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Lena saß auf dem Beifahrersitz von Cobbs Lincoln. Cobb hatte sie gebeten, ihr Eintreffen telefonisch anzukündigen, um sicherzugehen, dass Martin Orth im Labor war. Sobald das geklärt war, rief Cobb einen befreundeten Sheriff an, damit dieser die Schiebetür sicherte, bevor die Kojoten sich im Haus breitmachten.
Während der Fahrt betrachtete Lena Cobb. Seine weit aufgerissenen Augen waren auf die Straße gerichtet. Auch heute tobte in der Stadt ein Sandsturm, so dicht wie Qualm. Immer wieder verschwand die Straße kurz aus ihrem Blickfeld.
Es herrschte Schweigen, und Lena versuchte, alles zu verstehen.
Cobb hatte sich gegen Bennett, Watson und Higgins gewendet und Paladino einen anonymen Tipp gegeben. Zuerst lieferte er Gant ans Messer, nur um ihm die einzige Möglichkeit auf einen Freispruch zu eröffnen.
Es wollte Lena einfach nicht in den Kopf.
Cobb wirkte schrecklich nervös und schaute immer wieder in den Rückspiegel. Er hatte gesagt, dass er erst im Labor wieder mit ihr sprechen würde, und verlangt, dass Lily Hights Kleider in einen Raum gebracht wurden, wo niemand sie störte. Außerdem brauche er eine Kleiderpuppe mit Lilys Maßen. Als Lena die Bitten am Telefon weitergab, klang Orth ebenso seltsam wie heute Morgen. Dennoch war er einverstanden, ihr den Gefallen zu tun, und teilte ihr mit, dass bis zu ihrer Ankunft alles bereit sei.
Die Fahrt durch die Staubwolke dauerte eine Dreiviertelstunde. Orth erwartete sie an seiner Bürotür und schien mehr als überrascht, Lena in Cobbs Begleitung zu sehen. Doch nach kurzem Zögern ging er den Flur entlang zu einem mit Waschbecken und Labortischen ausgestatteten Raum, der noch nicht vollständig eingerichtet war.
Lena warf einen Blick auf die Kleiderpuppe und trat an den Labortisch, wo Orth die Kleidung des Mädchens ausgebreitet hatte. Cobb folgte ihr und nahm Lilys Stiefel. Dann reichte er sie Lena.
»Erklären Sie mir, was Sie sehen, Gamble. Dann können wir uns vielleicht unterhalten.«
Orth verstand offenbar nicht, was hier gespielt wurde. Lena auch nicht, obwohl sie sich sofort an das Video von Cobb im Zeugenstand erinnerte, das Vaughan ihr gezeigt hatte. Als Cobb einen Stiefel von Lily in der Hand gehabt hatte, den rechten, meinte Lena sich zu erinnern, hatte er auf einmal die Fassung verloren und um ein Glas Wasser gebeten.
Sie stellte den linken Stiefel auf den Tisch und betrachtete den rechten. Nichts daran erschien ihr ungewöhnlich. Das Leder wies weder Kratzer noch Flecken auf. Auch das Futter war frei von Verschmutzungen.
Und dann drehte sie den Stiefel um. Sie nahm den linken, warf einen Blick auf die Sohle und legte ihn wieder beiseite.
Lily Hight hatte sich den rechten Knöchel gebrochen. Und nun wusste sie, was geschehen war. Die rechte Stiefelsohle war nicht nur abgetragen, sondern sah aus, als habe jemand den Gummibelag mit einer Schleifmaschine bearbeitet.
Sie spürte Cobbs Blick auf sich. Als sie sein hartes und brutales Gesicht betrachtete, nickte er fast unmerklich, und es war, als durchzucke ihre Schulterblätter ein elektrischer Schlag.
»Lily befand sich auf dem Beifahrersitz eines fahrenden Autos«, sagte sie. »Sie wollte aussteigen, entkommen. So hat sie sich den Knöchel gebrochen. In einem fahrenden Auto.«
Orth nahm den Stiefel in Augenschein. Er wirkte verdattert. Cobb setzte sich auf einen Hocker und rieb sich die Knie.
»Ich habe das erst im Zeugenstand bemerkt«, sagte er, »und sofort gewusst, dass ich Mist gebaut habe. Doch wir müssen noch etwas klären, denn in dieser Sache hatte ich nach dem Prozess keine Chance, etwas zu unternehmen, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre.«
»Was klären?«, hakte Orth nach.
Cobb antwortete nicht, sondern bat den Kriminaltechniker, der Kleiderpuppe Lilys T-Shirt und die Bluse anzuziehen und sie in sitzender Haltung auf dem Tisch zu platzieren. Sofort wurde Lena klar, worauf Cobb hinauswollte.
Ihm ging es um den Schraubenzieher, den der Mörder Lily Hight in den Rücken gestoßen hatte. Die Mordwaffe hatte Löcher in der Kleidung hinterlassen – im T-Shirt, das am Körper anlag, und einer Bluse, die lockerer saß, sodass sich der Stoff bewegte. Wenn Lily aufrecht gesessen hätte, wären die Löcher nicht deckungsgleich gewesen.
Orth schüttelte den Kopf und schnappte nach Luft, als ihm ein Licht aufging.
Im nächsten Moment schob Cobb die Kleiderpuppe zentimeterweise von der Taille aus nach vorne. Schließlich stimmten die beiden Löcher überein, und das hieß: Lily Hight hatte sich vom Täter weggedreht und den Fuß aus der Autotür gestreckt, als er ihr den Schraubenzieher in den Rücken gerammt hatte.
»Mein Gott«, sagte Orth.