58
Sie nahm den Geruch wahr, als sie das Kissen näher zu sich heranzog. In den Laken, als sie sich in der Dunkelheit herumrollte und vergebens nach einer kühlen Stelle tastete.
Mordsaison.
Sie schwebte. Ließ sich treiben. Trudelte durch eine Lücke zwischen Schlaf und Wachsein.
Lena warf einen Blick auf die Uhr, konnte aber nicht wirklich etwas erkennen, und sackte wieder zurück in den Strom. Es war nach Mitternacht, irgendwann vor Morgengrauen. Frühlingsanfang, und die Luft im Haus war bereits stickig von der drückenden Hitze.
Die Mordsaison hatte in diesem Jahr früh angefangen, war mit der Hitze herangewalzt, als seien sie die besten Freunde, ja, sogar ein Liebespaar.
Lena streckte die Hand aus und tastete vorsichtig, aber vergeblich nach einem warmen Körper. Als sie sich auf den Rücken drehte, hörte sie im Hintergrund ein Geräusch. Sie versuchte, es zu ignorieren, bis sie sich nach einer Weile fragte, ob es nicht Teil ihres Traums war.
Endlich erkannte sie das Läuten ihres Mobiltelefons.
Sie schlug die Augen auf. Das Telefon lag nicht auf dem Nachttisch. Als sie das Leuchten hinter dem Bett bemerkte, beugte sie sich hinunter und griff danach. Es war halb zwei. Hoffentlich musste sie nicht wieder zu einem Einsatz. Lena brauchte Ruhe, bevor sie sich auf den nächsten Fall stürzte.
Als sie das Telefon ans Ohr hielt, hörte sie eine schüchterne Männerstimme, die sie nicht einordnen konnte.
»Wer spricht da?«, fragte der Mann.
»Lena Gamble«, erwiderte sie. »Und wer sind Sie?«
Eine lange Pause entstand. Lena blickte sich im Zimmer um und stellte fest, dass sie bei Vaughan war. Das Badezimmerlicht brannte, die Tür war geschlossen. Sie erinnerte sich an die letzte Nacht. Es war schön gewesen.
Der Anrufer räusperte sich. Seine Stimme war leiser als zuvor.
»Was machen Sie mit diesem Telefon?«, erkundigte er sich.
Lena seufzte entnervt auf.
»Sie haben mich angerufen«, erwiderte sie. »Woher haben Sie meine Nummer? Wer sind Sie?«
Wieder räusperte er sich. Er wirkte nervös.
»Genau das ist das Problem«, sagte er schließlich. »Ich habe Ihre Nummer gar nicht, Detective, und ich habe Sie auch nicht angerufen. Ich wollte meine Tochter hören. Ich wollte ihre Ansage hören, aber Sie sind rangegangen.«
Die Sätze waren wie ein Schlag in die Magengrube. Hammerhart, dunkel, beklemmend.
Lena fuhr ruckartig hoch. Es war Tim Hight. Sie hatte Lily Hights Telefon in der Hand, das bisher unauffindbar gewesen war. Sie betrachtete ihren nackten Körper unter den Laken und erinnerte sich, dass ihre Sachen im Wohnzimmer lagen. Und noch schlimmer: Sie war offziell nicht im Dienst und hatte ihre Waffe zu Hause gelassen.
Hight brach das Schweigen.
»Stecken Sie in Schwierigkeiten, Detective Gamble?«
Sie antwortete nicht, denn sie bekam keine Luft mehr. Ihr Blick wanderte zur Badezimmertür und zurück. Sie befand sich auf vermintem Gelände. Feuergefährlich.
»Offenbar haben Sie Ärger«, fuhr Hight fort. »Wenn Sie Lilys Telefon haben, sind Sie bei dem Mann, der sie umgebracht hat. Sie müssen mir sagen, wo Sie sind. Wenn Sie nicht frei sprechen können, gibt es auf der Startseite ein Programm. Drücken Sie einfach auf das Symbol, dann teilt mir das Telefon Ihren Aufenthaltsort mit.«
Vaughan. Gerade hatte sie noch mit dem Mann geschlafen.
