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Cobb lebte in einem heruntergekommenen Mietshaus neben dem Getränkemarkt Fiesta Liquors und dem Münzwaschsalon Rancho in der Vineland Avenue zwischen den beiden Startbahnen des Bob Hope Airport in Burbank. Als Lena das Gebäude, dessen Architektur eher an ein Motel erinnerte, vom Auto aus betrachtete, wurde ihr klar, dass Cobbs Absturz ein jäher Fall ganz nach unten gewesen war.

Cobb blickte nicht mehr in den Abgrund hinab, er wohnte darin.

Die einzige Sicherheitsvorkehrung war ein eins fünfzig hoher Zaun mit einem defekten Tor. Da Lena keinen Parkplatz entdeckte, fuhr sie einmal um den Block und hielt Ausschau nach dem weißen Lincoln. Die meisten Autos am Straßenrand schienen nicht mehr verkehrstüchtig zu sein und hatten vermutlich schon seit einigen Jahren keinen Kilometer mehr zurückgelegt. Mehr als eine Handvoll waren mit Betonsteinen hochgebockt, die Räder abmontiert, die Windschutzscheiben zerschmettert. Nachdem Lena zum zweiten Mal an Cobbs Haus vorbeigekommen und ziemlich sicher war, dass er so bald nicht zurückkehren würde, stellte sie das Auto auf dem Parkplatz eines mexikanischen Supermarkts zwei Häuserblocks weiter südlich ab und ging den Rest zu Fuß.

Inzwischen bewegte Lena sich wie ferngesteuert. Ihre Geduld war am Ende, und sie konnte kein Verständnis mehr aufbringen. Sie fühlte sich ausgelaugt. Eine falsche Bewegung, und das Drecksflugzeug würde eine Bruchlandung machen. Wenn sie zu gründlich über das nachdachte, was sie vorhatte, würde sie sich eingestehen müssen, dass sich die Maschine bereits im Sturzflug befand.

Eine Überprüfung der Nummern an den Türen ergab, dass Cobb im ersten Stock am Ende des Flurs wohnte.

Lena eilte die Treppe hinauf. Die meisten Fenster standen offen, und der Geruch nach Maistortillas und siedendem Öl stieg ihr in die Nase. Sie hörte verschiedene Sprachen, hauptsächlich Spanisch, aber auch Russisch und Armenisch. Als sie Cobbs Nachbarwohnung erreichte, bemerkte sie plötzlich eine alte Mexikanerin, die am Fenster saß. Die Frau wirkte uralt und verzog keine Miene, selbst als ihre Blicke sich trafen. Zwei Augen starrten stumpf geradeaus.

Lena hastete zu Cobbs Tür, läutete und sah sich um, während sie darauf wartete, dass jemand aufmachte. Die alte Frau hatte ihren Stuhl ein Stück verrückt, um sie besser beobachten zu können.

Lena wandte sich wieder der Tür zu, untersuchte den Riegel und holte blitzschnell die Dietriche aus der Tasche. Offenbar entsprach die Qualität von Cobbs Türschloss dem Zustand des restlichen Gebäudes. Lena steckte den Spanner ins Schloss und begann, die übrigen Stifte mit leichtem Druck und einem Sperrhaken zu bearbeiten, bis sie spürte, dass sie einrasteten. Neunzig Sekunden später war sie beim letzten Stift angelangt, und der Spanner ließ sich drehen. Als die Tür aufging, sah sie sich noch einmal nach der alten Frau um. Sie starrte sie immer noch mit stumpfem Blick an.

Lena trat in Cobbs Wohnung, schloss die Tür hinter sich und legte den Riegel vor. Sie wollte nicht lange bleiben, höchstens eine Viertelstunde.

Das Knacken von Schlössern hatte sie von einem professionellen Einbrecher gelernt, den sie während ihrer Dienstzeit in Hollywood vor über fünf Jahren festgenommen hatte. Jonathan Redgrave hatte zwar einen Master in Betriebswirtschaft von der Universität Stanford in der Tasche, jedoch die nächsten dreißig Jahre nach seinem Abschluss lieber nachts gearbeitet und war dabei ein sehr reicher Mann geworden. In einem Vernehmungszimmer hatte Lena gelernt, dass sich ein erfolgreicher Einbruch eigentlich nur auf drei Grundsätze stützte. Erstens musste die Beute das Risiko wert sein. Zweitens war es notwendig zu wissen, wie man unbemerkt ins Gebäude eindringen konnte. Und drittens – und das war das Wichtigste – musste es einen Notausgang geben.

Cobbs Wohnung war klein, spartanisch möbliert und hatte nur zwei Zimmer. Lena überprüfte die Fenster. Wenn es Probleme geben sollte, war das Schlafzimmerfenster vermutlich der beste Fluchtweg, allerdings musste man etwa sieben Meter tief auf eine Betonfläche springen. Lena öffnete das Fenster und spielte die möglicherweise notwendige Flucht in Gedanken durch. Nachdem ihr Plan feststand, beschloss sie, die Wohnung in umgekehrter Reihenfolge zu durchsuchen. Anders als die meisten Profis fing sie nicht im Schlafzimmer an, sondern arbeitete sich bis dorthin vor.

