16

 

Sie warteten eine Zeitlang und hörten angespannt in die beängstigende Stille. Außer dem regelmäßigen Pendelschlag der Standuhr war nichts zu hören. Schließlich wagten sie sich in den Eingangsbereich vor. Langsam schlichen sie vorwärts. Doch wider Erwarten geschah nichts, obwohl Martin sich in lebhaften Bildern ausmalte, wie Kaltenbach aus einem versteckten Winkel des Raumes wie ein Indianer auf dem Kriegspfad mit lautem Geschrei auf sie zu gestürmt kam. Doch diese Komplikationen blieben aus. Dennoch blieb nur Enttäuschung als sie die Rezeption erreichten und feststellen mussten, dass auch die Telefonleitung nach draußen nicht mehr funktionierte.

»Verdammt, was machen wir denn jetzt? Wir kommen hier nicht weg. Draußen ist es zu stürmisch und kalt, um zu Fuß zur nächsten Hütte zu gehen«, flüsterte Bumann.

Er klang jetzt panisch. Selma ließ sich auf dem Stuhl hinter der Rezeption nieder und trillerte nervös mit dem Finger Locken in ihre Haarsträhnen.

»Fakt ist, dass wir bis morgen früh hier durchhalten müssen. Wenn wir zusammenbleiben, können wir das schaffen«, sagte Martin schließlich. Dabei kamen ihm seine eigenen Worte fremd vor. Seit Annas Tod war ihm das Leben irgendwie egal gewesen, erst recht das Leben anderer Menschen. Aber das hier hatte nach echter Besorgnis geklungen und er hatte es auch so gemeint.

»Ist ja klar, dass Sie das so sehen«, sagte Bumann. »Schließlich hat Kaltenbach es speziell auf Sie abgesehen. Ich überlege, ob es für mich nicht am Schlauesten wäre, in mein Zimmer zu gehen, und zu warten. Von mir will er ja augenscheinlich nichts. Warum sollte ich mich dem Mann also in den Weg stellen.«

Selma sah Bumann mit entsetztem Blick an.

»Eugen, du verdammtes Arschloch!«, sagte sie.

Martin ließ sich nicht auf eine Diskussion ein. Er hielt es für wichtig, den jetzigen Standort so schnell wie möglich zu verlassen. Die Eingangshalle mit der Rezeption war der zentrale Punkt des Hotels. Er fragte sich ohnehin schon, warum Kaltenbach noch nicht aufgetaucht war.

Dann kam ihm eine Idee. Er ging hinüber zu der Eingangstür und schaute hinaus. Der Wind hatte, wie er an den beiden Fahnenmasten unweit des Eingangs feststellen konnte, weiter zugenommen. Der Schneefall hatte hingegen etwas nachgelassen und dann sah er die Spuren. Er ging zurück zu den anderen.

»Irgendjemand hat das Hotel vor kurzem verlassen. Die Fußabdrücke sind noch deutlich im Schnee zu sehen. Ich wette es war Kaltenbach«, sagte Martin.

»Warum sollte er das Hotel verlassen?«, fragte Bumann.

»Fragen Sie mich mal was Leichteres«, entgegnete Martin. »Vielleicht will er einfach nur fliehen.«

»Das wäre möglich«, sagte Selma jetzt in hoffnungsvollem Ton. »Schließlich ist er auch nicht freiwillig in das Hotel gekommen. Wir haben ihn draußen bewusstlos gefunden und reingetragen.«

Martin nickte. Er wollte Selmas Hoffnungen nicht zerstören. Leicht hätte er ihr entgegnen können, dass es in diesem Fall keinen Sinn ergab, dass Kaltenbach Martins Namen mit Blut an den Badezimmerspiegel geschrieben hatte.

