33
Johnny Boscos Haus in Mailbu befand sich im 29000er Block des Cliffside Drive mit Blick auf Dume Cove. Es war ein großes modernes Gebäude auf einem schmalen Grundstück. Die Zimmer wirkten wie aufeinandergestapelte Bauklötze, die Fassade war drei oder vier Farbtöne dunkler gestrichen als der Sand, auf dem die Würfel ruhten. Als Lena sich näherte, bemerkte sie einen goldfarbenen Chrysler 300 in der Einfahrt und fuhr weiter.
Das brachte sie aus dem Konzept. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, das Haus leer vorzufinden.
Sie wendete den Wagen, rollte langsam noch einmal am Haus vorbei und schaute sich um. In dem Zimmer, das dem Wasser zugewandt war, brannte Licht, und sie konnte das Flackern eines Fernsehers erkennen. Das restliche Haus war dunkel, und es hatte sich niemand die Mühe gemacht, die Außenbeleuchtung einzuschalten.
Lena bog in die Einfahrt ein und stieg aus. Die kühle Meeresluft roch salzig, und Lena war froh über die leichte Brise. Auf dem Weg die Stufen hinauf bemerkte sie, dass die Vordertür einen Spalt weit offen stand. Es war eine Glastür, hinter der eine Diele zu sehen war. Lena konnte außer dem Fernseher zwei Männerstimmen hören. Sie läutete.
Als niemand erschien, schob sie die Tür auf. Die Männer waren verstummt, und der Fernseher lief nicht mehr. Lena verkündete laut, sie komme von der Polizei, worauf die Männer das Licht löschten. Sie wich zurück und ging entschlossen zum Auto.
Sie holte die Taschenlampe aus ihrem Aktenkoffer und notierte sich das Kennzeichen des Chrysler. Doch anstatt sofort die Nummer der Zentrale zu wählen, zögerte sie. Für Malibu war das Büro des Sheriffs, nicht die Polizei von Los Angeles zuständig. Und das befand sich weit weg in Agoura Hills. Von dort aus Verstärkung loszuschicken dauerte zu lange. Nachdem Lena kurz überlegt hatte, rief sie an und nannte dem Mann Boscos Adresse.
Dann war sie auf sich allein gestellt.
Sie entsicherte ihre .45er, schlich die Treppe hinauf und trat ins Haus. Im ersten Moment verharrte sie reglos, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und bemühte sich, ruhig durchzuatmen. Sie lauschte und konzentrierte sich auf die Stille. Zum Glück war ihre Taschenlampe so klein, dass sie sie in derselben Hand halten konnte wie die Pistole. Sie schaltete sie ein und ging rasch durch die Diele.
Als sie um die Ecke bog, stellte sie fest, dass Boscos Haus einen offenen Grundriss hatte. Jemand hatte alles auf den Kopf gestellt. Überall auf dem Sofa und dem Couchtisch lagen verstreut CDs und DVDs. Während die Küche unberührt zu sein schien, hatte jemand den Inhalt eines Wandschranks neben dem großen Flachbildfernseher herausgerissen und auf den Boden geworfen.
Die beiden Räume mit Meerblick, einer mit einem riesigen offenen Kamin, nahmen den Großteil des Erdgeschosses ein. Lena tastete sich durch die Dunkelheit. Alles blieb still und reglos. Doch als sie die Treppe erreichte, spürte sie, dass sich etwas verändert hatte, und hielt inne.
Sie hörte die Wellen an die Felsen unterhalb der Klippen schlagen, wobei das Geräusch ihr plötzlich lauter als vorhin erschien.
Sie drehte sich um und hastete durchs Wohnzimmer. Eine der Schiebetüren stand offen. Lena schaltete die Taschenlampe aus und spähte nach draußen. Zwei Männer rannten über den Rasen. Das eingezäunte Grundstück reichte bis zum Rand der Klippe.
Lena stürmte von der Terrasse in den Garten. Die beiden Männer schauten sich immer wieder ängstlich und aufgeregt um. Lena hörte, wie sie schwer atmeten, und sie stolperten eher, als dass sie rannten. Als die beiden endlich den Lattenzaun erreichten, versuchten sie unbeholfen, auf die andere Seite zu springen. Doch leider waren sie beide nicht gerade zierlich gebaut und zu schwer für solche akrobatischen Übungen.
