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Unter dem Gedicht war eine Zeile mit einem Link auf die Internetseite eines Boulevardmagazins eines Fernsehsenders.

Martin klickte den Link an. Er gelangte auf eine Seite, auf der die Abendsendung des Magazins als Video noch einmal angeschaut werden konnte. Vorahnungsvoll wählte er mit einem Mausklick die Sendung aus. Drei Sekunden später startete das Video. Die blonde Moderatorin stellte die Themen der Sendung kurz vor. Bereits die erste Top-Nachricht des Tages ließ Martin aufschrecken.

Mann erschießt eigenen Bruder und überträgt den Mord live ins Internet. Im Anschluss fährt er nach Hause und erschießt seine Frau. Wir berichten live vor Ort.

Martin spulte vor zu der Stelle, an welcher der eigentliche Bericht begann, und saß dann wie erstarrt vor dem Bildschirm. Der Kommentator stand mit einem Mikrofon auf der anderen Straßenseite vor dem mit Bändern abgesperrten Eingangsbereich des Mietshauses, in dem der Mord geschah und berichtete, während im Hintergrund ein Sarg in einen Leichenwagen transportiert wurde.

“In diesem Haus geschah das Unglaubliche. Gegen vierzehn Uhr erschoss Eduard Kaltenbach seinen Bruder Udo in dessen Wohnung und übertrug die Tat live auf die Internetseite von YouTube. Es dauerte einige Stunden, bis sich die ersten Zuschauer bei der Polizei meldeten und Eduard K. als Täter identifiziert werden konnte. Seitdem fahndet die Polizei ergebnislos nach dem mutmaßlichen Mörder. In seinem Haus bei Stuttgart fand die Polizei auch Eddie Kaltenbachs Ehefrau erschossen vor. Die Tat gleicht ebenfalls einer Hinrichtung. Die Hintergründe der beiden Morde sind noch völlig unklar. Ersten Ermittlungen zufolge war Udo K. eine angesehene Unterweltgröße im Frankfurter Rotlichtmilieu. Sein Bruder Eddie war vor sieben Jahren wegen Mordes an einem verdeckten Ermittler der Polizei angeklagt und nach seinem Freispruch aus der Szene ausgestiegen. Nach Angaben der Polizei sei Eddie K. seit diesem Zeitpunkt nicht mehr polizeilich in Erscheinung getreten, allerdings sei er bereits vor der damaligen Mordanklage einige Male in stationärer psychologischer Behandlung gewesen. Ob die Tat damit etwas zu tun haben könnte, soll sich nach der Befragung des behandelnden Psychologen ergeben, den die Polizei zurzeit vernimmt. Fest steht, dass es dem Täter anscheinend egal war, dass er sich mit der Aufzeichnung seiner Tat selbst überführte. Die Behörden befürchten nun, dass diese Vorgehensweise Nachahmer finden könnte. Ähnlich wie bei den Amokläufen in Schulen, könnte es dem Täter um die Anerkennung von Gleichgesinnten gehen. Die Übertragung ins Internet garantiert dabei größtmögliche Aufmerksamkeit. Aber im Moment sind das alles nur Spekulationen, mehr zu diesem Thema in unserer morgigen Sendung. Die Polizei bittet um sachdienliche Hinweise, wo sich Eduard Kaltenbach zurzeit aufhalten könnte. Es wird zur Vorsicht gemahnt, da der Mann bewaffnet ist, und um einer Festnahme zu entgehen, mit großer Wahrscheinlichkeit ohne Skrupel von der Schusswaffe Gebrauch machen wird.”

Der Bericht war mit Eddie Kaltenbachs Haus bei Stuttgart, verschiedenen Bordellen, die Udo Kaltenbach sein Eigen nannte und einem Standbild aus dem Todesvideo unterlegt. Zum Schluss wurde ein Fahndungsfoto von Eddie Kaltenbach eingeblendet.

Martin war entsetzt. Eddie Kaltenbach, der Mann, den sie vor vier Stunden mehr tot als lebendig vor dem Hotel gefunden hatten und der nun – hoffentlich noch immer bewusstlos - in einem der Angestelltenzimmer lag, wurde wegen Doppelmordes gesucht.

