10
Die Tür ging auf. Obwohl das grelle Sonnenlicht Tim Hight ins Gesicht schien, blieben seine Pupillen geweitet. Seine Augen waren blassblau und wirkten kränklich. Sein leerer Blick glitt über die Versammlung von Detectives und Kriminalisten hinweg, die sich auf seiner Veranda drängte, wanderte zu dem Abschleppwagen hinüber, der gerade auf seinen Mercedes in der Einfahrt zusteuerte, und richtete sich schließlich auf Lena.
»Tim Hight?«, fragte sie.
»Sie wissen doch schon, wer ich bin.«
»Wir haben richterliche Anordnungen. Wir kommen jetzt rein.«
»Ich war es nicht«, protestierte er.
Barrera hielt ihm die Papiere hin.
»Wir kommen trotzdem rein.«
Hight wich von der Tür zurück. Während das Team sich an dem zierlich gebauten Mann vorbeidrängte und sich aufteilte, blieb Lena bei Hight und Barrera in der Diele stehen. Sie bemerkte, dass Hights Kleidung zerknittert war, konnte keine Blutspuren feststellen und fragte sich, ob er sich umgezogen hatte. Geduscht und rasiert hatte er sich offensichtlich nicht, und er wirkte erschöpft und benommen. In der Küche entdeckte Lena die Wodkaflasche auf der Anrichte. Rasch schaute sie sich im Wohnzimmer um. Teure Teppiche. Bilder an den Wänden. Jalousien, die das Licht abhielten. Das Haus wirkte dunkel und verlassen.
»Wo ist Ihre Frau?«, erkundigte sie sich.
»Sie besucht ihre Schwester in Bakersfield.«
»Wann ist sie weg?«
»Um drei Uhr heute Früh.«
»Ein ungewöhnlicher Zeitpunkt, um zu verreisen.«
High bedachte sie mit einem finsteren Blick, in dem sich die Stimmung im Haus widerspiegelte.
»Ich wollte nicht, dass sie das hier mitkriegt.«
Barrera räusperte sich.
»Woher wussten Sie, dass wir kommen? Und das schon um drei Uhr morgens?«
»Ich habe im Polizeifunk gehört, was passiert ist.«
Hight wies auf den Wintergarten hinter der Glastür. Lena spähte durch die Scheibe und verglich die Gegenstände mit letzter Nacht. Ein Lehnsessel stand mit Blick auf das Haus der Gants am Fenster. Hights fast leeres Glas befand sich auf dem Fensterbrett. Auf einem Regal in Reichweite des Sessels erkannte sie den Polizeifunkempfänger und einen von aufgerauchten Kippen überquellenden Aschenbecher. Die LED-Anzeige des Empfängers blinkte, was hieß, dass er noch eingeschaltet war.
Lena wusste zwar, dass die Namen der Opfer nicht im Funk gefallen waren, erwähnte es jedoch nicht.
»Wir brauchen Ihren Autoschlüssel«, sagte sie.
»Ich war es nicht.«
»Das behaupten alle, Mr Hight. Wir brauchen Ihren Schlüssel.«
Hight verzog das Gesicht und kramte den Schlüssel aus der Hosentasche. Während er mit zitternden Fingern am Schlüsselring herumnestelte, versuchte Lena, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren.
Es war nicht leicht.
Ganz gleich, was sie von diesem Mann halten und was er getan haben mochte, sie konnte nicht vergessen, dass er seine Tochter verloren hatte. Barrera stand dicht neben der Tür im Wohnzimmer, und sie merkte ihm an, dass es ihm genauso erging. Dass sich auf dem Stutzflügel gerahmte Fotos der Tochter drängten, machte die Sache auch nicht einfacher. Lily Hights sanftes Gesicht und ihre strahlenden Augen waren mehr als eindrucksvoll, und ihre unbändige Lebenslust ließ ihr grausiges Schicksal noch drastischer erscheinen. Fast war es, als beobachte das Mädchen, wie die Polizei seinen Vater des Mordes überführen wollte – so als habe es aus dem Jenseits ein Auge auf alles.
Lena wandte sich ab. Tosh Mifune, ein Kriminaltechniker, stand in der Küchentür.
»Wir erledigen es hier«, sagte er. »Das Licht ist gut.«
Sie winkte Hight zu sich. Mifune zog einen Stuhl vom Frühstückstisch weg. High wollte protestieren, setzte sich aber schließlich, was auch an Mifunes geduldiger, einfühlsamer Art liegen mochte. Während der Kriminaltechniker, ein Mann mittleren Alters, seinen Tatortkoffer auspackte und seine Gerätschaften sorgfältig auf dem Tisch anordnete, sah Tim Hight zunehmend besorgt aus. Mifunes Instrumente schienen besser in eine Arztpraxis zu passen als in ein kriminaltechnisches Labor.
