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Der Sicherheitschef im Bonaventura wirkte nicht sonderlich erfreut, als Lena ihn bat, mit seinem Generalschlüssel eine Suite im vierundzwanzigsten Stock zu öffnen. Er wusste offensichtlich Bescheid, dass die Suite von der Staatsanwaltschaft gemietet worden war und was dort gerade vor sich ging. Lenas einzige Trumpfkarte war, dass Roy Romero zwanzig Jahre lang Polizist gewesen war, und zwar ein guter.
»Die schmeißen mich raus«, protestierte er. »Und ich hänge wirklich an diesem Job.«
»Wer behauptet denn, dass dort jemand ist?«
Er zog eine Augenbraue hoch. Romero vermutete das nicht nur, er war sicher.
»Nichts für ungut, Detective, aber wollen Sie wirklich da rein? Sie könnten sich nämlich auch selbst in Schwierigkeiten bringen.«
»Wer den Generalschlüssel ins Schloss gesteckt hat, braucht niemand zu erfahren, Romero. Also, was ist? Arbeiten Sie jetzt mit uns zusammen, oder wollen Sie einen Detective daran hindern, in einer polizeilichen Angelegenheit tätig zu werden?«
»Polizeiliche Angelegenheit?«, entgegnete er sarkastisch.
Lena fand den Mann zwar sympathisch, blieb jedoch zurückhaltend. Nach einer Weile nickte er schicksalsergeben und winkte sie zu den Aufzügen.
»Ich konnte Higgins noch nie leiden«, raunte er. »Der Promistaatsanwalt. Das ist ein ganz mieser Typ. Und die anderen beiden Witzfiguren haben den Fall vermasselt wie zwei blutige Anfänger.«
Bei einer Fahrt im Aufzug des Bonaventura hatte man einen unvergleichlichen Blick auf Los Angeles. Doch Lena war in Gedanken bei den Ereignissen der vergangenen Tage. Sie sah grausame Bilder vor sich und musste an das ruinierte Leben der Hinterbliebenen und Freunde denken. Doch als sich die Aufzugtüren in der vierundzwanzigsten Etage öffneten, hatte Bennetts verlogene Visage alle anderen Phantasien überdeckt.
Romero ging voran den Flur entlang. An der Suite angekommen, musterte er Lena, als wolle er ihr noch eine letzte Gelegenheit zu einem Rückzieher geben. Dann steckte er den Kartenschlüssel in die Tür. Das Lämpchen am Schloss wurde grün; der Riegel klickte.
»Nur immer rein in die gute Stube«, flüsterte er. »Ich haue ab.«
Er eilte zurück zu den Aufzügen. Lena trat ein und schloss die Tür. Kurz hielt sie inne. Sie hörte die beiden im Schlafzimmer. Raschelnde Laken. Watsons Stöhnen. Bennett japste wie ein Hund. Im Wohnzimmer bemerkte sie Watsons BH und ihre Strumpfhose auf dem Sofa und Bennets Boxershorts auf dem Boden.
An der Schlafzimmertür blieb sie stehen und spähte hinein. Bennett lag oben und wippte auf und nieder. Seinen Eidechsenkopf hatte er zwischen Watsons Brüsten vergraben. Bis jetzt hatte Lena sich stets bewusst Mühe gegeben, diese Brüste nicht anzugaffen. Sie kannte die Gerüchte und konnte nicht sagen, ob die Brüste nun echt waren oder nicht … Sie verharrte auf der Schwelle. Form und Größe wirkten unnatürlich, und es war nicht zu übersehen, dass sie wacker der Erdanziehungskraft widerstanden. Watsons Brüste erinnerten an zwei Heliumballons, die sich jeden Moment in die Luft erheben und platzen würden.
Allerdings war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für solche Betrachtungen. Lena ging so zielstrebig auf das Bett zu, als betrete sie Bennetts Büro.
Die Ereignisse schienen wie in Zeitlupe abzulaufen. Lena hörte, wie Watson erst nach Luft schnappte und dann einen Schrei ausstieß. Bennett geriet in Panik, löste sich hektisch von Watson und versuchte, mit den Beinen strampelnd, ein Laken über sich zu ziehen. Als er anfing herumzubrüllen, öffnete Lena die Jacke und legte die Hand an die Waffe.
»Sind Sie jetzt total durchgeknallt?«, fragte er.
»Wahrscheinlich.«
»Hände weg von der Pistole.«
Lena schüttelte den Kopf.
»Nein.«
Die grünen Augen waren glasig, und er hatte sie weit aufgerissen. Seine Körperbehaarung war dicht wie ein Pelz. Sie spürte, wie die Angst in ihm pulsierte. Er konnte die Situation nicht einschätzen, und Lena erkannte, dass sie genau den richtigen Moment abgepasst hatte. Sie hatte ihn überrumpelt.
»Ich versuche nur, etwas zu verstehen, Bennett. Und deshalb muss ich Sie sprechen.«
»Fick dich ins Knie, blöde Schlampe. Mach einen Termin.«
Watson versetzte ihm einen Hieb.
»Hör auf. Und bring die Sache endlich zum Abschluss.«
Lena trat noch einen Schritt auf das Bett zu.
»Ich möchte nur begreifen, warum Sie beide Beweise im Prozess gegen Jacob Gant vernichtet haben. Warum haben Sie Material gelöscht, umgeschrieben, erfunden oder gefälscht?«
Bennetts Miene veränderte sich. Sein Blick wurde hart, und offenbar hatte es ihm die Sprache verschlagen.
»Ganz recht«, fuhr sie fort. »Ich weiß, was Sie getan haben. Und deshalb musste ich Sie sehen. Es will mir nicht in den Kopf, warum Sie einen Prozess eröffnet haben, obwohl Ihnen beiden schon seit sechs Wochen klar war, dass man Gant eigentlich hätte freilassen müssen. Und ich kann nicht nachvollziehen, weshalb alle Hinweise auf einen anderen möglichen Täter ignoriert oder unterschlagen wurden. Ich kann mir vorstellen, was allen Beteiligten blüht, wenn sich die Geschichte herumspricht. Und alles spricht sich irgendwann herum, Bennett, ganz gleich, wie viele Menschen man auch beseitigt.«
Der Satz blieb in der Luft hängen. Nun gab es nichts mehr zu beschönigen.
Bennett wechselte einen langen Blick mit Watson und drehte sich wieder um.
»Der kleine Stinker war schuldig«, beharrte er.
»Versuchen Sie sich das einzureden, Bennett? Lautet so Ihr Mantra? Hilft es Ihnen, nachts durchzuschlafen?«
»Gant hat Lily Hight ermordet, Sie kleines Miststück. Er hat bekommen, was er verdiente, nämlich durch die Hand ihres Vaters zu sterben.«
Mit diesem Spruch hatte Lena gerechnet. Es war genau das, was sie hören wollte. Die Version, auf die sich alle geeinigt hatten und die beide notwendigen Elemente enthielt: Erst ermordet Gant Lily. Und dann streckt Hight Gant in einem Racheakt nieder. Eine einfache und saubere Lesart. Mit einem Anfang und einem Ende. Etwas, womit alle leben konnten.
Nur dass die Gleichung nicht mehr aufging. Ganz egal, wie man es auch betrachtete. Nicht nach dem Mord an Escabar.
Doch Bennett musste es aussprechen. Lena brauchte diese Gewissheit. Sie betrachtete noch einmal die beiden, die sich unter den Bettlaken versteckten. Dann machte sie ihre Jacke zu und marschierte hinaus. Ihr war schwindelig. Manchmal hatte die Wahrheit eben diese Wirkung.