Lena knipste die Taschenlampe an und hob die Pistole.
»Stehen bleiben, oder ich schieße!«, rief sie.
Die Männer erstarrten. Sie klammerten sich noch immer an den Zaun; ihre Beine baumelten über dem Boden. Es war dunkel und windig. Irgendwo im Viertel bellte ein Hund. Lena kam näher, leuchtete die Eindringlinge mit der Taschenlampe an und musterte sie abschätzend. Eine Weile verging, eher einer der beiden endlich mit gepresster Stimme das Wort ergriff.
»Ich kann mich nicht länger festhalten«, sagte er. »Ich muss runter.«
»Ich auch«, stimmte sein Begleiter zu.
»Dann also los«, entgegnete Lena. »Springen Sie, und dann drehen Sie sich mit erhobenen Händen um. Und überlegen Sie sich sehr gut, was Sie tun. Keine faulen Tricks, sonst sind Sie tot.«
Sie trat ein Stück zurück, um für den Fall, dass sie abdrücken musste, genug Platz zu haben. Dabei hoffte sie, dass die zwei keine Dummheiten machten und sie nicht zwangen, etwas zu tun, das sie später bereuen würde. Sie beobachtete, wie sich die Männer vom Zaun lösten. Es war zwar nur ein guter halber Meter bis zum Boden, doch sie mussten sich abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren – ein wenig zu lange für Lenas Geschmack.
»Umdrehen«, befahl sie noch einmal. »Und Hände hoch.«
Die Männer zögerten. Lena spürte, wie ihr Herz zu klopfen begann.
»Ich sagte, Hände hoch.«
Nichts passierte. Lena konnte die Hände der Männer noch immer nicht sehen. Die beiden waren Dummköpfe. Sie trieben Spielchen mit ihr. Lena drückte ab, sodass ein Geschoss etwa einen halben Meter über den Köpfen des Duos im Zaun einschlug. Die Männer machten vor Schreck einen Satz. Während der Schuss noch über dem Meer verhallte, hoben sie endlich die Hände und drehten sich um.
Lena blieb beinahe das Herz stehen.
Der Oberstaatsanwalt von Los Angeles und sein Handlanger, den er wieder aus der Mottenkiste geholt hatte. Jimmy J. Higgins und Jerry Spadell. Die Meeresbrise war nicht sehr gnädig mit Spadell gewesen, denn sie hatte sein miserabel gefärbtes Haupthaar tatsächlich als billiges Toupet enttarnt. Nun flatterte es wie ein Vogel mit gebrochenen Flügeln auf seinem kahlen Schädel.
Higgins machte einen Schritt auf Lena zu.
»Waffe runter, Detective. Schluss mit den Mätzchen.«
Lena verzog das Gesicht. Sie spürte, wie tief in ihr eine unbändige Wut aufstieg, und sie wusste nicht, ob sie sich lange würde beherrschen können. Higgins hatte den Zustand eines Stücks Scheiße schon mehrere Lichtjahre hinter sich gelassen.
»Wann ich die Waffe runternehme, bestimme immer noch ich, Mr Oberstaatsanwalt. Und jetzt gehen wir ins Haus und reden. Die Regeln gelten weiterhin. Wenn einer von Ihnen beiden Dummheiten macht, schieße ich.«
Ein taubes Gefühl breitete sich in Lenas Körper aus. Die Situation war unfassbar. Allerdings wusste sie, dass man es ihr nicht anmerkte. Ihre Stimme zitterte nicht, und ihre Hände waren ruhig. Sie wandte sich an Spadell, der ihr einen zu stillen Eindruck machte. Er fixierte sie, sein Blick hatte etwas Teuflisches. Aus der Nähe betrachtet war er ziemlich bedrohlich – ein Knochenbrecher.
»Ist Ihnen klar, was Sie sich da anmaßen?«, empörte sich Higgins, bebend vor Zorn. »Wissen Sie nicht, wer ich bin?«
Lena wies wieder mit der .45er auf ihn. Spadell ließ sie nicht aus den Augen.