Hight begann, auf seinem Stuhl herumzurutschen, und blickte zwischen Barrera, der am Herd lehnte, und Lena hin und her.
»Wollen Sie mir nicht meine Rechte vorlesen?«
»Sie sind nicht festgenommen«, entgegnete Lena. »Aber natürlich hätte ich nichts dagegen.«
Sie hoffte, dass sie nicht zu aggressiv klang und es ihr dennoch gelang, den Mann aus der Reserve zu locken. Doch sobald sie den Satz beendet hatte, machte Hight Anstalten aufzustehen.
»Also darf ich meinen Anwalt anrufen?«, fragte er.
»Sie können tun, was Sie wollen, solange Sie sitzen bleiben.«
»Soll das heißen, Sie halten mich hier auf dem Stuhl fest?«
»Wir haben die richterliche Genehmigung, Sie körperlich zu untersuchen. Also werden wir eine Haarprobe und eine Speichelprobe und außerdem Ihre Fingerabdrücke sichern.«
»Die Fingerabdrücke haben Sie doch bereits. Das haben Sie nach Lilys Tod gemacht.«
»Dann machen wir es eben noch einmal. Hatten Sie gestern Nacht diese Sachen an?«
Er nickte.
»Dann nehmen wir sie ebenfalls mit«, erwiderte Lena. »Ihr Anwalt hat nicht die Möglichkeit, uns daran zu hindern.«
Kopfschüttelnd sank Hight auf seinen Stuhl zurück und wollte die Zigaretten aus der Brusttasche holen. Zu seinem Pech war das Päckchen leer. Zornig knüllte er es zusammen. Lena nickte Barrera schweigend zu. Sie hatten es vor ihrer Ankunft so abgesprochen. Barrera, der mehr Erfahrung hatte als seine Untergebenen, besaß einen geschulten Blick und übernahm die Rolle des unbeteiligten Beobachters.
Lena wandte sich wieder zu Hight um und setzte eine teilnahmsvolle Miene auf.
»Sie könnten sich die Sache sehr erleichtern«, sagte sie. »Und allen anderen auch.«
»Wie?«
»Verraten Sie uns, was Sie mit der Pistole gemacht haben.«
»Welcher Pistole? Ich habe Jacob Gant nicht erschossen.«
»Wären Sie bereit, sich einem Lügendetektortest zu unterziehen?«
Er fuhr sich über den Kopf und antwortete nicht. Sein blondes Haar war grau meliert und so kurz, dass es senkrecht abstand.
»Warum fürchten Sie sich vor einem Lügendetektortest, wenn Sie ihn nicht erschossen haben?«, fragte Lena.
Hight verschränkte die Arme vor der Brust und zuckte die Achseln.
Lena trat einen Schritt näher an ihn heran. »Wann haben Sie Jacob Gant zuletzt gesehen?«
»Nicht mehr seit der Gerichtsverhandlung«, erwiderte er. »Seit er als freier Mann aus dem Gerichtssaal spaziert ist.«
»Erwarten Sie, dass Ihnen das jemand glaubt?«
»Die Leute glauben, was sie glauben wollen. Sie sind wahrscheinlich auch nicht anders. Ich habe ihn nicht gesehen.«
»Aber er hat nebenan gewohnt, Mr Hight.«
»Dann war er eben nicht da. Vielleicht hatte er einen Job gefunden. Vielleicht habe ich ja auch nicht hingeschaut, weil ich ihn nicht sehen wollte.«
Lena musterte die Nikotinflecken an Zeige-und Mittelfinger der rechten Hand. Als Hight es bemerkte, versteckte er die Hand in der Armbeuge.
»Wie viele Zigaretten rauchen Sie pro Tag? Wie viel Zeit verbringen Sie im Wintergarten? Wie oft sitzen Sie in diesem Sessel am Fenster im Dunkeln?«
Als Hight nichts erwiderte, breitete sich Stille aus. Lena umrundete den Tisch. Als sie an der Tür zur Speisekammer vorbeikam, bemerkte sie die Bleistiftstriche auf der Innenseite der Tür. Neben jedem Strich stand ein Datum. Monate und Tage waren stets gleich, nur das Jahr änderte sich. Diese Striche markierten Lily Hights Körpergröße, jedes Jahr gemessen an ihrem Geburtstag.
Ein Gefühl von Düsternis machte sich in Lena breit. Sie verspürte einen plötzlichen Stich. Seine Tochter war an ihrem sechzehnten Geburtstag eins siebzig groß gewesen. An ihrem letzten Geburtstag.