»So ein Quatsch«, sagte Bumann. »Der Kerl will ihn«, dabei zeigte Bumann mit dem Finger auf Martin. »Auch wenn ich mich frage, woher dieser Mörder seinen Namen kennt und warum er es auf ihn abgesehen hat.«

Martin sah, dass sich Denkfalten auf Selmas Stirn bildeten. Er musste etwas unternehmen. Er konnte unmöglich hier und jetzt erzählen, dass er Eddie Kaltenbach kannte und woher.

»Wir sitzen hier förmlich auf dem Präsentierteller. Ich schlage vor, wir warnen jetzt sofort die übrigen Hotelinsassen«, sagte Martin stattdessen.

Ohne darüber nachzudenken, hatte Martin das Wort Insassen gebraucht. Und genau das waren sie. Martin glaubte nicht wirklich, dass Kaltenbach, wenn er es gewesen war, der das Hotel verlassen hatte, lange draußen bleiben würde.

Hans Meier stimmte Martin sofort zu. Martin sah ihm an, dass ihm besonders unbehaglich zu Mute war. Sein Dauerlächeln war verschwunden und sein Gesicht war blass und faltig. Eugen Bumann sah das hingegen anders.

»Ich bleibe hier«, sagte er. »Wer weiß, wenn wir oben in den Gängen herumlaufen, verwechselt mich der Kerl am Ende noch mit Ihnen. Und außerdem sollten sie nicht von der Frage ablenken, die ich eben aufgeworfen habe. Woher weiß der Mann, wer Sie sind, und dass sie zurzeit in diesem Hotel sind? Er muss wegen ihnen hier sein. Ansonsten ergibt das alles keinen Sinn.«

Martin schaute Bumann eindringlich an. Er sah auch Selmas fragenden Gesichtsausdruck. Sie hatten ein Recht darauf zu erfahren, dass er vor Jahren Zeuge in einem Mordprozess gegen Kaltenbach gewesen war, und dass dieser sich noch während der Untersuchungshaft einer psychologischen Behandlung unterziehen musste. Es hieß, er leide unter einer multiplen Persönlichkeitsstörung. Auch würde er ihnen von den E-Mails erzählen müssen. Aber er wollte jetzt in dieser angespannten Situation nicht noch für zusätzliche Panik sorgen.

»Ich finde, dies ist weder der richtige Ort, noch die richtige Zeit für lange Diskussionen«, wich Martin schließlich aus.

»Was reden Sie denn da für ein Zeug? Ich will jetzt sofort wissen, was hier gespielt wird«, sagte Bumann.

»Alles, was Sie jetzt wissen sollten, ist, dass Eddie Kaltenbach mit großer Wahrscheinlichkeit nicht nur mich, sondern jeden noch verbliebenen Gast dieses Hotels, der ihm über den Weg läuft, töten wird«, zischte Martin.

Erst als er diese Worte aussprach wurde Martin die bislang verdrängte Realität bewusst. Er und alle anderen schwebten in echter Lebensgefahr. Kaltenbach war unberechenbar und niemand konnte vorhersagen, wie diese Nacht ausgehen würde. Gleichzeitig stellte er sich Bumanns unvermeidliche Fragen selbst. Warum war Kaltenbach hier heraufgekommen? Er wusste es nicht. Wenn es von Anfang an wegen ihm gewesen war, woher wusste Kaltenbach, dass Martin sich hier aufhielt? Er konnte es nur von seinem Vater wissen. Mein Gott, dachte er. Wenn Kaltenbach seinen Vater persönlich aufgesucht hatte, um an diese Information zu gelangen? Er wollte diesen Gedanken nicht zu Ende denken. Was war mit Paul? Ging es ihm gut? Mit einem Mal verspürte er, wie die Hitze sich wieder in seinem Körper ausbreitete. Sie lähmte ihn und sein Atem ging flach. Dann erinnerte er sich, dass er seinen Vater gegen neunzehn Uhr angerufen hatte. Er hatte geklungen wie immer und auch mit Paul hatte Martin kurz gesprochen. Es war alles in Ordnung. Die letzte Bahn hier herauf war ebenfalls gegen neunzehn Uhr angekommen. Also hatte Kaltenbach sich nicht an seiner Familie vergriffen. Martin fiel mit dieser Erkenntnis ein Stein vom Herzen. Dann erinnerte er sich auch wieder an die unbedeutende Aussage seines Vaters, dass am Nachmittag ein alter Freund von ihm angerufen und sich nach ihm erkundigt habe. Kaltenbach, dachte Martin. Auch wenn Martin noch immer keinen Schimmer hatte, warum Kaltenbach es nach sieben Jahren ausgerechnet auf ihn, dem er seine Freiheit zu verdanken hatte, abgesehen hatte.

