43

Lena legte auf und drehte sich zu Vaughan um.

»Es ist ein TracFone«, verkündete sie. »Anonym, nur eine Nummer ohne Namen. Es ist nicht mehr benutzt worden.«

Sie arbeiteten in dem unverwanzten Eckbüro am Ende des Flurs. Cobbs Fallakten lagen nebeneinander auf dem Tisch. Sie hatten damit angefangen, Lilys Mobiltelefonrechnungen aus beiden Akten miteinander zu vergleichen, und leider stimmten sie nicht überein. Jemand hatte Lily in der Woche vor ihrem Tod angerufen. Die Anrufe begannen nach dem Abend, an dem sie in Begleitung des Mannes im Nadelstreifenanzug den Club 3 AM verlassen hatte, und nahmen im Laufe der Woche zu.

»Wann fand der letzte Anruf statt?«, fragte Vaughan.

»Am frühen Abend der Mordnacht. Er dauerte sieben Minuten.«

»Der Typ, den sie im Club kennengelernt hat«, stellte er fest. »Der Mörder.«

Mit einem Nicken betrachtete Lena den Verbindungsnachweis in der Fallakte, die Cobb ihr gegeben hatte.

»Warum also steht die Nummer nicht auf dieser Rechnung?«

Die Antwort lag auf der Hand. Sie hatten es mit verzweifelten Gegnern zu tun, die mit dem Rücken zur Wand standen, sodass sie bereit waren, Beweise zu fälschen oder zu erfinden, mit dem Ziel, zu verhindern, dass Lena oder sonst jemand diese Telefonnummer je zu Gesicht bekam. Sie mussten sich mit einem Mann wie Dan Cobb auseinandersetzen, der ein Anforderungsformular für einen acht Jahre alten Fall ausgefüllt hatte, weil er eine Pistole brauchte. Nämlich die Neun-Millimeter Smith & Wesson, mit der Bosco und Gant ermordet worden waren. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte auch Escabar drei Kugeln aus dieser Waffe abbekommen, nachdem jemand sie dazu benutzt hatte, den Wachmann niederzuschlagen, um ihn anschließend mit einer Plastiktüte zu ersticken.

Vaughan nahm eine dicke Akte aus seinem Aktenkoffer.

»Das ist hier nicht die Frage, Lena. Mich interessiert eher, welche Version Bennett und Watson im Gerichtssaal verwendet haben.«

Er blätterte die Papiere durch, bis er eine weitere Mobilfunkrechnung gefunden hatte, und legte sie neben die anderen beiden. Der Großteil der Nummern war mit einem Markierstift geschwärzt worden. Es war der Nachweis, auf dem nur die Anrufe von Jacob Gant auftauchten. Doch selbst ein Markierstift konnte den Text darunter nicht völlig verdecken, wenn man die Rechnung an eine grelle Lichtquelle hielt. Die durchgestrichene Nummer war die des TracFone.

Eine Weile herrschte Stille, als wären sie in ein schwarzes Loch gefallen. Offenbar hatten Lena und Vaughan es mit einem korrupten Polizisten und einem Dreigestirn ebenfalls korrupter Staatsanwälte zu tun.

Lena senkte die Stimme.

»Möchtest du dagegen wetten, dass die Nummern auch in der Kopie fehlen, die Paladino ausgehändigt wurde?«

Vaughan wirkte noch immer wie benommen.

»Nein«, erwiderte er gedehnt. »Diese Wette würde ich nie riskieren. Außerdem glaube ich, dass mit Gants E-Mails an das Mädchen dasselbe passiert ist.«

»Wie genau?«

»Ich habe sie gelesen, während du am Telefon warst. Sie stimmen auch nicht überein. Die in der Fallakte, die Cobb dir gegeben hat, stellen Gant als aggressiven Mann dar, der Lily bedroht hat. Aus denen in dem Ordner, auf den du in Cobbs Schrank gestoßen bist, geht hervor, dass Gant sich Sorgen um sie gemacht hat und ihr helfen wollte.«

Vaughan legte die beiden Mails auf den Tisch. Während Lena sie studierte, nahm Vaughan die Version aus seinem Aktenkoffer, die Bennett und Watson vor Gericht präsentiert hatten. Lena überprüfte das dritte Dokument, das ihr Vertrauen in die Gerechtigkeit tief erschütterte.

»Sie haben eine bearbeitete Version eingereicht«, flüsterte sie.

Vaughan sah sie an.

»Ist dir der Fall Michael Skakel ein Begriff?«

Sie nickte.

»Ethel Kennedys Neffe. Er wurde wegen des Mordes an Martha Moxley vor Gericht gestellt. Die beiden waren noch Jugendliche. Er war damals fünfzehn.«

Vaughan zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.

