17
Langsam zog er am Türgriff zum Flur der zweiten Etage. Wenn Kaltenbach dahinter auf sie wartete, dann sähe es nicht gut für sie aus. Andererseits waren sie zu dritt, und als sie den Wahnsinnigen entkleidet hatten, um seine nassen Kleider zu trocknen, hatte er keine Waffe bei sich gehabt. Die Tür gab ein krächzendes Geräusch von sich. Nicht laut, aber intensiv und eindringlich genug, um die Aufmerksamkeit auf diesen Punkt zu lenken. Martin lugte vorsichtig durch das halb geöffnete Türblatt. Er blickte in einen leeren Flur, der die typische nächtliche Minimumbeleuchtung von Hotelfluren aufwies. Der Fußbodenbelag war ein kurzfloriger Teppichboden mit unruhigem grauen Muster auf blauem Hintergrund. Er würde ihre Schritte lautlos machen. Der Flur gabelte sich nach links und rechts und machte zu beiden Seiten nach jeweils etwa zwanzig Metern wieder eine Biegung. Martin sah Selma an. In dem Bereich, den er überblicken konnte, hielt sich niemand auf, was nicht hieß, dass Kaltenbach nicht hinter einer der Flurabzweigungen auf sie wartete. Plötzlich hörten sie ein Geräusch, das sie zusammenfahren ließ. Es kam von unten.
»Was war das?«, fragte Meier mit zitternder Stimme.
»Klang wie das Zerbrechen einer Fensterscheibe«, flüsterte Martin.
»Kaltenbach«, sagte Selma.
Martin sah die Panik in ihrem Blick. Er dachte an die Fußspuren, die er im Schnee vor dem Hoteleingang gesehen hatte.
»Möglich«, gab Martin zurück.
Er wunderte sich, wie nüchtern er damit umging. Es schockierte ihn sichtlich weniger, als die anderen, dass der Mörder jetzt wahrscheinlich nur eine Etage unter ihnen war. Er führte es darauf zurück, dass seine Angst vor dem eigenen Tod sich in Grenzen hielt. Nachdem Anna gestorben war, hatte er sich damit lange auseinandergesetzt und war zu der Überzeugung gelangt, dass es so schlimm nicht sein konnte. Der Tod kam schnell, wenn man es geschickt anstellte. Das Leben hingegen konnte eine grausame Ewigkeit sein. Er hatte nach Annas Tod gelitten wie ein Hund, war hin und her gerissen gewesen, zwischen dem Schmerz und der Einsamkeit, den ihr Wegsein verursachte und der Wut auf sie, dass sie sich davon gestohlen hatte und ihn allein gelassen hatte. Danach waren die Selbstvorwürfe gekommen. Er gab sich die Schuld daran, dass Anna sich das Leben genommen hatte. Und jetzt bekam er E-Mails von ihr. Er wusste nicht, ob er ihr verzeihen konnte, wenn sich herausstellte, dass sie noch am Leben war. Zu sehr hatte er die letzten drei Jahre gelitten. Sein eigener Tod erschien ihm in dieser Zeit des Öfteren verlockender, als zu leben. Der einzige Grund, warum er Anna nicht gefolgt war, war Paul. Seine Liebe zu ihm erlaubte es ihm nicht, ihn im Stich zu lassen. Wer sollte sich sonst um den Jungen kümmern, der nie im Stande sein würde, für sich selbst zu sorgen. Und wenn er es sich jetzt eingestand, so war es auch jetzt die Liebe zu seinem Sohn, die ihn in diesem Moment dazu brachte, sich zusammenzureißen und zu kämpfen.
Vorsichtig betraten sie den Gang. In diesem Moment hoffte er sogar inständig, dass es tatsächlich Kaltenbach gewesen war, der im Stockwerk unter ihnen das Fenster zerstört hatte. Das würde zumindest bedeuten, dass sie ihm auf dem Weg nach oben nicht begegnen würden. Sie bogen nach links ab, vorbei am Aufzug, der sich genau in diesem Moment in Bewegung setzte.
