57

 

Als Martin wieder zu sich kam, wusste er im ersten Augenblick nicht mehr, wo er war und was geschehen war. Bevor er die Augen öffnete, fiel es ihm wieder ein. Jemand hatte ihn im Erdgeschoss der Seilbahnstation niedergeschlagen. Jetzt saß er irgendwo und war gefesselt. Langsam und benommen hob er den Kopf, der bislang nach vorne gebeugt auf seiner Brust geruht hatte. Es war dunkel, aber nicht vollkommen, so wie die letzten Züge der Abenddämmerung. Nur schemenhaft konnte er seine Umgebung erkennen. Aber er erkannte, wo er war, hatte aber keine Ahnung, wie er hierher gekommen war. Er saß in dem Shuttle der Seilbahnstation. Das spärliche Mondlicht schimmerte bläulich durch die getönten Fensterscheiben. Das Seil um seinen Oberkörper drückte auf seinen gebrochenen Arm und die angeknackste Rippe. Bei jedem Einatmen wurden die Schmerzen stärker, da sich sein Oberkörper dadurch ausdehnte, was den Druck des Seiles erhöhte. Also beschränkte er sich darauf möglichst kurz und flach zu atmen, aber der konstante Schmerz blieb.

Plötzlich stand jemand vor ihm. Martin sah zunächst nur die Beine. Sein Blick wanderte nach oben. Er sah das Gesicht nicht. Der Kopf des Mannes verschwand in der Dunkelheit wie die Spitze eines Hochhauses in den Wolken. Dennoch wusste Martin, wer vor ihm stand. Eigentlich war das unmöglich. Aber es war Eddie Kaltenbach. Er hätte tot sein müssen, metertief begraben unter den Schneemassen, die über ihn hereingebrochen waren. Aber andererseits hatte Martin sich auch befreien können. Eddies Arm bewegte sich nach oben. Seine Hand tastete an der Decke und knipste die Sitzbeleuchtung an. Dann setzte er sich Martin gegenüber und lehnte sich in den Sitz. Der von oben kommende schwache Lichtkegel tauchte die beiden Männer in ein diffuses Licht. Eddies Kopf war außerhalb des Lichtscheins, und nur in Schemen zu erkennen. In seinem Mund klimmte eine Zigarette. Martin hörte, wie Eddie inhalierte und den Rauch dann ausblies. Der Qualm drang aus der Dunkelheit in einer dichten Wolke ins Licht und nebelte Martins Gesicht ein. Jetzt beugte sich Eddie vor und Martin konnte sein Gesicht nun klar und deutlich sehen. Eddie verzog keine Miene und war augenscheinlich völlig unverletzt. Wie konnte das sein, dachte Martin. Die Lawine hatte ihn voll erwischt. Dieser Gesichtsausdruck erinnerte ihn an Paul. Genau wie bei dem Jungen, war aus diesem Gesicht weder Freude noch Trauer oder Wut herauszulesen.

»Jetzt bekomme ich meine Antworten also doch noch«, flüsterte Raphael.

Martin ging im Kopf durch, was passiert sein könnte. Eddie war vor ihm hier gewesen. Martin musste an Paul denken. Eddie würde dem Jungen etwas antun. Später, wenn er mich umgebracht hat. Martins Augen weiteten sich, mit einem Schlag, war er wieder hellwach und sein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Er musste sich befreien.

»Die Lawine hat mich an den Rand getragen. War ganz oben auf, als es vorbei war. Hab mir den Schnee von den Kleidern geschüttelt und bin aufgestanden. Ich lag zwar hundert Meter unterhalb, war aber kein Problem hier rauf zu klettern.«

Martin spannte die Muskeln an. Keine Chance, die Schnüre um seine Beine und seinen Oberkörper waren straff gebunden und fest verknotet. Er würde sterben, das wusste Martin plötzlich. Er fühlte es mit der Gewissheit eines Bergsteigers, der vom Felsen abgerutscht war und in freiem Fall dem zerklüfteten Erdboden entgegen sauste. Wie schnell würde ein Mensch werden, bevor er nach tausend Metern auf die Erde klatschte, was blieb von ihm übrig? Diese Fragen geisterten Martin tatsächlich durch den Kopf.