Sie fand das Programm und öffnete es. Während ihr Aufenthaltsort aufgezeichnet wurde, beendete Hight das Gespräch, und Lena stand aus Vaughans Bett auf. Sie bemühte sich, die Ruhe zu bewahren. Und sich vor Augen zu halten, dass sie nicht mehr träumte. Als sie am Bad vorbeischlich und ins Wohnzimmer hastete, wo ihre Sachen lagen, behielt sie das Telefon im Auge. Das Icon mit der Aufschrift FOTOS sprang ihr entgegen. Als sie es anklickte, erschienen einige Dateien mit Standfotos. Lena klickte auf die letzte Datei, ein Video.
Ihre Hände fingen an zu zittern, und sie spürte die Todesangst bis ins Mark.
Lily hatte bei Kerzenschein Sex mit ihrem Mörder. Die beiden reichten ausgelassen lachend die Kamera hin und her. Vaughan nahm Lily in die Arme und küsste sie. Sie liebten sich in Vaughans Bett.
Das Licht im Bad ging aus, und die Tür öffnete sich ganz langsam.
Vaughan sah sie durchdringend an. Er trug Jeans und ein Polohemd. Und hatte eine Waffe in der Hand. Er kam auf Lena zu und blieb mitten im Zimmer stehen. Obwohl sein Gesicht fast völlig in der Dunkelheit lag, konnte Lena seine Augen erkennen. Die hellbraunen Augen funkelten im Mondlicht, das durch die Fenster im Flur hereinströmte.
Lena gelang es, ruhig zu bleiben. Und irgendwie fand sie ihre Stimme wieder.
»Warum hast du es behalten?«
Vaughan griff nach dem Telefon. Seine Stimme zitterte vor Wut, war jedoch kaum mehr als ein Flüstern.
»Weil ich es dauernd anschauen muss«, erwiderte er. »Ich muss ständig daran denken. Die Sache war ein Unfall. Ein Fehler.«
Lena fand BH und Höschen und begann, sich anzuziehen. Vaughan beobachtete sie.
»Fehler! So nennt man das also.«
Als das Licht auf sein Gesicht fiel, wirkte es plötzlich härter.
»Du hast das Video gesehen, Lena. Du hast gesehen, wie gern sie an diesem Tresen saß. Ich steckte mitten in einer Scheidung. So komisch es klingt, ich war an besagtem Abend sogar mit Bennett und Higgins in dem Club. Sie sind nach oben gegangen, um mit Bosco zu reden, ich blieb in der Bar und bin Lily begegnet. Sie war wunderschön. Ein Traum. Mir war klar, dass sie jünger war als ich, aber mehr wusste ich nicht. Für mich war sie ein Segen. Ein Geschenk des Himmels nach meiner Scheidung. Es war belebend, ich habe es gebraucht, und zwischen uns hat es einfach klick gemacht. Wir sind hierher gefahren. Wir haben eine Flasche Wein getrunken. Wir haben geredet, und wir haben uns geliebt. Und dann hat sie mich gebeten, sie nach Hause zu bringen.«
Vaughan hielt inne, aber nur kurz, um sich den Mund abzuwischen.
»Sie sagte, dass sie noch bei ihren Eltern wohnt. Dass sie noch in der Highschool sei. Oh, mein Gott, verdammter Mist, sie war ein Schulmädchen.«
Lena steckte die Bluse in den Hosenbund und steckte die Jeans in die Stiefel. Dann warf sie einen Blick auf die Waffe in Vaughans Hand. Eine kleine Glock.
»Dein Leben ist vor deinen Augen vorbeigeglitten, und da hast du beschlossen, dass Mord dein einziger Ausweg ist«, sagte sie.