Wohnzimmer und Küche bestanden aus einem etwa dreißig Quadratmeter großen Raum, der seit langer Zeit nicht mehr frisch gestrichen worden war. Das Sofa stand an der Wand. Ein alter Küchentisch mit Beinen aus Stahlrohr und einer Resopalplatte und zwei Stühle standen vor dem Fenster. Lena bemerkte einen Computer, Quittungen, Kleingeld und ungeöffnete Post. Anscheinend benutzte Cobb den Tisch als Schreibtisch; das Regal daneben an der Wand diente zur Aufbewahrung von Unterlagen und Büchern. Auf dem Boden vor einem alten Fernsehapparat stapelten sich Akten und Papiere.

Lena schaltete den Computer ein. Während er hochfuhr, blätterte sie die an der Wand aufgeschichteten Papiere durch, die sich anscheinend alle mit Cobbs privater finanzieller Situation befassten. Als sie einen Kontoauszug aus jüngerer Zeit überflog, stellte sie fest, dass der Großteil von Cobbs Gehalt an seine Exfrau überwiesen wurde. Der Rest ermöglichte ihm mehr schlecht als recht ein Leben hier in der Vineland Avenue neben einem Schnapsladen und einem Münzwaschsalon.

Lena schob den bedrückenden Gedanken beiseite und warf einen Blick auf den Computer. Er lief zwar inzwischen, war aber eigentlich nicht das, was sie wirklich interessierte. Sie sah auf die Uhr. Schon fünf Minuten vorbei. Sie musste sich beeilen.

Die Schubladen und Schränke in der Küche förderten keine Geheimnisse zutage, auch nicht der Kühl-und Gefrierschrank. Auf dem Bord über der Spüle entdeckte sie ein Foto in einem billigen Plastikrahmen. Aus der Entfernung hielt sie es für eine Aufnahme von Cobb mit Frau und Kindern aus der Zeit, bevor es mit seiner Ehe bergab gegangen war. Doch als sie danach griff, sah sie, dass es sich um ein mit dem Rahmen geliefertes Foto handelte. Die Menschen darauf waren Fotomodelle und spielten eine Familie, ein Abklatsch des amerikanischen Traums – breit lächelnd, erholt und gut ernährt.

Lena stellte das Bild weg. Nachdem sie die Polster auf dem Sofa angehoben hatte, wandte sie sich dem Schlafzimmer zu.

Unerbittlich saß ihr die Zeit im Nacken, und Lena sah ständig die alte Frau im offenen Fenster vor sich. Außerdem hatte sie die Stimme ihres Einbrecherfreundes im Ohr, die sie dafür rügte, dass sie gegen die wichtige Regel Nummer zwei verstoßen hatte.

Hastig durchwühlte sie Cobbs Kommode Schublade für Schublade und stellte enttäuscht fest, dass die Pistole fehlte. Dann hob sie die Matratze an und spähte unter das Bett, warf einen Blick auf das oberste Regal im Wandschrank, untersuchte Cobbs Kleider und bückte sich, um rasch den Schrankboden in Augenschein zu nehmen. Im nächsten Moment erstarrte sie.

Nicht die Waffe, sondern ein blauer Aktenordner lag versteckt hinter einem Schuhkarton.

Lena schob die Schuhe weg und nahm ihn. Als sie das Inhaltsverzeichnis studierte, Lily Hights Namen las und erkannte, dass die Akte von Papieren überquoll, die ihr noch nie zuvor untergekommen waren, zögerte sie keinen Moment.

Den Ordner fest in der Hand, schloss sie die Schranktür.

Danach eilte sie ins Wohnzimmer, um einen raschen Blick auf Cobbs Computer zu werfen. Die Festplatte enthielt nichts Außergewöhnliches. Doch als sie seine Lesezeichen kontrollierte und seine E-Mails überflog, hielt sie inne.

Offenbar war Cobb ein häufiger Besucher von Dating-Websites gewesen. Lena zählte mindestens hundert Mails von einer Frau, die sich Betty Kim nannte. Sie wählte willkürlich eine Mail aus, in der Kim ihren Körper beschrieb und ausführte, was sie sich in einer sexuellen Beziehung erwartete. Sie bezeichnete sich selbst als »scharf«, überließ nichts der Phantasie und erbot sich, Cobb einige Nacktfotos zu schicken. Cobb antwortete, er esse gerne Sushi und gehe oft ins Kino. Außerdem finde er Kim tatsächlich scharf und freue sich schon sehr auf die Fotos.

Im nächsten Moment wurde Lena unsanft in die Wirklichkeit zurückgeholt.

Sie hörte, dass die alte Frau auf Spanisch etwas rief. Als der Schatten eines Mannes auf die Vorhänge fiel, schaltete sie, von Aufregung ergriffen, den Computer ab. Cobb war zurück. Sein Schlüssel drehte sich im Schloss. Lena griff nach der Fallakte, rannte ins Schlafzimmer und warf den Ordner aus dem Fenster. Dann kletterte sie hinaus, klammerte sich am Fensterbrett fest und schloss das Fenster mühsam wieder.

Die Wohnungstür öffnete sich. Cobb sagte etwas. Lena sprang und kam hart auf dem Beton auf. Doch inzwischen lief alles auf Autopilot. Sie hatte keine Geduld mehr. Und kein Verständnis mehr. Nur noch ein Magazin voller Kugeln.

Als sich ein Flugzeug mit ausgeklapptem Fahrwerk aus dem Himmel herabsenkte, war der Lärm ohrenbetäubend, und der Erdboden erbebte. Lena hob die Fallakte auf und rannte so schnell sie konnte die Straße hinunter.

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