11
Lena hatte Mifune gebeten, seine Utensilien vom Tisch zu entfernen und draußen zu warten. Barrera saß auf dem Wohnzimmersofa, er war zwar nicht zu sehen, aber in Hörweite. Hight blieb am Küchentisch zurück; mindestens eine halbe Stunde lang war er allein mit seinen Gedanken. Lena glaubte nicht, dass es Sinn hatte, ihn schmoren zu lassen. Schließlich wurde der Mann schon seit langem nur noch von seiner Wut getrieben. Als sie endlich hereinkam, starrte er auf das leere Zigarettenpäckchen.
»Was ist los?«, fragte er. »Warum dauert das so lang?«
Lena nahm eine Mappe aus ihrem Aktenkoffer und schlug sie auf.
»Haben Sie eine Taschenlampe im Auto, Mr Hight?«
»Ich glaube nicht. Warum?«
Sie suchte das Überwachungsfoto heraus und legte es auf den Tisch. Hight betrachtete die Aufnahme von sich am Steuer, offenbar überrascht, dass seine Heimfahrt dokumentiert worden war. Lena schob das Foto näher an ihn heran und zeigte auf den dunklen Gegenstand auf dem Beifahrersitz.
»Was, denken Sie, ist das?«, fragte sie.
»Wie soll ich das verstehen?«
»Da, auf dem Sitz neben Ihnen. Was ist das? Was denken Sie?«
Hight schwieg, offenbar verwirrt. Dann beugte er sich über den Tisch und musterte das Bild.
»Wir sprechen nicht über das, was vor sechs Tagen war«, sagte Lena, »sondern vor sechs Stunden. Sie haben gerade den Club 3 AM verlassen. Und Sie sagen, dass Sie keine Taschenlampe im Auto haben. Was ist das also, Mr Hight? Was liegt da auf dem Beifahrersitz Ihres Autos?«
Sein Blick wanderte wieder zu dem Foto.
»Keine Ahnung. Könnte ein Schatten sein. Da ist nichts.«
Lena warf die Quittung für die Pistole auf den Tisch.
»Ein Schatten?«, wiederholte sie.
Hight erstarrte, als er den Gegenstand in dem Asservatenbeutel erkannte. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Sein Mund zitterte. Lena zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Weder ihre Körperhaltung noch ihr Tonfall waren bedrohlich.
»Wo ist die Pistole, Mr Hight?«
Hight holte tief Luft und atmete erschaudernd aus. Er sah ihr nicht in die Augen, und etwas schien ihm peinlich zu sein. Es wurde wieder still im Zimmer.
»Machen Sie es sich doch nicht so schwer«, sagte sie. »Fast haben Sie es geschafft. Erzählen Sie mir einfach, wo sie ist.«
Wieder herrschte eine Weile Schweigen.
»Ich erinnere mich nicht«, flüsterte er schließlich. »Ich weiß nicht, wo sie geblieben ist.«
»Das soll wohl heißen, dass Sie sie beseitigt haben. Nachdem Sie aus dem Club weg sind, haben Sie sie entsorgt.«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein, ich meine, dass ich nicht mehr sagen kann, wo ich sie hingelegt habe. Sie kam mit der Post, und ich habe sie irgendwo hingeräumt. Keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe. Ich war völlig wirr.«
Lena lehnte sich zurück, nicht in der Lage, ihre Enttäuschung zu verhehlen.
»So wollen Sie sich also rausreden? Sie haben eine Pistole gekauft und vergessen, was Sie damit gemacht haben? Sie waren letzte Nacht im Club 3 AM. Zwei Männer wurden erschossen. Aber Sie haben nur Ihren Schatten mitgenommen.«
Seiner Miene war, wenn auch nur für einen Moment, anzumerken, dass ihm ihr zynischer Unterton nicht entgangen war.
»Ich glaube, ich sollte jetzt meine Anwälte anrufen.«
Anwälte. Er hatte also nicht nur einen Rechtsbeistand, sondern gleich mehrere.
»Ganz wie Sie meinen«, erwiderte Lena. »Und ich würde Ihnen raten, ihnen Folgendes zu sagen: So klappt es nicht, Mr Hight. Ihre Spielchen. Ihre Versuche, sich durchzuschummeln. Die Mühe können Sie sich sparen.«
»Ich versuche nicht, mich durchzuschummeln.«
»Aber klar doch. Sie wollen in einem Mordfall straffrei ausgehen. Doch das funktioniert nur, wenn Sie die Tat als Tat im Affekt hinstellen. Und dazu brauchen Sie die Unterstützung der Öffentlichkeit.«
»Wenn ich Jacob Gant umgebracht hätte, wäre es eine Tat im Affekt gewesen.«
»Nur dass das, was letzte Nacht geschehen ist, keine Tat im Affekt war«, entgegnete sie. »Und genau das ist Ihr Problem. Es weist nichts darauf hin. Und es fühlt sich auch nicht so an. Wie also sollen Ihre Anwälte die Tat verkaufen?«
»Wenn ich Jacob Gant ermordet hätte, wäre es eine Tat im Affekt gewesen«, wiederholte er, allerdings mit weniger Nachdruck.
