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Lena fuhr am Tor des Club 3 AM vorbei und stoppte an der Rückseite des Gebäudes. Heute Abend war der Club geschlossen; nur zwei Autos standen auf dem Parkplatz. Lena ging jede Wette ein, dass der Toyota Pick-up dem Wachmann gehörte, an dem sie gerade vorbeigekommen war. Besitzer des Ferrari war sicher Dante Escabar.
Lena parkte und ging um den Brunnen herum die Treppe hinauf. Sie fühlte sich wie eine tickende Zeitbombe.
Nachdem die beiden Sheriffs sich endlich abgeregt hatten, hatte sie sich ausgewiesen und sie informiert, dass sie gerade Zeugin eines Einbruchs geworden sei. Die meisten ihrer Fragen ließ sie unbeantwortet und behauptete, sie habe die Einbrecher nicht gesehen. Allerdings glaube sie, dass die DVDs im Wohnzimmer hilfreich für ihre derzeitigen Ermittlungen sein könnten. Doch das war vergebliche Liebesmüh. Da das Büro des Sheriffs für diesen Wohnbezirk zuständig war, kam eine nahtlose Übergabe der DVDs an Henry Rollins beim SID nicht in Frage. Erst mussten die Mühlen der Verwaltung mahlen, und dass Prominente im Spiel waren, was früher oder später Datenschutzprobleme aufwerfen würde, vereinfachte die Sache nicht gerade. Die Anwälte, die den Club vertraten, konnten außerdem für weitere erhebliche Verzögerungen sorgen. Und Lena musste sehr bald mit einem Anruf des stellvertretenden Polizeichefs Ramsey rechnen. Da Higgins vermutlich das Blaue vom Himmel herunterlog, würde Ramsey sicher in die Luft gehen und sie vorführen lassen.
Oben angekommen, wurde Lena von Escabar erwartet, der ihr die Tür aufhielt. Sie trat ein, worauf er die Tür hinter ihr zuzog und abschloss. Dann ging er voraus in die Bar und forderte Lena auf, Platz zu nehmen.
»Wie war Ihr Abend bis jetzt? Wie laufen die Geschäfte?«, fragte er.
Lena hörte den Sarkasmus in seiner Stimme. Escabar umrundete den Tresen und schenkte sich einen Bourbon auf Eis ein. Er trug eine schwarze Lederhose und hatte das Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Selbst bei Kerzenlicht wirkte sein Gesicht blasser als letztes Mal, und er machte den Eindruck, als hätte er nicht viel geschlafen.
Lena schnappte sich einen Barhocker und setzte sich.
»Ich habe gerade den Oberstaatsanwalt von Los Angeles dabei ertappt, wie er in das Haus Ihres verstorbenen Partners in Malibu eingebrochen ist.«
Escabar schmunzelte.
»Was hat er denn gesucht?«
»Das müssen Sie mir schon verraten.«
»Was weiß ich.«
Er griff nach seinen Zigaretten. Neben der Packung bemerkte Lena eine entsicherte Neun-Millimeter-Glock. Escabar zündete sich eine Zigarette an und legte die Schachtel wieder zurück an ihren Platz neben der Waffe.
»Haben Sie ein wenig Zeit?«, fragte er. »Möchten Sie etwas trinken?«
»Nein danke. Ich bin heute Abend in Eile.«
Er blickte ihr in die Augen und schürzte die Lippen. Einen Moment lang schien er beinahe amüsiert zu sein.
»Ist Higgins häufig hier?«, wollte sie wissen.
»Er ist kein Stammgast, falls Sie das meinen. Ein-oder zweimal im Monat, manchmal öfter.«
Lena musterte Escabar forschend.
»Sie waren in Wahrheit gar keine Freunde, richtig?«
Achselzuckend zog er an seiner Zigarette.