»Nein, wirklich nicht, Lena. Ich habe sie angerufen. Ich habe mir eines von diesen Telefonen gekauft, bei denen man die Nummer nicht zurückverfolgen kann. Du hast sie ja auf der Rechnung gesehen … die Nummer, die Bennett vor dem Prozess hat löschen lassen, weil sie Gant nicht belastete.«
»Du hast versucht, ihr deine missliche Lage zu erklären. Und ihr gesagt, dass sie nicht darüber reden soll.«
»Sie hat mich ausgelacht und meinte, sie hätte sich prima amüsiert. Sie wolle es gerne wiederholen. Und dann hat sie gedroht, dass sie, wenn wir es nicht noch einmal machen würden, dafür sorgt, dass die ganze Welt erfährt, wie ich heiße und wo ich arbeite.«
»Warst du einverstanden, dich mit ihr zu treffen?«
»Ja. Ich habe mich am Freitagabend mit ihr verabredet. Ihre Eltern sind essen gegangen. Ich habe sie abgeholt, aber wir sind nur im Kreis herumgefahren, während ich versucht habe, ihr klarzumachen, was für mich auf dem Spiel steht. Ich habe ihr erklärt, dass das, was zwischen uns geschehen ist, wunderschön gewesen sei und jedem hätte passieren können. Doch wenn jemand davon erfährt, würde er die Umstände nicht verstehen. Kein Mensch würde unsere Geschichte glauben, und mein Leben wäre ruiniert.«
»Das klingt, als würdest du ihr zum Vorwurf machen, dass sie erst sechzehn war, Vaughan. Warum hast du überhaupt versucht, mit ihr herumzustreiten?«
Er lachte höhnisch auf.
»Da hast du recht, Lena. Sie hörte nicht zu. Ihr war alles scheißegal. Sie hat sogar gesagt, dass ich sie nicht mehr interessiere. Sie habe sich mit ihrem Freund versöhnt, und sie hätten kurz vor unserem Treffen miteinander geschlafen. Aber sie wolle es ihrem Vater erzählen, weil sie inzwischen ein schlechtes Gewissen hätte. Ich bin nicht sicher, was danach geschah, ich erinnere mich nur noch, dass ich ausgetickt bin. Bestimmt habe ich ihr eine Scheißangst gemacht, und wir beide wissen, was dann passiert ist. Sie wollte aus dem Auto springen, und ich hatte hinten Werkzeug liegen. Also habe ich den Schraubenzieher genommen und ihn ihr in den Scheißrücken gerammt.«
Wir beide wissen, was dann passiert ist.
Inzwischen sah Lena alles deutlich vor sich. Lily hatte Vaughan alle Informationen geliefert, die er brauchte, um den Tathergang in seinem Sinne zu inszenieren. Sie hatte ihm erzählt, dass sie Sex mit Gant gehabt hatte – sodass aller Wahrscheinlichkeit nach Spermaspuren zurückgeblieben waren. Und dass die beiden sich wieder versöhnt hatten.
»Wie hast du geschafft, dass es wie eine Vergewaltigung aussah?«, fragte sie. »Was hast du benutzt, Vaughan?«
Seine Miene erstarrte, und er musterte sie lange Zeit mit den funkelnden Augen, die sie so gut kannte.
»Das willst du gar nicht wissen. Aber eines erzähle ich dir. Bei jedem Mensch gibt es einen Punkt, an dem bei ihm eine Saite reißt. Und wenn der überschritten ist, wird einem klar, dass man zu fast allem in der Lage ist.«
Wieder Schweigen. Lena versuchte, sich zu konzentrieren. Sie brauchte Zeit. Sie musste diesen Unmenschen unbedingt weiter zum Reden bringen.
»Wie hast du es geschafft, so dicht an Jacob Gant dranzubleiben?«
Vaughan zuckte die Achseln.