Dong, Dong, Dong, das rhythmische Klopfen der defekten Kabine hallte über den Aufzugschacht wieder. In der Stille der Nacht, wenn man auf jedes kleine Geräusch achtete, war es geradezu schockierend laut. Es bestand kein Zweifel, dass der Aufzug überall im Hotel zu hören war. Zunächst blieben Martin, Selma und Meier wie angewurzelt stehen. Meiers leises Wimmern, war kaum zu hören. Ihr Blick ruhte auf der Anzeige neben der Lifttür. War Eddie in den Aufzug gestiegen und jetzt auf dem Weg nach oben? In diesem Fall hatten sie keine Chance mehr, unbemerkt zu fliehen. Sie würden sich einem Kampf stellen müssen. Kurz darauf gab die Anzeige die Fahrtrichtung der Kabine Preis. Die Fahrt ging nach oben. Es würde keine zehn Sekunden dauern, bis sich die Türen des Aufzugs vor ihnen in der zweiten Etage öffneten. Sie waren erledigt. Keiner konnte sich in diesem Moment bewegen oder einen Laut von sich geben und ihre Augen zeigten blankes Entsetzen. Dann nur wenige Sekunden später kam der Aufzug zum Stillstand und das Geräusch des Zugmotors und das laute Klopfen erstarb. Die Kabine hatte jedoch in der ersten Etage gestoppt.
»Oh Gott«, sagte Meier. »Er hat den Aufzug aus dem Keller oder dem Erdgeschoss in die erste Etage geholt. Er steigt jetzt ein, wenn er jetzt nach oben kommt ...«
Dann setzte sich der Aufzug wieder in Bewegung. Nach einer weiteren Schocksekunde, unendliche Erleichterung. Der Lift fuhr wieder nach unten, hielt im Erdgeschoss und dann geschah etwas Seltsames. Der Aufzug fuhr in den Keller.
Selma sah Martin verstört an. Sie brauchten nicht zu sprechen, um zu wissen, was sie beide dachten. In den Keller konnte nur fahren, wer einen entsprechenden Schlüssel hatte. Entweder hatte sich Kaltenbach einen Schlüssel besorgt, wobei dann fraglich wäre, woher er überhaupt wusste, dass man dafür einen Schlüssel brauchte und warum er überhaupt in den Keller fuhr. Oder es war gar nicht Kaltenbach, der den Aufzug benutzt hatte. Dies bedeutete wiederum, dass sie höllisch auf der Hut sein mussten, denn der Irre konnte dann auch genau so gut auf dieser Etage, auf der sie sich befanden oder dem Stockwerk darüber sein.
»Weiter jetzt«, sagte Martin und ging den Korridor entlang nach vorn. Plötzlich, wie auf ein Signal, blieben sie stehen und hielten den Atem an. Dong, Dong, Dong. Diesmal waren die Laute dumpfer. Sie brauchten eine Schocksekunde, um zu merken, dass es diesmal nicht der Fahrstuhl war. Sie atmeten die angehaltene Luft aus. Es war die Standuhr im Eingangsbereich. Sie schlug drei Uhr.
Am Ende des Flurs sahen sie eine Tür. Selma bedeutete Martin, dass sie dorthin mussten. Vor der Tür, welche die Aufschrift privat trug, blieben sie stehen.
»Dahinter ist der Treppenaufgang in die dritte Etage zu der Wohnung des Direktors und der Hoteleigentümerin Frau Seewald«, flüsterte Selma.
Martin war jetzt noch unbehaglicher zu Mute. Je mehr Türen sie öffneten, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf Kaltenbach stießen. Es war eine Art russisches Roulette. Schnell drückte er die Türklinke, stieß die Tür einen Spalt weit auf und wich wieder zurück. Es tat sich nichts. Vorsichtig trat Martin wieder näher, atmete tief durch und warf dann einen Blick durch den Türspalt. Er konnte den Aufgang einer schmalen Holztreppe erkennen. Das Licht war so dämmrig wie im öffentlichen Flurbereich. Der Treppenvorraum war bis auf ein Bild an der Wand kahl und klein. Kein Winkel, um sich hier zu verstecken.
Martin öffnete die Tür nun ganz und die Drei schlüpften hinein. Sie gingen die Treppe hinauf und gelangten unter dem Knarzen der Stufen in die dritte Etage. Hier konnte man den Gang gut überblicken. Es gab nur zwei Türen, am Anfang und am Ende des Ganges. Neben der hinteren Tür führte eine schmale Treppe den Turm hinauf zur Sternwarte und Söders Zimmer. Die erste Tür gehörte zu Zurbriggens Wohnung. Martin klopfte an.
»Herr Zurbriggen, bitte öffnen Sie die Tür.«
Keine Reaktion. Martin klopfte fester an das Türblatt.
Wieder nichts.