Martins gehetzter Blick ging abwechselnd zu Tür und auf das Telefon. Nach ein paar Sekunden nahm er den Hörer und wählte die Vorwahl von Deutschland. Er musste umgehend die Polizei verständigen. Er tippte die Ziffern ein und wartete auf das Freizeichen. Aber es geschah nichts. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er begriff, dass die Leitung über die er soeben noch Ram angerufen hatte, nun nicht mehr funktionierte. Panik und Angst machten sich in ihm breit. Das war doch nicht möglich. Er raufte sich die Haare und drehte sich im Kreis. Was war hier nur los? Er hatte das Gefühl durchzudrehen. Sein Körper schrie nach einem Schluck Wodka aus der Minibar, nur zur Beruhigung. Dann rief er sich zur Ruhe. Er musste besonnen vorgehen. Während er sich einen Pulli überzog und in Jeans, Socken und Schuhe schlüpfte, dachte er nach. Kaltenbach war verletzt, krank oder beides. Jedenfalls lag er unten im Erdgeschoss hinter einer verschlossenen Tür. Er musste nur den Direktor verständigen, der würde alles Weitere veranlassen. Martin atmete tief durch, dann öffnete er die Zimmertür und rannte den einsamen Flur entlang bis zur Treppe. Zu viele Gedanken schossen ihm gleichzeitig durch den Kopf.

Wenn die Polizei erst einmal informiert wäre, könnte die sich auch Gedanken darüber machen, wer ihm diese Nachrichten geschrieben hatte. Er hatte keine Zeit weiter nachzudenken, was das alles zu bedeuten hatte. Er wusste nur, dass Eddies Bruder, der ermordete Udo Kaltenbach auch ein Grund dafür war, dass seine Frau vor sieben Jahren das Lachen verlernt hatte. Wer auch immer die E-Mails geschrieben hatte, spielte mit dem einfachen Vers, in dem von fünf Personen die Rede war, mit dem Erschossenen auf Udo Kaltenbach an. Eddie war ein weiterer Kandidat. Aber wer waren die anderen drei Personen? Und wer nahm hier für Anna späte Rache? Oder steckte sie doch selbst dahinter? Die Nachrichten waren über ihr E-Mail-Konto geschickt worden. Andererseits passte der Vers nicht zu Anna. Sie war sensibel und zart gewesen und sie verabscheute Gewalt. Doch in drei Jahren konnte sich ein Mensch ändern. Was machst du denn da, dachte Martin. Sie ist tot. Hör endlich auf, dir etwas vorzumachen.

Während er über das Treppenhaus nach unten stürmte, wurde ihm auf einmal klar, dass er nicht wusste, wo der Direktor sein Zimmer hatte. Also beschloss er, zuerst Selma zu wecken. Sie musste unbedingt die Schweizer Behörden informieren, dass sich hier im Hotel ein dringend Mordverdächtiger aufhielt. Unten angekommen rannte er durch die spärlich beleuchtete Eingangshalle hinüber zu den Angestelltenräumen, wo er bestürzt feststellte, dass er, um zu Selmas Zimmer zu gelangen, an dem Zimmer vorbei musste, in dem sie Kaltenbach untergebracht hatten. Schlagartig wurde ihm mulmig. Er musste an der Tür eines Mannes vorbei, der dem Bericht und dem eindeutigen Video zufolge ein Mörder war. Er dachte daran, dass Kaltenbach schon einmal getötet hatte, vor sieben Jahren und aufgrund Martins Falschaussage freigesprochen wurde. Er sah die Bilder von damals genau vor sich.

Er hatte auf dem Weg in die Kanzlei die Abkürzung durch den Park genommen. Er hatte abseits des Weges eine lautstarke Diskussion zwischen zwei Männern gehört. Er war stehen geblieben und hatte hinter die Büsche geschaut, hinter denen er sie richtig vermutete. Der eine Mann kniete mit hinter dem Kopf verschränkten Händen auf dem Boden und Eddie Kaltenbach richtete seine Pistole auf ihn und schoss im selben Moment das ganze Magazin auf den am Boden Knieenden leer. Es war eine Hinrichtung. Martin konnte unbemerkt davonlaufen. Zuerst war er nach Hause gefahren, hatte Anna davon berichtet und dann hatte er sofort die Polizei informiert. Anna wollte ihn davon abhalten. Er sollte sich das in Ruhe überlegen. Seine Aussage könnte ihn ins Fadenkreuz des organisierten Verbrechens rücken und vor denen, könnte ihn dann niemand mehr beschützen. Sie sollte Recht behalten.