Sie drehte sich wieder zu Hight um, der sie eindringlich musterte. Lena betrachtete ihn, wie er da auf seinem Stuhl saß. Er wirkte gebrochen, aber nicht bedrohlich – wie ein Mann, der in den Abgrund geblickt und das Gleichgewicht verloren hatte und hineingefallen war.
»Warum haben Sie Angst vor einem Lügendetektortest?«, fragte sie, diesmal mit sanfterer Stimme. »Warum tun Sie sich das alles an, obwohl Sie sich von jeglichem Verdacht reinwaschen und weiterleben könnten?«
Hight hatte sich abgewandt und richtete die Augen auf den hellen Sonnenstrahl, der durch das Fenster über der Spüle hereinfiel. Der Wasserhahn aus poliertem Messing und das weiße Porzellanbecken funkelten und glänzten so, dass seine leichenblasse Haut beinahe schimmerte.
»Weiterleben?«, flüsterte er, mehr an sich selbst als an die anderen Anwesenden gerichtet. »Sie haben ja keine Ahnung, wie das ist. Anderenfalls wären Sie nämlich nicht hier und würden mir so etwas antun. Auf solche Leute wie Sie habe ich vertraut, habe ich mich verlassen. Sie sollten mir zu Gerecht…« Hights Stimme erstarb, und er schien zu sprechen wie in Trance. »Ich weigere mich. Ich mache keinen Lügendetektortest, weil nichts im Leben sicher ist. Und weil ich mich darüber freue, dass es Jacob Gant letzte Nacht erwischt hat. Ich habe es mir gewünscht. Immer wieder habe ich davon geträumt. Lily ist tot. Sie ist tot, und ich wollte, dass er auch stirbt. Ich bin froh darüber. Nur schade, dass nach dem Tod nichts mehr kommt. Dass es nichts Schlimmeres gibt als den Tod.«
Seine Stimme zitterte. Lena wechselte einen Blick mit Barrera und Mifune, während sie daran dachte, wie Jacob Gant ermordet worden war. An die beiden Schüsse in die Augen. Die Wut, die im Täter getobt haben musste. Die Verbitterung und den Hass, abgefeuert aus dem Lauf einer Pistole.
Zahltag.
Hight starrte sie an. In seinen geweiteten Augen stand ein wilder Ausdruck. Als er, im Versuch, sich zu beruhigen, die Hände in den Schoß sinken ließ, bemerkte Lena einen Verband an seiner linken Hand. Blut sickerte heraus. Hight hatte sich verletzt – und versuchte, es zu verbergen.
Als jemand an die Küchentür klopfte, war der Moment verflogen. John Street winkte Lena ins Wohnzimmer. Hinter ihm sah sie seinen Partner. Sie gesellte sich zu den beiden ans Fenster neben dem Stutzflügel. Carson hatte etwas in der Hand: einen Asservatenbeutel aus Plastik, der ein einziges Blatt gelbes Papier enthielt. Die beiden Detectives waren Hünen und erfahrene Polizisten und neigten nicht dazu, sich ihre Gefühle anmerken zu lassen. Doch heute war alles anders.
Nachdem Carson durch die offene Tür einen Blick auf Hight geworfen hatte, reichte er Lena den Beutel.
»Das ist eine Quittung für eine Pistole«, sagte er leise. »Eine Smith & Wesson, neun Millimeter, Lena. Schauen Sie sich die Adresse des Händlers an.«
Carson zog die Jalousie hoch, worauf Lena die Quittung ans Licht hielt. Die Pistole war in Arizona gekauft worden. Als Adresse war nichts weiter als eine Website vermerkt. Auch eine Telefonnummer fehlte, doch das Datum des Kaufs stach ihr ins Auge.
»Er hat die Pistole vor sechs Wochen gekauft«, sagte sie.
Carson nickte. Sein Gesicht war gerötet.
»Am Tag nach der Urteilsverkündung. Keine Wartefrist, keine Personenüberprüfung. Hight tippt seine Kreditkartennummer ein, und irgendein Arschloch schickt ihm eine Knarre, ohne Fragen zu stellen.«
»Wo war die Quittung?«
Street antwortete anstelle seines Partners.
»Er hat oben ein Arbeitszimmer. Dort haben wir sie in seinem Schreibtisch bei einigen anderen Belegen gefunden. Offenbar wollte er das Ding als Geschäftsausgabe von der Steuer absetzen.«
Lena spürte, dass jemand hinter ihr stand: Barrera. Er griff nach dem Asservatenbeutel und musterte die Quittung.
»Geschäft ist Geschäft«, sagte er. »Suchen Sie die Pistole. Nehmen Sie den Laden auseinander.«