24

Während der Fahrt zum Haus von Tim Hight überlegte Lena, was sie sich von einem Treffen mit ihm eigentlich versprach. Es störte sie nicht, dass sie allein war. Hight ohne Begleitung eines Partners einen Besuch abzustatten hatte seine Vorteile, da der Verdächtige dann vielleicht offener war. Allerdings musste sie zugeben, dass sie ein wenig erleichtert war, als sie um die Ecke bog und den Streifenwagen am Straßenrand stehen sah.

Lena parkte und ging, den Aktenkoffer in der Hand, zu den Kollegen hinüber. Am Steuer saß ein uniformierter Polizist, den sie vom Vortag wiedererkannte. Sie wusste auch, wie er hieß. Carmine Ruiz wirkte zwar, als sei er erst seit wenigen Wochen im Dienst, doch das störte Lena nicht.

»Ist er drin?«, erkundigte sie sich.

Ruiz unterdrückte ein Gähnen und zeigte auf den Wintergarten.

»Er hockt schon seit letzter Nacht dort am Fenster und raucht eine nach der anderen. Irgendwann war er mal draußen, um mir zu sagen, dass er sein Auto zurückhaben will. Ich glaube, er war betrunken.«

»Ich brauche Ihre Hilfe, Carmine. Keine große Sache. Kommen Sie einfach mit rein und warten Sie in der Diele.«

»Wird gemacht«, erwiderte er.

Sie gingen durch das Tor und den Weg hinauf zur Veranda. Noch ehe Lena anklopfen konnte, wurde die Tür aufgerissen, und Hight stand mit blutunterlaufenen Augen vor ihr. Er starrte die beiden Polizisten an, dass Lena unheimlich zumute wurde. Dann jedoch trat er wortlos zur Seite.

»Sind Sie nüchtern?«, fragte Lena.

Hight nickte.

»So einigermaßen.«

»Ich möchte mir noch einmal das Zimmer Ihrer Tochter anschauen.«

Der Mann schien einen Moment zu brauchen, um die Aufforderung zu verstehen, ging dann aber die Treppe hinauf. Lena folgte ihm mit drei Stufen Abstand, wobei sie darauf achtete, dass sich diese Entfernung nicht verringerte.

»Wo ist Ihr Freund?«, fragte er.

»Officer Ruiz wartet unten.«

»Wie lange wird es dauern? Wonach suchen Sie?«

»Öffnen Sie die Tür, Mr Hight.«

Er drehte am Türknauf und schob die Tür vorsichtig auf, sodass Licht in den Flur fiel. Beim Eintreten bemerkte Lena, dass Hight zögerte und sich an den Türrahmen lehnte.

»Sie haben mich gestern angelogen, Mr Hight. Sie haben behauptet, Sie hätten Jacob Gant seit der Gerichtsverhandlung nicht gesehen. Aber das stimmt nicht, richtig? Sie haben ihn in den letzten sechs Wochen tagtäglich beobachtet. Und an dem Tag, an dem er ermordet wurde, hatten Sie Streit mit ihm.«

Er starrte sie an, hielt ihrem Blick jedoch nicht stand, senkte den Kopf und betrachtete den Fußboden.

»Vielleicht habe ich die Frage ja nicht verstanden«, entgegnete er.

»Vielleicht. Allerdings war sie nicht allzu schwierig. Erzählen Sie mir bitte, worum es bei dem Streit ging.«

Hight zuckte die Achseln.

»Ich habe beobachtet, wie er über den Zaun gesprungen ist, und ihn aufgefordert, mein Grundstück nicht zu betreten.«

»Und das war alles?«

Er nickte.

»Mehr oder weniger.«

»Ich glaube Ihnen nicht, Mr Hight.«

»Das ist Ihr Problem, nicht meins, junge Frau.«

»Haben Ihre Anwälte Ihnen geraten, sich so zu verhalten?«

»Ich habe sie nicht angerufen.«

In seinem Tonfall schwang etwas Herablassendes mit. Trotz.

»Sie können das nicht allein durchstehen«, sagte Lena. »Es ist nämlich sehr wohl Ihr Problem. Sie haben ein sehr großes Problem und brauchen einen Rechtsbeistand. Darauf haben Sie einen Anspruch.«

Aber er hörte ihr nicht zu. Ja, er brauchte einen Rechtsbeistand. Doch außerdem brauchte er eine Dusche, eine Rasur und saubere Kleider.

Endlich wandte Lena den Blick ab und musterte das Zimmer. Auf fast jeder Fläche war Fingerabdruckpulver, weil es auf ihre gestrige Bitte hin noch einmal untersucht worden war. So seltsam es auch erscheinen mochte, hatten die Hights das Zimmer ihrer Tochter nicht in ein Mausoleum verwandelt.