Martin atmete so ruhig er konnte, als er in den schmalen dunklen Gang zu den Angestelltenzimmern einbog. Doch er hatte das Gefühl, dass allein sein Atmen so laut wie eine Dampflok an den Wänden und dem Steinboden widerhallte. Er beruhigte sich damit, dass er die Geräusche in dem ansonsten totenstillen Hotel so intensiv wahrnahm, weil er darauf achtete. Ein Schlafender wie Kaltenbach würde nie und nimmer davon wach. Er tastete an der Wand nach einem Lichtschalter und drückte ihn. Augenblicklich wurde der schmale Flur, der nach etwa sechs Metern nach rechts um eine Ecke bog und hinter der sich, den Zimmernummern nach, auch Selmas Zimmer befinden musste, in ein warmes gelbliches Licht getaucht. Martin stockte im gleichen Moment der Atem. Der Adrenalinschub war so schnell und heftig wie das Licht, das den Flur erhellt hatte. Er stand bewegungslos da, so als ob er dadurch unsichtbar würde und die Gefahr, in der er sich jetzt zweifelsohne befand, an ihm vorbeiziehen würde. Wie gebannt klebte sein Blick auf der rechteckigen, dunklen Öffnung in der Wand. Vor ein paar Stunden hatte er Zurbriggen überredet, die Tür zu Eddies Zimmer als reine Vorsichtsmaßnahme abzusperren, jetzt stand sie sperrangelweit offen. In dem Raum dahinter war es vollkommen dunkel.

Martin stellte sich vor, wie Eddie dort lauerte, bereit ihn anzuspringen und zu töten, sobald er an dem Raum vorbeiging. Langsam schob sich Martin rückwärts. Er musste Zurbriggen oder Söder verständigen. Gemeinsam könnten sie es wagen, das Zimmer zu betreten und anschließend nachsehen, wie es Selma ging. Auch Eugen Bumann hatte sein Zimmer hier unten. Allerdings fast am Ende des Flurs, ebenfalls hinter der Rechtsbiegung, noch weit hinter Selmas Zimmer. Dann schoss Martin ein anderer Gedanke durch den Kopf. Mit einem Mal war er erleichtert und die Angst fiel von ihm ab. Natürlich. Es gab eine logische Erklärung dafür, warum die Tür offen stand. Er musste schmunzeln und ärgerte sich über seine eigene Dummheit. Die Sache mit den E-Mails musste ihm den Verstand vernebelt haben.

Er hatte drei Stunden geschlafen. Aufgrund der Schlaftablette hätte das Dach einstürzen können und er hätte nichts davon mitbekommen. Wahrscheinlich hatte Zurbriggen nach der vereinbarten Wartezeit von einer Stunde doch einen Arzt verständigen müssen und der hatte Kaltenbach mit dem Helikopter abholen lassen. Es gab also keinen Grund, das ganze Hotel in Panik zu versetzen, weil die Tür offen stand. Martin atmete durch. Dann ging er langsam, aber entschlossen auf den dunklen Raum zu. Je näher er kam, desto stärker pochte sein Herz. Die Zimmeröffnung klaffte wie der Eingang einer Höhle in der Wand.

Martin hasste es, nicht zu wissen, was sich im Dunkeln verbarg. Als Kind hatte er sich nur unter Aufbringung all seines Mutes in den dunklen Keller seines Elternhauses getraut, weil er Angst vor dem hatte, was dort lauern könnte. Irgendwann hatte sich in seiner Phantasie ein Mann entwickelt, der dort unten nur auf ihn wartete und den niemand außer ihm sehen konnte. Er hatte Jahre nicht mehr an diese Situationen der Angst gedacht, wenn er von seinem Vater aufgefordert worden war, etwas aus dem Keller zu holen. Jetzt und hier ging es ihm wie damals, als er neun oder zehn Jahre alt gewesen war.

Es war nur noch ein Schritt bis zu der Türöffnung. Er rief sich noch einmal ins Bewusstsein, dass alles in Ordnung war. Kaltenbach war im Krankenhaus. Ein Helikopter hatte ihn abgeholt. Sie mussten nur noch die Polizei informieren. Dann machte er einen großen Schritt und blickte frontal in den dunklen Raum. Es geschah nichts. Keine Augen, die ihn aus der Finsternis anfunkelten. Dann fiel sein Blick auf das weiße Türblatt und er merkte mit einem Schlag die Gänsehaut und die aufgestellten Haare auf seinen Armen. Wieder erstarrte er wie ein Reh, dass auf der Straße von den Lichtkegeln eines herannahenden Wagens getroffen wird. Seine Logik hatte versagt und wie das Reh im Scheinwerferlicht, so befand auch er sich in einer tödlichen Gefahr. Kein Arzt hatte Kaltenbach abgeholt. Kaltenbach war alleine aus dem Zimmer spaziert. Das Holz des Türblatts war in Höhe des Schlosses zersplittert. Aufgehebelt, dachte Martin. Mit Beschädigungen dieser Art kannte er sich aus. Martins Finger tasteten zittrig nach innen auf der Suche nach dem Lichtschalter. Er sagte sich, dass es unwahrscheinlich sei, dass Kaltenbach sich noch in dem Zimmer befand. Er war irgendwo im Hotel, aber nicht in diesem Zimmer. Dennoch traute er sich nicht, einzutreten. Am liebsten wäre er zu Selmas Zimmer gerannt. Doch vorher musste er sich Gewissheit verschaffen, ob wenigstens von diesem Zimmer keine Gefahr mehr ausging. Schließlich mussten sie auf dem Rückweg wieder hier vorbei. Er fand den Lichtschalter. Seine innere Anspannung war kaum zu ertragen. Er war kurz davor, darauf zu drücken, doch dann erstarrte er erneut.

