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Ram hatte sich die Fahrt mit der Geländemaschine sehr viel einfacher vorgestellt. Gut, er hatte einkalkuliert, dass es steile Anstiege geben würde, und dass es glatte Stelle zwischen den Gleisen geben konnte. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass ein kleiner Junge auf dem Sozius hinter ihm sitzen würde, der es nicht beherrschte, das Gleichgewicht auf der Maschine, den Anforderungen entsprechend zu verlagern, sprich, sich in einer Kurve angemessen zur Seite zu lehnen. Hinzu kam der eisige Wind. Unten in Zermatt war der Wind stark gewesen und hier oben nahmen die Böen mit jedem Höhenmeter zu. Noch standen die Bäume am Schienenrand dicht beieinander und schützten sie davor von einer Böe erfasst und umgeblasen, oder zumindest in die Nähe der Gleise gedrückt zu werden. Aber weiter oben, hinter der Baumgrenze, würde der Wind eine ernst zu nehmende Gefahr werden. Ein weiteres Problem war die Kälte. Sein Gesicht war jetzt schon wie eingefroren. Er konnte praktisch nur ein wenig schneller als in Schrittgeschwindigkeit fahren. Sobald er schneller fuhr, konnte er die Kälte nicht mehr aushalten. Außerdem hatte er keine Ahnung, wie weit es bis zum Hotel war. Er musste sich eingestehen, dass er zu übereilt und unüberlegt gehandelt hatte. Wenigstens war die Strecke alle hundert Meter mit Laternen beleuchtet und es schneite nicht mehr. Ansonsten hätte er es gleich bleiben lassen können.
Die steilen Abhänge zur Rechten stellten dagegen im Moment keine Gefahr da. Sie waren bewaldet und von den Gleisen weit genug entfernt. Außerdem vermittelten die schneebehangenen Tannen und die weiße Landschaft einen eher idyllischen Eindruck von der Bergwelt. Dennoch musste Ram sich über den kleinen Paul wundern. Sie waren seit fünf Minuten unterwegs und er verhielt sich absolut ruhig. Kein Schluchzen oder Geschrei drang aus seinem Mund. Vielleicht spürt er, dass wir jetzt gleich bei seinem Vater sind, dachte Ram.
Nach einem lang gezogenen Anstieg ging es fast eben weiter. Dann tauchte ein Hindernis auf, das Ram veranlasste zu bremsen, und stehen zu bleiben. Er wandte den Kopf zurück zu Paul.
»Da vorne ist eine Brücke. Sie führt über eine tiefe Schlucht. Wenn du zu deinem Papa willst, müssen wir da rüber. Aber du musst ganz ruhig sitzen bleiben. Meinst du, du schaffst das?«
Paul gab natürlich keine Antwort, sondern starrte nur an Rams Rücken vorbei in Richtung der Brücke. Sein Gesicht war so unergründlich wie ein tiefer See. Ram überlegte kurz, ob er das Risiko eingehen sollte. Sie waren bereits so weit gekommen, sollte er jetzt aufgeben? Andererseits hatte Karl ihm Paul anvertraut und gesagt, er werde schon das Richtige tun. Aber was war das Richtige? Wenn Paul hier oben einen Tobsuchtsanfall bekam, weil sie nicht weiterfuhren, war das eher zu verkraften, als wenn sie von der Brücke in die Schlucht stürzten, weil der Junge Panik bekam und das Motorrad umkippte. Dann tippte Paul Ram auf die Schulter. Ram wandte sich wieder um. Der Junge starrte ihn mit versteinerter Mine an.
»Ich will zu meinem Papa!«
Jetzt war Ram klar, dass er es tun musste.
»Gut Kleiner, ich bringe dich zu deinem Papa, versprochen.«
Ram legte den ersten Gang ein und fuhr langsam auf die Brücke zu. Es war schlimmer, als er es aus der Distanz hatte einschätzen können. Die Brücke war länger und die Schlucht tiefer als gedacht. Der Platz zwischen den beiden Gleisen war so breit wie bislang auch, aber rechts und links neben den Gleisen, war kein mehrere Meter breiter Waldboden mehr. Lediglich ein hüfthohes Geländer, das sie auf dem Motorrad sitzend schon überragten, war einen halben Meter rechts und links neben den Gleisen angebracht.