»Sie halten sich öfter hier auf«, sagte Lena.

Hight schüttelte den Kopf.

»Ich habe seit Lilys Tod keinen Fuß mehr in dieses Zimmer gesetzt. Hin und wieder treffe ich meine Frau hier an. Ich weiß nicht, was sie tut.«

Lena nahm ein Paar Handschuhe aus ihrem Aktenkoffer und ging zur Kommode. Gestern hatte sie nach einer Waffe gesucht. Heute kam es ihr nur auf eine Bestätigung ihrer Theorie an. Sie holte aus der obersten Schublade eine Kamera heraus und drückte auf POWER. Das Gerät ließ sich zwar einschalten, doch nur, um anzuzeigen, dass der Akku aufgeladen werden musste und die Speicherkarte leer war. Nach zehn Sekunden wurde das Display schwarz, und das Gerät schaltete sich ab.

»Hat Ihre Tochter gern fotografiert?«

»Sie wollte es zu ihrem Beruf machen«, antwortete Hight. »Das Foto über dem Bett ist von ihr.«

Lena sah es sich aus der Nähe an. Es war eine Landschaftsaufnahme in Schwarzweiß, die einen Strand von der Kante einer Klippe aus zeigte. Das Objektiv war direkt auf die Felsen und den Sand gerichtet, und die Blende hatte sich gerade in dem Moment geschlossen, als eine Welle gegen das Ufer schlug. Auffallend war der niedrige Winkel, in dem das Sonnenlicht den Strand streifte – die Komposition des Bildes.

»Ihre Tocher hatte einen geschulten Blick.«

»Sie war ihrem Alter weit voraus.«

»Was ist aus ihren übrigen Arbeiten geworden?«

»Cobb hat nach Gants Verhaftung ihren Computer mitgenommen. Als wir ihn endlich zurückbekamen, habe ich die Fotos überspielt und die Festplatte gelöscht.«

»Waren es alles Landschaften, Mr Hight? Oder hat sie auch Personen fotografiert?«

Lena musterte ihn forschend. Hight ließ sich nichts anmerken – seine Miene blieb unbewegt.

»Sowohl als auch«, antwortete er.

»War etwas Ungewöhnliches dabei?«

»Eigentlich nicht.«

Er schwieg, doch Lena glaubte nicht, dass er noch etwas hinzufügen würde.

»Wo genau haben Sie sie in der Mordnacht gefunden?«

»Genau dort, wo Sie jetzt stehen.«

Lena betrachtete die Stelle, wandte sich zum Fenster um und hielt Ausschau nach den Abdrücken des Sessels auf dem Teppich. Sie schob den Sessel hinüber, drehte ihn zum Fenster um und spürte, wie sich die Sesselbeine in die Kuhlen einpassten. Als sie hinüberschaute, erkannte sie Jacob Gants Zimmer und seinen Sessel am angestammten Platz vor dem Fenster.

»Uns gefällt es besser, wie es war«, meinte Hight.

»Doch in der Mordnacht stand der Sessel hier. Er stand schon so lange an dieser Stelle, dass er Spuren im Teppich hinterlassen hat.«

»Offenbar.«

»Was haben sie mit dem Sessel gemacht, als Sie das Zimmer reinigen ließen?«

»Das war nicht nötig. Die Blutflecke waren nur drüben beim Bett.«

»Und das Fingerabdruckpulver«, ergänzte sie.

»Ja, das auch.«

Lena kniete sich hin, um das Sitzpolster zu begutachten, wendete es und betrachtete die Unterseite. Als sie das Gesuchte gefunden hatte, kehrte sie zur Kommode zurück und öffnete die zweite Schublade. Obwohl sie ziemlich sicher war, wollte sie sich vergewissern, dass ihr Gedächtnis sie nicht trog. Das war nicht die Unterwäsche eines halbwüchsigen Mädchens, das waren die Dessous einer Frau. Erst nachdem Lena die Nacktfotos von Lily auf dem Bett entdeckt hatte, gewannen die durchsichtigen BHs und Höschen an Bedeutung.

»Was für ein Mädchen war sie denn, Mr Hight?«

Er reagierte nicht. Als Lena sich neugierig nach ihm umdrehte, bemerkte sie seinen starren Blick. Allerdings musterte er nicht den Inhalt der Schubladen, denn er konnte nicht erkennen, was sie in der Hand hielt. Hight betrachtete sie. Seine Augen wanderten über ihre Beine und Hüften und die Brust bis zum Gesicht. Offenbar störte es ihn nicht, dabei ertappt zu werden.