»Wir tun, was die Frau sagt, Jimmy. Lass uns reingehen und reden.«
Immer noch in seiner Ehre gekränkt, zögerte Higgins und dachte offenbar über einen Ausweg nach. Doch schließlich ging er zum Haus zurück. Spadell folgte ihm, während Lena einen Sicherheitsabstand hielt. Sie traten durch die Schiebetür ins Wohnzimmer. Nachdem Lena Licht gemacht hatte, winkte sie die beiden zum Kamin.
»Okay. Und jetzt legen Sie beide Hände auf den Sims und machen zwei Schritte rückwärts.«
»Ich bin der Oberstaatsanwalt, Sie miese kleine Schlampe.«
»Ich weiß genau, wer Sie sind«, entgegnete sie. »Und jetzt die Hände auf den Kamin und dann zurück.«
Spadell warf Higgins einen Blick zu.
»Tu, was sie sagt, Jimmy. Tu es einfach.«
Die beiden Männer umfassten den Kaminsims und gingen rückwärts, bis ihre Oberkörper einen Winkel von fünfundvierzig Grad zum Boden bildeten. Um Higgins machte Lena sich keine großen Sorgen, doch sie wusste, dass Spadell eine Waffe hatte, weshalb sie ihn zuerst durchsuchte. Tatsächlich fand sie eine Pistole in einem Halfter unter seiner Jacke, eine alte, scheinbar nicht registrierte .38er.
»Ist das Ding angemeldet?«, fragte sie.
Spadell schüttelte den Kopf.
»Weiß ich nicht mehr.«
»Das habe ich mir fast gedacht.«
Er blickte sich um und zwinkerte ihr zu. Lena steckte den Revolver ein, tastete den Mann rasch ab und warf seine Schlüssel und die Brieftasche auf den Boden. Als sie auf ein Etui mit Dietrichen stieß, verstaute sie es bei Spadells Waffe in ihrer Tasche. Dann wandte sie sich Higgins zu. Sie nahm sich einen Moment Zeit, ehe sie ihn durchsuchte, damit er ihr ihren Widerwillen nicht anmerkte. Higgins kochte noch immer vor Wut. Er hatte ein hochrotes Gesicht, und sein Hals quoll ihm aus dem Hemdkragen wie ein Heißluftballon, der gerade aufgeblasen wird.
»Was wollten Sie hier?«, fragte sie.
»Fick dich«, zischte Higgins.
Lena schob den Lauf ihrer .45er zwischen seine Beine, stupste ihn mit der Mündung an die Eier und beobachtete seine Reaktion. Sie verstand ihr Verhalten selbst nicht und auch nicht das Gefühl, das es in ihr auslöste.
»Was wollten Sie hier?«, wiederholte sie.
»Bosco war mein Freund«, erwiderte Higgins hasserfüllt. »Ich habe etwas hier vergessen. Wir haben es gesucht.«
Lena warf einen Blick auf das durchwühlte Zimmer.
»Ach, wirklich?«, höhnte sie. »Und haben Sie es gefunden?«
Higgins brachte vor Zorn keinen Ton heraus und schüttelte nur den Kopf.
»Was genau haben Sie denn gesucht?«
»Persönliche Sachen«, entgegnete er. »Das geht Sie einen Scheißdreck an.«
»Sind Sie mit einem Schlüssel ins Haus gekommen?«
»Natürlich hatten wir einen Schlüssel.«
»Wo ist er?«
»Ich glaube, ich habe ihn auf das Tischchen neben der Tür gelegt.«
Lenas lächelte kühl.
»Das hätte ich wohl auch getan«, erwiderte sie. »Nur dass es hier neben der Tür kein Tischchen gibt.«
»Dann ist er mir vielleicht im Garten aus der Tasche gefallen.«
»Kann auch sein«, antwortete sie. »Er ist Ihnen aus der Tasche gefallen, als Sie weggelaufen sind. Warum sind Sie denn eigentlich weggelaufen, obwohl Sie einen Schlüssel hatten?«
»Ich habe keine Ahnung, verdammt«, stammelte Higgins.