»Nicht nach unten schauen!«, sagte Ram, als der Vorderreifen die Brücke berührte. Auch Ram achtete ab jetzt nur noch darauf, die Maschine sicher zwischen den Gleisen zu manövrieren. Vorher war ihm das ohne besondere Anstrengung gelungen. Aber jetzt, wo es darauf ankam, war er nervös. Wenn er mit dem Reifen eine Schiene streifte, so konnte das schon ein Schlingern und letztlich vielleicht einen Sturz verursachen. Als sie mitten auf der Brücke waren, geschah, was geschehen musste. Kinder tun immer genau das, was sie nicht sollen. Schon aus reiner Neugier. Paul konnte also nicht wirklich etwas dafür, als er seinen Kopf zur Seite drehte und nach unten schaute. In seinem ganzen Leben war er noch nie mit einer solchen Höhe konfrontiert gewesen. Das Klettern auf einen Stuhl stellte bis jetzt den höchsten Punkt dar, von dem aus er die Welt betrachtet hatte. Jetzt war zwischen ihm und dem Bach, der unten in der Schlucht floss ein Luftraum von über einhundert Metern. Augenblicklich fing er an, zu schreien und zappelte auf dem Sitz hin und her. Es geschah so unvermittelt, dass Ram ernsthafte Schwierigkeiten hatte, das Motorrad auf der Spur zu halten. Dreiviertel der Brücke lag jetzt hinter ihnen.
»Paul, mach die Augen zu und halt dich ganz fest an mir. Alles wird gut. Aber du musst ruhig sitzen, sonst kann ich dich nicht zu deinem Papa bringen.«
Es nutzte nichts. Paul zappelte weiter. Es gab nur noch eine Möglichkeit, heil über die Brücke zu kommen. Ram gab Gas und beschleunigte auf das Dreifache seiner bisherigen Geschwindigkeit. Die Maschine schlingerte entsetzlich hin und her wie bei einem Fahranfänger, der noch nicht richtig das Gleichgewicht halten konnte. Immer wieder musste Ram einen Fuß zur Abstützung auf den Boden setzen. Auf dem letzten Meter passierte es dann. Sein Fuß trat auf den Eisenträger des Gleises zu seiner Rechten. Aufgrund der dünnen Schneeschicht, die darauf lag, rutschte sein Fuß ab und das Motorrad kam in so starke Seitenlage, dass Ram es nicht mehr halten konnte. Er gab noch einmal Gas, dann schossen sie über das Ende der Brücke hinweg und stürzten seitlich in den Schnee. Paul war noch immer durch den Gürtel, den Karl um sie geschlungen hatte wie angekettet mit Ram verbunden. Das Motorrad rannte noch ein paar Meter weiter, bis es an einen Baum knallte und zum Stehen kam. Das Vorderrad war verbogen und die Vordergabel, wie auch der Lenker waren verzogen. Um Paul zu schützen, hatte Ram sich im Flug vom Motorrad auf den Bauch gedreht. Der Felsen auf dem Ram mit der Stirn aufschlug, war gerade so weit vom Schnee verdeckt, dass man ihn nicht sehen konnte. Ram verlor augenblicklich das Bewusstsein und landete mit dem Gesicht voran im Schnee. Die Platzwunde auf seiner Stirn sorgte dafür, dass sich der Schnee rot verfärbte wie ein in Erdbeer-Margarita getauchter Zuckerwürfel. Er spürte nicht mehr, dass sein offener Mund voll Schnee war und er nicht mehr atmen konnte.
Paul schrie, obwohl er völlig unverletzt war, als ob ein Haufen Wilder ihn bei lebendigem Leibe auf dem Grill garen wollte. Durch den dicken Ledergürtel war Pauls Körper immer noch fest mit dem von Ram, auf dessen Rücken er nun bäuchlings lag, verbunden. Die Gürtelschnalle lag unter Rams Körper begraben. Vielleicht hätte Paul sie geöffnet, wenn die Gürtelschnalle seitlich gewesen wäre. Aber so hatte er keine Chance. Er schrie und strampelte und versuchte, sich nach unten aus dem Gürtel zu winden. Aber er war zu fest zugezogen. Also schrie und strampelte er weiter. Erfahrungsgemäß hielt er das zehn Minuten durch, manchmal fünfzehn. Danach war sein Körper so sauerstoffarm, dass er das Bewusstsein verlor.