»Bitte, Dante. Bosco und Higgins waren keine Freunde.«
»Wahrscheinlich kann man es eher als Zweckfreundschaft bezeichnen.«
»Aber das ist jetzt vorbei«, beharrte sie. »Und deshalb haben Sie das Kokain oben liegen gelassen. Sie verabscheuen Higgins und würden alles tun, um ihm in die Suppe zu spucken.«
Auf der Fahrt hierher hatte sie darüber nachgedacht. Higgins’ Einbruch bei Bosco konnte nur einen Zweck verfolgt haben. Und Escabars Waffe auf dem Tresen war wie eine Bestätigung ihrer Vermutung.
»Drücken wir es einmal so aus, dass wir aus unterschiedlichen Welten stammen«, erwiderte Escabar. »Ich bin nicht in dem Maße auf Higgins angewiesen wie Johnny.«
»Ihr Partner hatte offenbar etwas gegen ihn in der Hand. Und jetzt sucht Higgins die Beweise. Er war gerade dabei, die Überwachungsvideos hier aus dem Club zu sichten, DVDs, die Ihr Partner zu Hause aufbewahrt hat. Nimmt Higgins Drogen? War das Johnnys Druckmittel gegen ihn – Videos, auf denen zu sehen ist, wie Higgins kokst?«
»Das kann ich nicht beantworten, weil ich es nicht weiß.«
»Warum verschweigen Sie mir etwas?«
Escabar warf einen Blick auf seine Pistole und senkte die Stimme.
»Weil auf der Welt mit harten Bandagen gekämpft wird, Detective Gamble. Und weil es von der Definition der Mächtigen abhängt, was ein Verbrechen ist und was nicht. Irgendein Arschloch an der Wall Street kann fünfzig Milliarden Dollar klauen, aber das macht nichts, solange der Staat sagt, dass es schon in Ordnug ist, und alles unternimmt, um den Mistkerl wieder rauszupauken. Aber stehlen Sie mal irgendeinen gefrorenen Fertigmampf aus einem Supermarkt am Pico Boulevard, weil Sie vor Hunger schon Sternchen vor den Augen haben. Wenn Sie dabei zum dritten Mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, stecken diese Drecksäcke Sie für zwanzig Jahre in den Knast und benützen Sie vorher noch als abschreckendes Beispiel, um ihrer politischen Karriere auf die Sprünge zu helfen. Also verschonen Sie mich mit dem Thema Heimlichtuerei. Ein Verbrechen ist dann ein Verbrechen, wenn die großen Bosse da oben es so bestimmen, und damit basta. Ich habe keine so guten Beziehungen wie Johnny. Die Dinge haben sich geändert.«
Escabars Stimme erstarb. In seinem Tonfall schwang etwas Trauriges mit.
»Haben Sie Angst vor Higgins?«, fragte Lena. »Hat er Sie irgendwie bedroht?«
»Ganz und gar nicht. Ich will nur nicht in die Mühlen des Systems geraten.«
»Warum dann die Waffe auf dem Tresen?«
Wortlos zuckte er die Achseln und trank einen kräftigen Schluck Bourbon.
»Weshalb hatte Bosco die Überwachungsvideos bei sich zu Hause?«
»Sie sind ziemlich neugierig, Lena Gamble.«
Sie bedachte ihn mit einem auffordernden Blick.
»Wegen unserer Kundschaft«, antwortete er schließlich. »Weil es Promis sind. Deshalb müssen wir aufzeichnen, was in den öffentlich zugänglichen Bereichen des Clubs geschieht. Damit uns niemand was am Zeug flicken kann. Johnny hat Sicherheitskopien anfertigen und sie an einen anderen Ort schaffen lassen, nur für den Fall, dass hier etwas passiert. Ein Feuer zum Beispiel oder wieder ein Erdbeben. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, die DVDs in einen Banksafe zu stecken, aber das hat er nicht getan.«
»Higgins hat die letzten anderthalb Jahre kontrolliert.«
Escabar sah sie verständnislos an.