Ein dumpfer, dröhnender Gong zerfetzte die Stille. Er drückte wie im Reflex auf den Schalter, der Raum wurde hell. Erneut ertönte der Gong. Martin schrie vor Schreck. Er riss die Augenlider weit auf, als ob es ihm so möglich wäre, den Raum schneller zu überblicken. Nichts, alles leer. Er sprang hinein und trat mit einem erneuten Schrei wie ein Kung-Fu-Kämpfer die Tür zum Bad auf. Auch da war niemand. Er lief hinaus in den Flur um die Ecke zu Selmas Tür, die in diesem Moment von innen aufgerissen wurde. Er machte vor Schreck einen Satz zurück und drückte sich an die Wand. Doch es war nur Selma. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und schaute ihn verwirrt an.

»Ich habe Schreie gehört und die Standuhr in der Eingangshalle. Sie ist seit Jahren nicht aufgezogen worden, weil die Gäste sich durch den lauten Gong in ihrem Schlaf gestört fühlten. Man hört sie im ganzen Hotel. Was ist denn los mit dir? Warum bist du überhaupt hier unten?«

Martin atmete durch und zitterte doch vor Aufregung.

»Der Mann, den wir im Schnee gefunden haben, ist ein gesuchter Mörder. Er hat sich aus dem Zimmer da vorne befreit und ist jetzt irgendwo hier im Hotel. Wir müssen die Polizei rufen.«

Selma sah ihn an, als ob er in einer ihr unbekannten Sprache mit ihr reden würde. Doch dann schienen die Informationen zu ihr durchzudringen und sie begriff, dass er es ernst meinte. Die Anspannung und die Angst in seinem Gesicht passten zu seiner aufgeregten Stimme und dem Inhalt seiner Worte. Mit einem Mal war sie hellwach.

»Woher weißt du das?«, fragte sie, zog Martin in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter ihm ab.

»Ich habe es in einer Nachrichtensendung im Internet gesehen«, sagte Martin. Er konnte Selma unmöglich sagen, dass seine tote Frau ihm E-Mails schrieb und unter der letzten Nachricht, einem verstörenden Gedicht, ein Link zu der Nachrichtensendung gewesen war.

Selma setzte sich auf ihr Bett und nahm den Telefonhörer ab. Sie stutzte.

»Ich höre kein Freizeichen.«

»In meinem Zimmer war die Leitung auch tot.«

Sie drückte mehrmals auf die Null Taste. Aber es blieb dabei.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Martin.

Selma gab ihm keine konkrete Antwort, stattdessen zog sie die Stirn nachdenklich in Falten.

»Wir müssen an die Rezeption, das Telefon dort ausprobieren. Vielleicht ist nur was mit der internen Leitung oder der Telefonanlage«, sagte sie.

»Du hast doch ein Handy?«

»Ja, schon, aber hier oben gibt es keinen Empfang.«

Selma zog, während sie sprach, schnell, und ohne Hemmungen ihr Nachthemd über den Kopf und schlüpfte in ihre Kleider, die sie über einen Stuhl gehängt hatte.

»Zurbriggen, Bumann, Söder, Meier und ich haben, nachdem du gegangen warst, in der Bar noch was getrunken und dann wieder nach dem Mann gesehen. Er atmete ruhig und der Direktor befand, dass er schlief und auf dem Weg der Besserung sei. Zurbriggen entschied, wenn es noch nötig sein sollte, den Arzt erst morgen anzurufen. Dann haben wir uns alle schlafen gelegt.« Selma erzählte das, während sie ihre Turnschuhe anzog und zuband.

Plötzlich klopfte es an die Tür. Selma und Martin schauten erschrocken auf.

»Selma, bist du wach?« Es war die Stimme von Eugen Bumann.

