wie es ihr ging und wie das Wetter war. Die Person schien sich auf einer Weltreise zu befinden, denn die Mails kamen aus allen Teilen der Erde. Dann ein Jahr später schien die Dame sesshaft geworden zu sein. Die Mails kamen häufiger und immer aus der Schweiz. Über das Schweizer Grundbuchamt fand der Hacker heraus, dass eine Marianne Seewald das Hotel Himmelwärts erworben hatte. Im Onlinearchiv des Zermatter Nachrichtenblattes war ein Foto von ihr abgebildet. Sie hatte sich verändert, vielleicht ein paar kleine Gesichtsoperationen, aber die Frau war Rita Mattfeld. Ich kannte die Beweise, aber ich wollte sie nicht nur einfach der Polizei geben. Die Strafe für die Mörder meines Mannes und meines ungeborenen Kindes musste höher ausfallen, als nur ein paar Jahre Knast. Auch die korrupte Staatsanwältin, die meinen Mann verraten hat, musste härter bestraft werden.«
Martin dachte an die Staatsanwältin, die in dem Mordprozess gegen Eddie Kaltenbach als Vertreterin der Anklage aufgetreten und vor zwei Jahren auf offener Straße erschossen worden war. Dr. Michaela Weyrich. Die Polizei war von einem Auftragsmord ausgegangen.
»Dann hast du die Staatsanwältin ermorden lassen?«
Selma schüttelte den Kopf.
»Das haben andere getan.«
»Wer?«
Selma grinste.
»Rita Mattfeld gab den Mordauftrag. Sie fühlte sich von Frau Staatsanwältin Dr. Weyrich betrogen.«
Martin zog die Augenbrauen fragend zusammen.
»Inwiefern betrogen?«
Selma seufzte.
»Ich habe dir doch gesagt, dass Knut einen Schlüssel in seinem Schuhabsatz trug, der zu einem Schließfach passte, in dem ein weiterer USB-Stick mit den Beweisen deponiert war. Die Polizei hat den Schlüssel gefunden. Die ermittelnde Staatsanwältin Dr. Weyrich höchstpersönlich hatte sich laut Ermittlungsakte den Inhalt des Schließfaches angesehen. Sie gab zu Protokoll, dass das Schließfach leer gewesen sei. Daher wusste ich auch, dass sie meinen Mann verraten hatte. So erklärt sich auch ihre hohe Verurteilungsrate. Mattfeld ließ ihr Informationen und Beweise über ihre Feinde aus dem Milieu zukommen.«
Martin blies erstaunt die Luft aus.
»Weyrich stand auf Mattfelds Gehaltsliste und hat ihr den Stick aus dem Schließfach ausgehändigt.«
Selma nickte.
»Und genau das hat sie ihr Leben gekostet.«
Wieder konnte Martin ihr nicht folgen und Selma nur fragend schauen. Selma amüsierte es.
»Niemand wusste, von dem dritten Stick, der in unserem Haus versteckt war. Als ich begann hier im Hotel zu arbeiten, bemerkte ich, dass Zurbriggen einen Detektiv beauftragt hatte, Erkundigungen über die neuen Eigentümer des Hotels einzuholen. Der Detektiv durchforstete daraufhin unter anderem auch das Internet nach Informationen. Den Hacker, den ich schon beauftragt hatte, Mattfelds Aufenthaltsort zu ermitteln, wies ich an, dem Detektiv die Beweise auf dem USB-Stick anzubieten. Als Zurbriggen die Beweise in die Hände bekam, benutzte er sie gegen Mattfeld und Baltes als Druckmittel, wie ich später herausfand, um sein Treiben im Keller ungestraft fortsetzen zu können. Allerdings mussten Mattfeld und Baltes nun davon ausgehen, dass die gute Staatsanwältin Dr. Weyrich ein doppeltes Spiel getrieben hatte und die Beweise kopiert und auch anderweitig verkauft hatte. Sie musste deshalb sterben.«
Ein fremdes Geräusch zunächst leise, doch schnell lauter werdend, ließ Selmas Lächeln und Martins konzentrierten Gesichtsausdruck einfrieren. Martin hatte mit seinen Fragen verzweifelt versucht, ein Loch in ihrer Deckung zu reißen. Bisher vergeblich und jetzt hörte er das deutliche Knattern der Rotoren eines Helikopters. Selma löschte schnell das kleine Licht in der Kabine. Es sollte nicht die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und es war auch nicht mehr notwendig. Die Wolken hatten sich verzogen, ebenso wie der Sturm, und der Morgen dämmerte.
Der Helikopter sauste über die Kabine hinweg und landete oben auf der Plattform vor dem Hoteleingang.
»Jetzt ist es an der Zeit, die Vorstellung enden zu lassen«, sagte Selma.