»Was für ein Mädchen war Lily?«, wiederholte sie.

»Lily war alles, was man sich wünschen konnte, und noch mehr. Sie war so lebendig. Ein wahr gewordener Traum.«

»Hat sie sich mit Jungs getroffen?«

»Die meisten Mädchen in ihrem Alter treffen sich mit Jungs.«

»Hatte sie einen festen Freund?«

Obwohl Hight versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, sah Lena, wie er zusammenzuckte.

»Nicht dass ich wüsste«, entgegnete er leise.

»Mich interessiert ihre beste Freundin. Wie hieß sie?«

»Julia. Die beiden hingen zusammen wie Pech und Schwefel.«

»Julia Hackford, genau. Warum hat sie nicht im Prozess ausgesagt?«

»Das habe ich auch gefragt.«

»Wen haben Sie gefragt?«

»Erst Cobb, dann Bennett und Watson.«

»Und was haben sie geantwortet?«

Hight schüttelte den Kopf.

»Dass Julia nichts weiß und nichts Hilfreiches beitragen könnte.«

»Sie wohnt ganz in der Nähe, richtig?«

»Gleich um die Ecke in dem blauen Haus. Warum?«

Lena ignorierte seine Frage und ging zum Nachttisch. Die Schublade war mit Blöcken, Stiften und Krimskrams vollgestopft. Wegen der Pistole hatten sie schon gestern bei der Hausdurchsuchung die Schublade inspiziert. Doch angesichts der Nacktfotos in der Fallakte nahm Lena sie noch einmal genauer in Augenschein, vielleicht war ja ganz hinten etwas versteckt. Sie stieß auf eine kleine Tube Gleitmittel hinter einem Satz Spielkarten, legte alles wieder an seinen Platz und schloss die Schublade.

»Was ist mit Lilys Mobiltelefon?«, fragte sie.

Hight hielt einen Moment inne. Ein Funkeln trat in seine Augen.

»Was ist?«, fragte sie.

Er zuckte wegwerfend die Achseln.

»Wir haben das Telefon überall gesucht. Nachdem Cobb mit dem Telefonanbieter gesprochen hatte und der einverstanden war zu helfen, meinte er, er hätte alles, was er bräuchte, und das Telefon spiele keine Rolle mehr.«

»Hat er Sie gebeten, den Vertrag noch nicht zu kündigen?«

»Nur für den Fall, dass jemand das Telefon benutzt, aber das ist nicht passiert. Ich habe die Rechnung jeden Monat kontrolliert. Niemand hat angerufen oder ist angerufen worden. Cobb sagte, Gant hätte das Telefon an sich genommen und beseitigt.«

»Aber Sie haben nicht daran gedacht, als ich die Frage gestellt habe, oder?«

»Was hat das alles mit dem zu tun, was im Club passiert ist? Wann kriege ich mein Auto zurück?«

»Was haben Sie gedacht, als ich mich nach Lilys Mobiltelefon erkundigt habe?«

Er betrachtete sie und lief rot an.

»An ihren Vertrag. Das Telefon ist weg, aber der Vertrag läuft noch.«

»Sie wählen die Nummer«, sagte Lena leise, »und hören sich ihre Stimme an.«

Hight stützte sich an den Türrahmen. Lena beobachtete genau seine Reaktion. Dass Hight den Vertrag seiner Tochter nicht gekündigt hatte, war nicht weiter erstaunlich. Das taten viele Leute, die einen geliebten Angehörigen verloren hatten. Sie wählten die Nummer, um sich die Ansage auf der Mailbox anzuhören, weil sie sich nach der Stimme des Verstorbenen sehnten.

Allerdings lag der Fall bei Tim Hight anders.

Vielleicht betrachtete er es als eine Art Bestrafung. Oder hatte er sich in eine wirre Realitätsverleugnung verstrickt?

Im nächsten Moment vibrierte ihr Mobiltelefon. Lena erkannte Vaughans Namen und nahm das Gespräch entgegen.

»Ich habe etwas rausgekriegt«, sagte er. »Wo sind Sie?«

Sie hörte ihm an, dass er aufgeregt war. Ein Durchbruch.

»Was ist passiert?«, fragte sie. »Was ist los?«

Vaughan hielt die Hand über die Sprechmuschel. Seine Stimme klang gedämpft, als er jemanden aufforderte, die Tür zu schließen. Als er sich wieder meldete, wirkte er ruhiger.

»Jetzt weiß ich, warum Cobb zuerst Bennett angerufen hat. Die beiden haben eine gemeinsame Vergangenheit, Lena. Sie kennen sich schon seit Ewigkeiten.«

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