»Ich kann nur für mich selbst und die Leute sprechen, mit denen ich zusammenarbeite, Mr Hight. Und in meinen Augen sieht die ganze Sache geplant aus. Jeder Ihrer Schritte scheint einem Drehbuch zu folgen, so als hätten Sie viel Zeit in Ihrem Lehnsessel im Wintergarten damit verbracht, sich alles genau zu überlegen. Sie haben die Gants durchs Fenster beobachtet und sich von Ihrem Hass zerfressen lassen. Und dabei haben Sie sich ausgemalt, wie Sie Jacob Gant umbringen. Sie haben doch selbst gesagt, dass Sie ihm immer wieder den Tod gewünscht haben.«
Einen Moment lang geschah nichts. Dann brach Hight, von seinen Erinnerungen überwältigt, in Tränen aus.
»Aber Jake hat Lily ermordet«, flüsterte er, die Hände vors Gesicht geschlagen. »Meine Tochter. So entsteht eine Tat im Affekt.«
Lena holte eine Schachtel Papiertaschentücher von der Anrichte und legte sie auf den Tisch.
»Sie haben alles geplant, Mr Hight. Vor sechs Wochen haben Sie sich eine Pistole gekauft. Das haben wir überprüft. Die Waffe ist nicht registriert. Und letzte Nacht sind Sie Gant zum Club gefolgt. Sie kennen den Grundriss und haben Gant auf der Feuertreppe aufgelauert.«
»Ich habe ihn seit dem Prozess nicht zu Gesicht bekommen. Wie oft soll ich Ihnen das noch sagen?«
»Sie haben einen Unschuldigen erschossen, nämlich Johnny Bosco.«
»Nein, das hätte ich nie übers Herz gebracht. Ich mochte Johnny. Er war nett zu mir.«
Lena senkte die Stimme.
»Sie haben ihn in den Rücken geschossen. Das müssen Sie Ihren Anwälten auch erzählen, denn genau das ist der springende Punkt. Das, worauf es ankommt. Sie haben einen Unschuldigen hinterrücks abgeknallt.«
Er erschauderte am ganzen Körper, ein Beben, das tief aus seinem Innersten aufstieg und wieder verschwand.
»Warum hacken Sie ständig darauf herum?«
»Weil Sie uns an der Nase herumführen wollen. Weil Sie versuchen, es der ganzen Polizeibehörde heimzuzahlen. Und sosehr ich Ihre Trauer auch verstehen kann, Sie schaden mit Ihrem Verhalten inzwischen anderen Menschen. Sie haben Bosco ermordet und dann Gant getötet, wie Sie es sich so lange ausgemalt hatten. Das Problem wurde aus der Welt geschafft. Sie haben ihn umgelegt und ihn bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Genau so, wie Sie es sich immer gewünscht haben. Genau nach Plan.«
»Nein.«
»Wenn Sie mit Ihren Anwälten besprechen, wie man den Mord am besten als Tat im Affekt verkauft, vergessen Sie diese Details nicht und lassen Sie nichts unter den Tisch fallen. Sie haben sich sogar die Zeit genommen, die Geschosshülsen einzusammeln, Mr Gant. Sie haben in aller Seelenruhe die Brieftaschen der Opfer durchwühlt, um einen Raubüberfall vorzutäuschen. Sie kannten Bosco, und alle wussten, dass er stets viel Bargeld mit sich herumtrug. Also haben Sie das Geld an sich genommen, damit wir ein anderes Motiv hinter den Morden vermuten. Sie haben versucht, Ihre Spuren zu verwischen. Und dann?«
»Ich habe nichts von alldem getan.«
»Und dann?«, wiederholte sie. »Dann sind Sie geblieben, um zu gaffen. Sie haben sich in der Menschentraube vor dem Club versteckt, weil Sie sich an dem Tohuwabohu weiden wollten. Davor haben Sie noch zu Hause angerufen und Ihre Frau nach Bakersfield geschickt. Anschließend sind Sie nach Hause gefahren und haben die Wunde an Ihrer Hand verbunden, die Sie uns lieber verheimlichen wollen. Sie haben sich einen Drink eingeschenkt und es sich in Ihrem Sessel am Fenster gemütlich gemacht. Und dann haben Sie gewartet. Sie haben darauf gewartet, dass Ihre Nachbarn die Hiobsbotschaft bekamen. Ihr Traum ist in Erfüllung gegangen. Sie haben selbst dafür gesorgt. Jacob Gant ist tot.«
Lena hielt inne, damit ihre Worte wirken konnten.
»Das ist keine Tat im Affekt«, fuhr sie fort, »sondern ein Verbrechen, auf das die Todesstrafe steht, Mr Hight. Ein Ausflug in die Hinrichtungskammer, auf einem Rollwagen und mit einer Infusionsnadel im Arm.«
Hight schaute vom Boden auf. Sein Blick war stumpf, seine Tränen versiegt. Er war weder eingeknickt, noch hatte er etwas preisgegeben. Und nun sah er durch Lena hindurch, als sei sie Luft. Er hatte das Kinn vorgeschoben, und in seinen Augen lag ein hasserfüllter, eiskalter Ausdruck.