»Ja«, sagte Selma, ging zur Tür und ließ ihn rein.

»Ich bin von der Standuhr wach geworden. Wer hat die denn aufgezogen?«, fragte Bumann und trat ins Zimmer. Als er Martin sah, zog er überrascht die Augenbrauen hoch.

»Konnten Sie auch nicht schlafen? Oder hat das was mit unserem unbekannten Gast zu tun, der offensichtlich sein Zimmer verlassen hat?«

»Sie haben es also auch gesehen?«, fragte Martin.

»Allerdings, deshalb habe ich ja auch an Selmas Tür geklopft. Aber anscheinend weißt du auch nicht, was das soll.«

Selma schüttelte den Kopf. Bumann wandte sich jetzt Martin zu.

»Und was sagen Sie zu dem, was er an den Badezimmerspiegel geschrieben hat?«

Martin sah Bumann verdutzt an.

»An den Spiegel? Da habe ich nicht hingeschaut.«

Jetzt huschte ein kurzes, dünnes Lächeln über Bumanns Lippen.

»Na, dann würde ich sagen, Sie schauen sich die Sauerei am besten gleich selbst an.«

Martin biss sich auf die Unterlippe.

»Bevor wir dieses Zimmer verlassen, sollte ich Ihnen aber noch etwas über den Mann erzählen, der sich gewaltsam aus seinem Zimmer befreit hat. Er ist jetzt kein Unbekannter mehr. Er ist ein Mörder und er ist auf der Flucht. Sein Name ist Eddie Kaltenbach.«

Martin berichtete Bumann, wie er davon erfahren hatte und dass die internen Telefonleitungen jetzt nicht mehr funktionierten. Die E-Mails seiner verstorbenen Frau verschwieg er.

Jetzt war Eugen Bumann nicht mehr zu Späßen aufgelegt. Das Lachen war von seinen Lippen verschwunden.

»Kaltenbach ist also irgendwo im Hotel. Er könnte hinter jeder Ecke und hinter jeder Zimmertür lauern?«

Martin nickte.

»Also was tun wir jetzt?«, fragte Selma.

»Wir gehen zur Rezeption und probieren aus, ob die Telefonleitung nach draußen noch steht. Außerdem müssen wir den Direktor, Frau Seewald und Herrn Söder und dem Koch Bescheid sagen, was hier los ist.«

Bumann schaute an sich herunter. Er trug noch seinen Schlafanzug und Pantoffeln.

»So soll ich gehen?«

Martin schaute Selma an. Er schloss für einen kurzen Moment genervt die Augen. Selma seufzte und verzog den Mund. Sie verstanden sich blind. Vorsichtig öffnete Martin dann die Tür, streckte den Kopf heraus und lugte in beide Richtungen des Flurs. Es war nichts Ungewöhnliches zu entdecken.

Dann nahmen sie allen Mut zusammen und gingen gemeinsam zu Bumanns Zimmer, wo dieser sich schnell anzog. Währenddessen weckten Selma und Martin den Koch Hans Meier, der das Zimmer neben Bumann hatte. Er hatte von dem Krach, den die Standuhr verursacht hatte, nichts mitbekommen, war aber deutlich geschockt, als Selma ihm erklärte, warum sie ihn mitten in der Nacht aus dem Bett holten. Nachdem Meier und Bumann angezogen waren, machten sie sich zusammen auf den Weg zur Rezeption.

Als sie auf die aufgebrochene Zimmertür am Anfang des Traktes zugingen, hielt Bumann Martin am Arm fest:

»Sie sollten es sich wirklich ansehen.«

Martin hielt kurz vor dem Eingang inne, dann machte er einen beherzten Schritt in das Zimmer, knipste das Licht im Bad an und trat ein. Im Gegensatz zu seinem ersten Besuch war der Raum jetzt hell erleuchtet und dadurch wurde offensichtlich, was Bumann gemeint hatte. Das Wort, das auf dem Spiegel geschrieben stand, leuchtete Martin förmlich entgegen: WALLER.

»Vermutlich hat Kaltenbach sich beim Aufstemmen der Tür verletzt und ihren Namen mit seinem eigenen Blut an den Spiegel geschmiert«, sagte Bumann, der inzwischen mit Selma zu Martin aufgerückt war. Martin drehte sich zu den beiden um und schaute sie völlig schockiert an.

»Wisst ihr, was das bedeutet?«

Selma nickte und sah unter sich.

»Scheint so, als hätte es der Irre aus irgendeinem Grund auf Sie abgesehen«, sagte Bumann.