»Sie wollen damit sagen, dieser Mann ist ein psychopathischer Killer?«, fragte jetzt Meier und Martin sah, dass die Angst ihn noch mehr in Beschlag nahm.

Martin nickte.

»Dem Fernsehbericht nach, den ich gesehen habe, hat er heute zwei Menschen getötet. Und nicht irgendwen, sondern seinen eigenen Bruder und seine Ehefrau.«

Bumann schmunzelte und schüttelte dann den Kopf.

»Das ist doch alles Bockmist, was Sie da verzapfen. Ich glaube Ihnen kein Wort. Sie wollen doch nur ihre eigene Haut retten. Ich gehe jetzt in mein Zimmer und schlafe weiter.«

»Wie Sie wollen«, sagte Martin und zog Selma an der Hand zu der Treppe, die hinauf in die beiden oberen Etagen führte. Bumann ging genauso entschlossen zurück in Richtung seines Zimmers. Hans Meier schaute zuerst Martin und Selma nach, dann Bumann. Dann entschloss er sich für den Weg der Mehrheit und ging ebenfalls rasch zur Treppe.

Die Drei wagten es nicht, das Licht im Treppenhaus anzumachen. Stattdessen nahmen sie mit der spärlichen Dauerbeleuchtung vorlieb, die aus Sicherheitsgründen bei Tag und Nacht brannte. Das orange Licht reichte gerade aus, um die Stufen zu erkennen.

»Eugen ist kein schlechter Kerl, aber ein unverbesserlicher Dickkopf«, zischte Selma, während sie die Stufen emporstiegen.

»Seine Entscheidung«, gab Martin knapp zurück.

Sein Herz hämmerte. Dunkelheit beschwor nach wie vor schlimme Phantasien in ihm herauf. Mit jeder Stufe, die er höher stieg, hatte er das Gefühl, Teil eines sadistischen Spiels zu sein. Es war, als ob ihm jemand oder etwas folgen würde. Es war der Schatten seiner Angst.

Sie erreichten die Tür zur ersten Etage und lauschten. Alles war ruhig. Martin konnte sogar das Blut in seinen Ohren rauschen hören. Er war froh diese Tür nicht öffnen zu müssen. In dem dahinter liegenden Korridor, in dem auch sein Zimmer lag, konnte jetzt Kaltenbach sein.

Nach einem vorsichtigen Blick um die Ecke des Treppenhauses stiegen sie weiter nach oben. »Wo logieren denn Zurbriggen, Seewald und Söder? Alle in derselben Etage?«, flüsterte Martin Selma zu, die neben ihm ging, während Meier ihnen, sich nach jeder Stufe angstvoll umblickend, dichtauf folgte.

»Der Direktor und Frau Seewald wohnen über der zweiten Etage. Es sind zwei größere Wohnungen, etwas luxuriöser«, sagte Selma. »Söder hat sein Zimmer in einem der Türme. Neben Frau Seewalds Wohnungstür führt eine schmale Wendeltreppe hinauf.«

»In den Türmen ist doch auch die Sternwarte untergebracht. Ist dort noch sonst jemand?«, fragte Martin.