»Habe ich gar nicht. Ich dachte, ich wäre aus dem Schneider. Als die Beweise im Labor verschwanden, wusste ich, dass da noch jemand mitmischt. Doch wie ich schon vorhin bei Cobb gesagt habe: Ganz gleich, wie der Prozess auch ausgegangen wäre, alle hätten Gant weiter für den Mörder gehalten. Als sich die Sache nach dem Urteilsspruch zum Desaster in Sachen Öffentlichkeitsarbeit auswuchs, hatten alle, in deinem Laden wie auch in meinem, ein Interesse daran, dass Gant weiter als Täter galt, weil die Alternative die absolute Katastrophe gewesen wäre.«
»Und du hast nicht befürchtet, dass jemand dir nachspüren könnte?«
»Eigentlich nein, bis zu dem Nachmittag, als Johnny Bosco mich anrief. Gant hatte ihm gesagt, Lily sei eine Woche vor ihrem Tod in seinem Club gewesen. Sie sei mit einer Freundin gekommen und vermutlich mit einem Typen gegangen. Deshalb war Bosco einverstanden, Gant zu helfen. Und deshalb hat Lilys Freundin Julia Hackford nie den Mund aufgemacht. Du hattest recht, Lena. Es ging einzig und allein um Selbstschutz und Eigeninteressen. Gant hatte Lilys Haus durchsucht und ihr Mobiltelefon gefunden. Er hatte das Video gesehen, das du dir gerade angeschaut hast, und wollte es Bosco zeigen, damit er den Mann identifizierte, der seiner Ansicht nach der Mörder war. Bosco war in Sorge, dass es sich um einen Promi handeln könnte, und wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Higgins traute er nicht, weil der im Wahlkampf steckte und eine gute Presse brauchte. Bennett kam auch nicht in Frage, weil er und Higgins siamesische Zwillinge waren und er den Typen für einen Verlierer hielt. Er hat mir erzählt, er hätte nicht einmal seinen Geschäftspartner eingeweiht, um ihn zu schützen.«
Lena schüttelte den Kopf.
»Also hat Bosco sich an dich gewandt. Er hat dir alles erzählt, was du wissen musstest.«
»Sogar die Uhrzeit.«
»Und damit stand Boscos Ende fest.«
»Eigentlich nein. Ich habe das nicht vorausgesehen. Obwohl alle einen Racheakt von Hight vermuten würden, hätte ich nie gedacht, dass im Club der Vorhang fällt. Ich glaubte, dass man mir nichts nachweisen konnte. Deshalb habe ich auch die Waffe aus der Asservatenkammer geholt, die in der Schießerei vor acht Jahren benutzt wurde. Ich wusste, dass Higgins und Bennett Feiglinge sind. In einem Prozess gegen Tim Hight würden sie fluchtartig in Deckung gehen und mich zum neuen Aushängeschild der Staatsanwaltschaft erklären. Und mir war klar, dass ich mit dir zusammenarbeiten würde und du nur anbeißt, wenn der Fall für dich eine Herausforderung darstellt. Da wir ein Team waren, dachte ich, dass ich für diese Herausforderung sorgen könnte. Deshalb war Bennett der optimale Bösewicht. Bei ihm stimmte alles. Was du über ihn herausgefunden hast, entspricht in sämtlichen Punkten den Tatsachen … mit Ausnahme der Morde. Er hat seine Zeugen beeinflusst und den Mord an Wes Brown auf dem Gewissen. Außerdem hatte er einen schlechten Ruf, was Frauen betrifft, und ist skrupellos fremdgegangen. Er hat Jacob Gant wegen des Mordes an Lily vor Gericht gestellt, obwohl er schon sechs Wochen zuvor wusste, dass er den Falschen anklagt. Also war Bennett unser Mann, denn bei ihm passte einfach alles. Weil er ein mieses Schwein war. Weil alles, was er getan hat, um Jacob Gant anzuschwärzen, widerlegt werden konnte, bis es aussah, als wollte er nur seinen eigenen Arsch retten. Warum, glaubst du, hat er sich umgebracht? Meinst du, er hatte wirklich keine Ahnung?«
Lenas Mobiltelefon läutete. Es lag auf dem Sofa, wo sie auch ihre Kleider hingeworfen hatte. Etwas an Vaughans Blick veränderte sich. Steif wie ein Roboter durchquerte er das Zimmer, neigte den Kopf und betrachtete das Display.
»Nimm den Anruf an«, rief er. »Los!«
»Wer ist es?«
»Martin Orth, und das kurz vor zwei Uhr morgens.«
Er stieß ihr die Glock dicht unterhalb der Rippen in die Seite.
»Nimm den Scheißanruf an, Lena.«
Vaughan war kurz vor dem Durchdrehen. Und ihr war klar, dass ihm nur ein Ausweg blieb. Wenn er sie umbrachte und es schaffte, ihre Leiche zu beseitigen, war er ein freier Mann. Hight wusste, wo sie sich aufhielt und dass sie das Telefon seiner Tochter gefunden hatte – mehr aber auch nicht. Er nahm zwar an, dass sie beim Mörder seiner Tochter war, doch das war nur eine Vermutung.
Sie griff zum Telefon.