»Der Staatsanwalt hat Tonbandaufnahmen gemacht, auf denen Skakel von Selbstbefriedigung und seiner Angst sprach, dabei erwischt zu werden. Und dann hat er sie geschnitten, bis es so klang, als gestehe er den Mord und habe befürchtet, man könne ihm die Tat nachweisen. Als Skakel gegen das Urteil in die Revision ging, entpuppte sich der Richter als ebenso ignorant und skrupellos wie der Staatsanwalt.«

Lena griff nach der Fallakte aus Cobbs Wohnung. Die unzähligen Unterlagen in dem Ordner fehlten in der Akte, die der Detective ihr vor wenigen Tagen gegeben hatte. Beim Durchblättern stieß sie auf ein vertrautes Papier. Sie hielt inne. Es war eine Kopie des Ergebnisses des Lügendetektortests, das Paladino an Higgins, Bennett und Watson geschickt hatte. Außerdem war etwas an die Rückseite des Berichts geheftet – ein Brief, adressiert an Bennett. Verfasser war Cesar Rodriguez, der forensische Psychophysiologe, der den Test bei Gant durchgeführt hatte. Rodriguez hatte sich bei Bennett für Gant eingesetzt. Laut Rodriguez gebe es keinerlei Hinweise darauf, dass Gant etwas mit dem Mord an Lily Hight zu tun hatte. In all seinen Jahren am kriminaltechnischen Institut der Polizei von Los Angeles habe er selten einen so klaren Fall erlebt. Deshalb sei er bereit, sich für Gant zu verwenden und sogar seinen guten Ruf in den Ring zu werfen.

Und Bennett hatte offenbar nichts dabei gefunden, diesen leidenschaftlichen Appell zu ignorieren.

Lena bekam ein Brennen in der Brust wie von einer weißglühenden Sonne, die Regentropfen trocknete, noch ehe sie den Boden berührten. Sie wusste, dass Anwälte vor Gericht ebenso Tatsachen verdrehten wie Politiker im Wahlkampf, doch das hier war etwas anders. So etwas Schäbiges und Widerwärtiges war ihr noch nie untergekommen.

»Ich möchte mich mit Bennett treffen«, sagte sie.

»Warum? Du machst einen ziemlich sauren Eindruck. Diese Leute sind gefährlich. Ich möchte dich ja nicht ängstigen, Lena, aber uns droht inzwischen offenbar dasselbe Schicksal wie Bosco und Gant.«

Lena schüttelte den Kopf.

»Ich muss ihn etwas fragen. Könntest du ihn bitte anrufen? Ich habe seine Nummer nicht.«

Nach einem zweifelnden Blick griff Vaughan zum Telefon und wählte Bennetts Büronummer.

»Tracy, hier spricht Greg«, sagte er. »Ist er da? Ich muss mit ihm reden. Es ist wichtig.«

Vaughan hörte Bennetts Sekretärin zu, bedankte sich und legte auf.

»Was ist?«, fragte Lena.

»Er ist nicht im Büro«, antwortete er, »sondern beim Mittagessen.«

»Wo?«

»Laut Tracy ist er mit Watson zusammen.«

»Hast du seine Mobilfunknummer? Wo sind sie?«

Vaughan warf ihr einen Blick zu und senkte die Stimme.

»Sie glaubt, dass sie ins Bonaventura wollten.«

Todesakt
titlepage.xhtml
Todesakt_split_000.html
Todesakt_split_001.html
Todesakt_split_002.html
Todesakt_split_003.html
Todesakt_split_004.html
Todesakt_split_005.html
Todesakt_split_006.html
Todesakt_split_007.html
Todesakt_split_008.html
Todesakt_split_009.html
Todesakt_split_010.html
Todesakt_split_011.html
Todesakt_split_012.html
Todesakt_split_013.html
Todesakt_split_014.html
Todesakt_split_015.html
Todesakt_split_016.html
Todesakt_split_017.html
Todesakt_split_018.html
Todesakt_split_019.html
Todesakt_split_020.html
Todesakt_split_021.html
Todesakt_split_022.html
Todesakt_split_023.html
Todesakt_split_024.html
Todesakt_split_025.html
Todesakt_split_026.html
Todesakt_split_027.html
Todesakt_split_028.html
Todesakt_split_029.html
Todesakt_split_030.html
Todesakt_split_031.html
Todesakt_split_032.html
Todesakt_split_033.html
Todesakt_split_034.html
Todesakt_split_035.html
Todesakt_split_036.html
Todesakt_split_037.html
Todesakt_split_038.html
Todesakt_split_039.html
Todesakt_split_040.html
Todesakt_split_041.html
Todesakt_split_042.html
Todesakt_split_043.html
Todesakt_split_044.html
Todesakt_split_045.html
Todesakt_split_046.html
Todesakt_split_047.html
Todesakt_split_048.html
Todesakt_split_049.html
Todesakt_split_050.html
Todesakt_split_051.html
Todesakt_split_052.html
Todesakt_split_053.html
Todesakt_split_054.html
Todesakt_split_055.html
Todesakt_split_056.html
Todesakt_split_057.html
Todesakt_split_058.html
Todesakt_split_059.html
Todesakt_split_060.html
Todesakt_split_061.html
Todesakt_split_062.html
Todesakt_split_063.html
Todesakt_split_064.html
Todesakt_split_065.html