»Hab ein bisschen gewartet, dachte mir, hab ja noch Zeit, bis der Zug kommt und vielleicht kommt Waller ja doch noch aus dem Schnee raus, dann wird er kommen, um das hier zu suchen und so war es dann auch.«

Raphael hielt das Telefon hoch, das er aus dem Kontrolleurszimmer genommen hatte. Unvermittelt schlug er Martin damit ins Gesicht.

»War gerade unten, als ich dich die Außentreppe raufkommen hörte. Hab das Licht ausgemacht und auf dich gewartet.«

Martins Gesicht brannte von dem Aufschlag des Telefons. Eddie hatte ihn seitlich neben dem linken Auge getroffen. Martin spürte förmlich, wie es anschwoll. Doch er schrie noch nicht einmal.

Raphael legte das Telefon neben sich auf den Sitz und zog ein zerknittertes, zusammengefaltetes Blatt aus der Brusttasche seines Hemdes.

»Du wolltest wohl mit mir spielen.« Er faltete das Blatt auf und las vor:

 

Er war die Waffe, er schoss ihn tot.

Er war schuld an Elend und Not.

Nun ist das Böse getilgt und die Rache war mein.

Auf der Liste bleibt jetzt nur noch einer allein.

 

Martin schloss die Augen, während Raphael las. Ein neuer Reim. Martin war davon ausgegangen, dass Eddie der Verfasser dieser einfachen Reime gewesen war, doch der schien nun zu glauben, er, Martin, wäre es gewesen. Es gab zwei Erklärungen für Eddies Verhalten. Entweder er hatte die Verse geschrieben und wusste nichts mehr davon. Das war möglich, wenn man in Betracht zog, dass Eddie an einer multiplen Persönlichkeitsstörung litt. Dann gab es noch eine Möglichkeit. Eddie war tatsächlich nicht der Verfasser der Verse.

Als er mit dem Lesen fertig war, nahm Raphael die halb zu Ende gerauchte Zigarette senkrecht nach oben zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt Martin die Glut direkt vor das rechte Auge. Martin schnellte instinktiv mit dem Kopf zurück. Doch trotz der Tatsache, dass es keine Kopfstütze hinter ihm gab, war sein Bewegungsspielraum aufgrund seiner Fesselung stark eingeschränkt. Raphaels Hand mit der glühenden Zigarettenspitze folgte der Rückwärtsbewegung seines Kopfes mühelos nach, bis es nicht mehr weiter ging. Martin wandte den Kopf zur Seite. Dann kam der Schmerz. Raphael drückte ihm die Glut an der Wange aus. Diesmal schrie Martin. Der Geruch von versengtem Fleisch schoss ihm in die Nase und er hatte das Gefühl der Klimmstängel würde ihm ein Loch in die Backe brennen. Es dauerte eine scheinbare Ewigkeit, bis die Zigarette aus war und Raphael den Stummel auf den Boden warf. Der Schmerz stellte kurz alles andere in den Schatten. Seine Angst um Paul und seine anderen Gebrechen. Martin wollte sich an die Wange fassen, etwas zur Linderung des Brennens tun, doch seine Arme waren eingeschnürt wie in einem Kokon aus Beton.

Raphael kam mit dem Gesicht jetzt ganz nah an seines heran. Martin konnte den kalten Rauch in seinem Atem riechen.

»Das war nur der Vorgeschmack. Wenn du schnell und schmerzlos sterben willst und das wirst du wollen, solltest du mir meine Fragen beantworten.«

Martin war nicht fähig, etwas zu sagen. Er schaute nur mit vor Schock und Angst geweiteten Augen in die seines Peinigers.

»Hast du mich verstanden?«, fragte Raphael und lehnte sich wieder zurück.

Martin nickte stumm. Er sah, dass Eddie jetzt noch etwas anderes in der Hand hatte und die Vorstellung, was er damit anrichten konnte, ließ seinen Verstand fast überschnappen.

Es war ein Feuerzeug. Ein billiges, rotes Plastikfeuerzeug, wie man es in jeder Tankstelle kaufen konnte. Und doch konnte sich Martin nicht vorstellen, dass Eddie sich damit die nächste Zigarette anzünden wollte.