»Marty.«
»Lena, ich weiß, dass es schon spät ist, ja, mitten in der Nacht, aber es ist wichtig.«
Orth war aufgebracht und sprach sehr schnell. Nach den Hintergrundgeräuschen zu urteilen, rief er offenbar aus dem Labor an.
»Was ist?«, fragte sie.
»Die DNA, auf Lilys Jeans.«
»Was ist damit?«
Vaughan stieß ihr noch einmal kräftig die Pistole zwischen die Rippen. Lena zuckte vor Schmerz zusammen, gab aber keinen Mucks von sich. Als Orth weitersprach, klang er verängstigt.
»Wir haben einen Abgleich durchlaufen lassen«, fuhr er fort. »Die Datenbank der Straftäter hat nichts ausgespuckt. Allerdings hat die Überprüfung auch alle staatlichen Mitarbeiter eingeschlossen. Lena, ich weiß nicht, wie ich es Ihnen schonender beibringen soll. Wir haben den Falschen erwischt. Der Mörder ist nicht Bennett. Sondern Vaughan.«
Beinahe hätte Lena laut losgelacht.
»Unternehmen Sie deshalb etwas?«, fragte sie.
»Ich habe Polizeichef Ramsey angerufen, bevor ich Ihnen Bescheid gesagt habe. Was ist denn los? Sie klingen so komisch.«
»Danke für den Tipp, Marty. Ich muss jetzt Schluss machen.«
Vaughan riss ihr das Telefon aus der Hand und warf es auf den Boden.
»Was wollte der Idiot? Was hat das Arschloch gesagt?«
»Sie haben die DNA auf Lilys Jeans untersucht. Die Überprüfung hat alle staatlichen Mitarbeiter mit eingeschlossen. Sie wissen, dass du es warst, und sind schon unterwegs.«
Er schlug sie so heftig ins Gesicht, dass sie zu Boden stürzte, doch sie ließ sich nicht beirren.
»Du hast Scheiße gebaut, Vaughan. Du hast alles verschwinden lassen bis auf das eine Beweisstück, das dich eindeutig als Täter entlarvt.«
Er schlug wieder zu. Dann trat er sie und versetzte ihr mit der Pistole einen Schlag auf den Kopf. Etwas im Zimmer veränderte sich. Lena betrachtete die Fenster neben der Eingangstür und hatte den Eindruck, dass im Mondlicht jemand vorbeigehuscht war.
Vaughan machte einen Schritt vorwärts, blickte zur Decke hinauf, richtete sich auf und schrie los wie ein Besessener. Seine Arme zitterten, und sein Körper bebte. Er war in Panik. Er hatte sich nicht mehr im Griff und wurde unkonzentriert, sah Lena an und stieß ein Zischen aus. Im nächsten Moment griff er nach Brieftasche und Schlüssel und rannte den Flur entlang zur Tür.
»Du solltest auf die Polizei warten, Vaughan. Bleib lieber hier.«
Er drehte sich zu ihr um.
»Warum?«
»Weil ich glaube, dass da draußen jemand ist.«
»Hast du nichts Besseres auf Lager?«
»Ich glaube, da draußen ist jemand«, wiederholte sie.
Er lachte ihr ins Gesicht. Dann entriegelte er die Tür, riss sie auf und lief in die Nacht hinaus.
Schüsse fielen, insgesamt fünf. Einer war sehr laut und kam aus der Nähe des Hauses, die übrigen von weiter weg. Lena hastete zur Tür und spähte hinaus. Tim Hight stand vor dem toten Vaughan und zielte mit einer Pistole auf seinen Kopf. Sie hörte Hights Weinen, noch während sie über den Rasen eilte. Er wischte sich die Augen und betrachtete die Leiche.
Lena nahm ihm die Waffe aus der Hand und warf sie ins Gras. Hight drehte sich zu ihr um. Am ganzen Leibe zitternd, vergrub er den Kopf an ihrer Brust. Die Tränen strömten ihm übers Gesicht. Sirenen näherten sich. Lena spürte, wie Hight sich schwer auf sie lehnte, sodass sie ihn stützen musste.
»Habe ich ihn erwischt?«, flüsterte er ihr zu. »Habe ich den Kerl erwischt, der Lily ermordet hat?«