»Enthalten die DVDs in Boscos Haus die vollständigen Aufzeichnungen?«
»Dafür war Johnny zuständig, nicht ich.«
»Aber es ist alles hier, richtig?«
»Klar«, entgegnete er. »Worauf wollen Sie hinaus?«
»Nur zwei Fragen«, gab sie zurück. »Zwei ungeklärte Punkte. Sie haben Ihren Partner geachtet und bewundert. Als Sie ihm begegnet sind, hat sich Ihr Leben verändert. Er hat Ihnen einen Job gegeben. Johnny Bosco war überlebensgroß, ein Erfolgsmensch, wie nur L. A. ihn hervorbringen konnte. Der Geschäftsführer eines Clubs für die Leute, die in der Branche einen Namen haben. Eines exklusiven Clubs, wo sich einflussreiche Menschen trafen. Warum also hätte er seine Mitgliedschaft in diesen illustren Kreisen riskieren sollen, um Jacob Gant zu helfen, obwohl die ganze Stadt der Ansicht war, dass er Lily Hight ermordet hat und ungestraft davongekommen ist? Welchen Grund hatte Johnny Bosco, Jacob Gant zu unterstützen, wenn der Staatsanwalt und alle anderen am Prozess beteiligten Personen wie Idioten dagestanden wären? Sie sagen, zwischen Bosco und Higgins habe nur eine Zweckfreundschaft bestanden. Vielleicht waren sie ja auch aufeinander angewiesen. Da es um Gant und den Tod eines jungen Mädchens ging, hätte sich Higgins öffentlich bis auf die Knochen blamiert. Also verraten Sie mir eines: Warum war Ihr Partner bereit, sich so weit aus dem Fenster zu hängen?«
Escabar schwieg und schien angestrengt zu überlegen. »Wollen Sie behaupten, dass Gant das Mädchen nicht umgebracht hat?«, fragte er schließlich. »Und dass Johnny das wusste?«
Lena nickte langsam. Aus Escabars Miene schloss sie, dass er das zum ersten Mal hörte, denn er schien vor Schreck wie vom Donner gerührt. Er überlegte. Bis zum nächsten logischen Schritt.
Wenn Johnny Bosco von Jacob Gants Unschuld gewusst hatte, dann auch der Staatsanwalt.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er.
»Vermutlich werden die Überwachungsbänder, die wir heute gefunden haben, eine Weile in irgendeiner Behörde herumliegen. Ich muss sie mir anschauen. Vielleicht bringt es ja nichts, vielleicht ist es aber auch aufschlussreich. Oder sogar bahnbrechend. Sie sind jeden Abend hier und kennen die Beteiligten besser als ich. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich die Aufnahmen anschauen und sie mir erklären. Vermutlich sagen sie Ihnen mehr als mir.«
»Soll ich etwa vor anderthalb Jahren anfangen?«
»Mich interessiert eher der Monat vor Lily Hights Tod. Danach können Sie sich natürlich gern mit den gesamten achtzehn Monaten beschäftigen. Aber es ist wichtig, dass Sie sich beeilen.«
»Ich verstehe«, antwortete er. »Ich mache es für Johnny.«
Er leerte sein Glas, und Lena merkte ihm an, dass ihm noch immer etwas im Kopf herumging. Als sie sein Gesicht betrachtete, war sie nicht sicher, ob sie ihm trauen konnte. Außerdem glaubte sie, dass er ihr in Sachen Higgins noch immer etwas verschwieg. Aber dann vibrierte das Mobiltelefon in ihrer Tasche. Es war nach elf, und sie erkannte den Namen ihres Vorgesetzten auf dem Display. Etwas sagte ihr, dass Barrera nicht anrief, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Barrera.
Sein Tonfall klang neutral. Sie konnte ihn nicht deuten.
»Bestens«, erwiderte sie.
»Sie müssen herkommen, Lena. Wir schieben hier eine Nachtschicht. Fünfter Stock, Ramseys Büro.«
»Bin schon unterwegs.«
»Gut«, entgegnete er. »Je früher, desto besser.«