Langsam kam die Hand mit dem Feuerzeug näher. Unter Martins Kinn hielt Raphael inne. Schnipp, dann loderte die Flamme auf. Martins Kopf schnellte wieder zurück, die Flamme folgte. Martin wandte sich in seinen Fesseln hin und her, beachtete die Rippe und den gebrochenen Arm nicht mehr. Aber es war aussichtslos. Raphael war ein erbarmungsloses Monster, und wenn Martin jetzt hätte wählen können, hätte er sofort mit dem Bergsteiger, der in den Tod stürzte, getauscht.

Dann war die Flamme weg und Raphael sah ihn wieder wie versteinert an.

»Du hast Eddies Frau erschossen, glaub ja nicht, dass ich dich mit Samthandschuhen anfasse. Soweit sind wir uns doch einig?«

Martin sagte nichts.

»Eddies Bruder war gefesselt und ziemlich übel zugerichtet, als Eddie zu ihm kam. Du hast gewusst, wann Eddie in Frankfurt angekommen ist und das Mietshaus betreten hat, sonst hättest du ihn nicht so punktgenau anrufen können. Es muss also jemand vor Ort gewesen sein. Zur gleichen Zeit hat jemand Eddies Frau in ihrem Haus erschossen. Ihr müsst also mindestens zu zweit gewesen sein. Mit wem arbeitest du zusammen?«

Martin fiel so schnell darauf nichts ein. Wenn er die Wahrheit sagte, dass er nicht wüsste, wovon Eddie sprach, würde der ihn weiter durch die Mangel drehen. Es war menschlich, dass Martin das nach den Erfahrungen, die er gerade gemacht hatte, unter allen Umständen vermeiden wollte.

Raphael rieb mit dem Daumen das Drehrad des Feuerzeugs. Martin drehte fast durch. Er musste sich etwas einfallen lassen. Doch wie es schien, hatte Gott erbarmen mit ihm. Raphael versuchte es jetzt schon zum x-ten Mal. Er schüttelte das Feuerzeug, aber es funktionierte nicht mehr.

»Scheißding!«, sagte er und warf es gegen die Rückwand des Shuttles.

Dann stand er auf. Als Raphael sich seitlich wegdrehte, um aus der Sitzreihe in den Gang zu treten, sah Martin eine Pistole, Söders Pistole. Raphael hatte sie sich hinter dem Rücken in den Hosenbund geklemmt. Dann war Raphael kurz hinter Martins Sitz verschwunden. Martin hörte ein Geräusch, als ob jemand in einer Metallkiste kramen würde. Ein Werkzeugkasten ging es Martin durch den Kopf. Als Raphael sich wieder im Sitz gegenüber niederließ, hatte er einen Gegenstand in der Hand, der Martins Phantasie erneut beflügelte. Es war eine kleine Kneifzange, mit der man Kabel und Draht durchtrennen konnte.

Im nächsten Moment beugte Raphael sich vor und hielt Martin die Zange vors Gesicht.

»Damit kann man auch allerhand anfangen«, sagte er.

Martins Hals war trocken. Er brachte einfach kein Wort heraus. Sein Verstand weigerte sich, an etwas anderes zu denken, als an die Zange. Was hätte er auch sagen sollen, es gab nichts, was ihm halbwegs plausibel erschien.

»Ich habe mit all dem nichts zu tun. Ich habe ihre Frau nicht umgebracht. Das müssen Sie mir endlich glauben.«

Raphael setzte die Zange an Martins kleinem Finger der rechten Hand an und hielt Martins die Hand fest.

»Falsche Antwort!«, sagte er und drückte die Zange mit aller Kraft zusammen.

Martin hatte sich schon öfters in seinem Leben gefragt, wie es war, den Verstand zu verlieren. Hing er wirklich an einem seidenen Faden, der reißen konnte. Und war man dann, wenn man den Verstand einmal verloren hatte, denselben ein für alle Mal los oder konnte man ihn wieder zurückgewinnen. Als die Zange den kleinen Knochen seiner Fingerkuppe mit einem Knacken durchtrennte, verlor er den Verstand. Der Schmerz schoss mit Lichtgeschwindigkeit über die Hand und den Arm in seinen Körper, explodierte in seinem Gehirn und übertraf alles Vorhergehende. Als die Fingerkuppe dumpf auf den Boden fiel und das Blut aus dem übrig bleibenden Stumpf pulsierend herausquoll, übergab er sich vornüber auf seine Kleidung und verlor dann erneut das Bewusstsein.