»Vielleicht war es Zurbriggen, der eben mit dem Fahrstuhl in den Keller gefahren ist«, sagte Selma.
Meier schaute zum ersten Mal seit langem hoffnungsvoll auf.
»Ja, vielleicht war er im ersten Stock, hat dort versehentlich eine Vase zerbrochen und transportiert die Scherben in den Keller.«
Martin sagte nichts dazu. Er glaubte nicht daran, dass Zurbriggen den Aufzug benutzt hatte. Der Hoteldirektor wusste, welchen Lärm der Lift machte. Warum hätte er also riskieren sollen, die vermeintlich Schlafenden zu wecken, und was hätte Zurbriggen mitten in der Nacht in der ersten Etage zu suchen gehabt. Nein, es war viel wahrscheinlicher, dass Kaltenbach das Hotel aus welchen Gründen auch immer zunächst verlassen hatte, was die Fußspuren im Schnee vor der Eingangstür erklären würde und nun über ein Fenster in der ersten Etage wieder eingestiegen war. Martin wollte Selma und Meier jedoch nicht verunsichern, also behielt er seine Überlegungen für sich. Seine eigene Theorie hatte zumindest etwas Gutes für sich. Wenn Kaltenbach unten im Keller war, dann konnte er nicht hier oben sein.
Martin klopfte ein letztes Mal an die Tür und wartete. Vergebens. Dann ging der kleine Tross zur Tür von Marianne Seewald. Schon im Näherkommen bemerkte Martin, dass etwas nicht stimmte. Als sie vor der Tür standen, wurde seine unbestimmte Wahrnehmung zur Gewissheit. Die Tür stand einen Spalt weit offen. Dahinter herrschte völlige Dunkelheit. Selma drückte gegen das schwere Türblatt. Es schwang leicht ohne jedes Geräusch auf. Das einfallende Licht aus dem Flur gab den Blick in eine große Diele frei.
»Was hat das zu bedeuten?«, flüsterte Meier. Er erhielt darauf keine Antwort. Fest stand, dass hier offensichtlich etwas nicht stimmte. Warum sonst hätte die Wohnungstür der Hoteleigentümerin mitten in der Nacht offen stehen sollen. In Kombination mit der Tatsache, dass ein geistesgestörter Killer im Hotel herumlief, war das eine Tatsache, die kein Zufall sein konnte und etwas Unheilvolles verhieß. Martin wünschte, er hätte sich früher nach einem Gegenstand umgesehen, mit dem er sich und die anderen hätte verteidigen können. Sie hätten sich beispielsweise mit Messern aus der Küche ausstatten können, als sie noch unten im Erdgeschoss gewesen waren. Dann hätte er sich jetzt ein wenig besser gefühlt. Doch daran hatte er nicht gedacht. Wahrscheinlich wäre es ihm auch zu riskant gewesen, in die Großraumküche zu gehen. Dort hätte sich Kaltenbach am ehesten verschanzen können. Jetzt erschien ihm das als geradezu lächerlich. Ein Messer wäre das Risiko allemal Wert gewesen, zumal er ja die Fußspuren draußen vor dem Hotel entdeckt hatte. Nun suchte er vergeblich nach einem Stock oder etwas Ähnlichem, das geeignet war, um sich einen Angreifer vom Leib zu halten. In der rechten Dielenecke erspähte er eine weiße Porzellanfigur, eine Madonna, auf einem hölzernen Ständer.
»Frau Seewald, ist alles in Ordnung!«, rief Martin in die Diele.
Es kam keine Antwort. Martin rief jetzt noch einmal und viel lauter. Doch auch diesmal kam keine Reaktion.
»Vielleicht hat sie vergessen, die Tür zuzuziehen«, sagte Meier.
Martin sah Meier fassungslos über dessen Naivität an. Gern hätte er an diese einfache Erklärung geglaubt. Meier musste seinem Blick entnommen haben, dass er seine Worte unter den gegebenen Umständen geradezu für lächerlich hielt, denn er wandte seinen Kopf beschämt zur Seite.
»Wir müssen nachsehen«, sagte Martin schließlich.
Meier machte einen Schritt zurück, um klar zu machen, dass er dafür nicht zu haben war. Dann setzte ein leises Geräusch ein, dass am Tage vielleicht kein Gehör gefunden hätte. Aber jetzt in der völligen Stille drang es gedämpft aber deutlich durch. Es war ein Geräusch, dass ihren Puls vorantrieb und das Grauen in ihren Hirnen heraufbeschwor.