Selma schüttelte den Kopf.

»Um diese Jahreszeit ist dort oben niemand mehr.«

»Gut, überleg´ jetzt mal Selma, gibt es irgendeine Möglichkeit, wie wir doch noch von hier wegkommen können«, flüsterte Martin.

»Nein, zum Gehen ist es angesichts des Sturmes tatsächlich zu gefährlich. Die Bahn ist das einzige Transportmittel. Außer ...«

»Außer was?«

»Neben der Bahnstation führt ein Abstellgleis in einen Schuppen. Da drin habe ich einmal eine uralte Eisenbahn-Draisine gesehen. Sie ist eigentlich ein Museumsstück, aber sie könnte noch funktionieren, wenn sie überhaupt noch da steht.«

Martin nickte. Er wusste, dass Draisinen durch das Auf und Ab eines Handhebels, der wie eine Wippe gestaltet war, auf den Gleisen vorwärts bewegt wurden. Er war mit Paul und Selma auf einer stillgelegten Bahnstrecke einmal damit gefahren. Da es nur bergab ging, war eine Draisine eine viel versprechende Möglichkeit ins Tal zu gelangen. Allerdings wirkte Selma nicht sehr hoffnungsvoll.

»Wie lange ist es her, dass du in dem Schuppen warst?«, fragte Martin.

Selma seufzte.

»Da ist der Haken. Das muss über ein Jahr her sein. Sie könnte inzwischen verschrottet worden sein.«

Die Vorstellung, das Hotel zu verlassen, und dann feststellen zu müssen, dass der Schuppen leer war, behagte Martin ganz und gar nicht. Das Risiko war einfach viel zu groß.

»Fällt dir sonst noch etwas ein?«

Selma schüttelte wieder den Kopf.

»Wenn das Telefon funktionieren würde, wäre es kein Problem. Wir könnten die Polizei verständigen und die Bahn könnte uns abholen«, zischte Meier hinter ihnen.

Martin merkte, wie Meier stockte. Offensichtlich war ihm noch ein Gedanke gekommen.

»Früher hatten wir hier ein CB-Funkgerät, eben für Notfälle. Ich glaube, Söder hat das hässliche Ding vor ein paar Jahren abgebaut und in den Keller verbannt.«

»Das hört sich gut an«, flüsterte Martin.

Er hatte nicht vergessen, dass er Selma fragen wollte, ob sie etwas mit den E-Mails an ihn zu tun hatte. Aber bisher hatte sich einfach noch kein geeigneter Moment ergeben.

Sie hatten jetzt die Tür zur zweiten Etage erreicht. Martin stockte. Hier ging es nicht mehr weiter nach oben.

»Du sagtest doch Zurbriggen und Frau Seewald wohnen über der zweiten Etage.«

»Die Treppe führt innerhalb der zweiten Etage nach oben. Wir müssen zuerst in den Flur«, gab Selma bedrückt zurück.

Meier fing an, zu wimmern. Seine Nerven spielten nicht mehr mit. Schließlich konnte der Mörder Kaltenbach überall sein, auch hinter der Tür zur zweiten Etage.

Martin atmete tief durch und reflektierte noch einmal seine Situation. Es war absurd. Er war hier heraufgekommen, um zu arbeiten und, um sich seiner Schneephobie zu stellen. Stattdessen musste er nun mit den Angestellten des Hotels um sein Leben fürchten. Zudem quälten ihn diese entsetzlichen Kopfschmerzen und seine Frau, die er vor drei Jahren beerdigt hatte, schrieb ihm kryptische Nachrichten. Aber die Lage, in der sie sich befanden, wurde vom Nachdenken nicht besser. Sie mussten etwas unternehmen. Dabei konnten Walter Zurbriggen, Marianne Seewald und Ernst Söder, die vermutlich nichtsahnend in der oberen Etage schliefen, ihnen vielleicht helfen.