»Ja, stimmt. Sie haben nicht die leiseste Ahnung.«
Lena hatte Brieftasche und Schlüssel bereits auf den Boden geworfen, ertastete im nächsten Moment jedoch eine dicke Rolle Geldscheine in Higgins’ Tasche. Als sie das Geld herausnahm, zuckte der Staatsanwalt leicht zusammen. Druckfrische Einhundertdollarscheine, dieselben Scheine hatte Johnny Bosco bei sich gehabt, als eine Kugel im Rücken seinem Leben ein Ende bereitete. Lena zählte das Geld hastig: Higgins trug fünf Riesen mit sich spazieren.
Verwundert über diesen Fund, verzog sie das Gesicht und klappte als Nächstes Higgins’ Brieftasche auf: drei Zwanziger, zwei Fünfer und zehn Eindollarscheine. Es war nicht weiter schwer, sich einen Reim darauf zu machen: Der Oberstaatsanwalt von Los Angeles hatte die Banknoten in Boscos Haus entdeckt und kurzerhand mitgehen lassen.
»Sie sind tot«, flüsterte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Mausetot, verdammt.«
Lena ließ die Brieftasche auf den Boden fallen.
»Sie sollten besser aufpassen, was Sie sagen, Higgins. Insbesondere, wenn Sie mit bewaffneten Polizeibeamten sprechen. Da kann nämlich ganz schön in die Hose gehen.«
»Nur dass Sie nach dem heutigen Abend keine Polizistin mehr sein werden.«
»Umdrehen«, befahl sie. »Aber ganz langsam.«
Higgins und Spadell gehorchten und beobachteten Lena, die weiter mit düsterem Blick auf sie zielte. Vor dem heutigen Abend waren Rachefantasien eigentlich nicht Lenas Ding gewesen. Doch nun spürte sie, wie Schadenfreude die Oberhand über die Wut und Enttäuschung gewann, die Higgins in ihr auslöste. Sie stellte sich vor, wie sie abdrückte und die Leichen anschließend die Klippe hinunterwarf. Das Problem war nur, dass sie zwei schwere Brocken wie die beiden niemals über den Zaun gekriegt hätte.
»Heben Sie Ihre Sachen auf. Nehmen Sie Ihren Kram und verschwinden Sie.«
Higgins Blick ruhte auf dem Geldbündel in Lenas Hand.
»Das ist mein Geld«, verkündete er.
»Nicht mehr, Higgins. Das ist heute Abend der Eintrittspreis. Fünf Riesen in Hundertdollarscheinen. Und jetzt bewegen Sie Ihren Hintern hier raus.«
»Ich mach Sie fertig, Sie Schlampe. Sie wissen gar nicht, auf was Sie sich einlassen«
Spadell stieß Higgins mit dem Ellbogen an. Lena interessierte es nicht, wer Higgins war und welche Macht er über sie zu haben glaubte. Die beiden sammelten ihre Sachen ein. Spadell zögerte kurz, als er bemerkte, dass sie seine Dietriche nicht herausrückte. Doch er warf ihr nur einen wortlosen Blick zu. Der Sensenmann war offenbar ein ziemlich wortkarger Geselle.
Lena ließ die beiden vorbei. In der Ferne hörte sie Sirenen. Das Rettungskommando des Sheriffs war unterwegs.
Während sie wartete, betrachtete Lena die auf den Sofas und dem Couchtisch verteilten CDs und DVDs und versuchte zu begreifen, was soeben geschehen war.
Was hatten Higgins und Spadell hier gesucht?
Ihr Blick wanderte zum DVD-Spieler. Er war zwar eingeschaltet, aber der Fernseher lief nicht. Lena schaute sich nach der Fernbedienung um, fand sie auf dem Fußboden und drückte auf POWER. Als der Bildschirm aufleuchtete, erkannte sie zwar das Bild, verstand aber erst nicht.
Offenbar hatten Higgins und Spadell sich Aufnahmen aus den Überwachungskameras im Club 3 AM angeschaut. In jeder Einstellung waren der Standort der jeweiligen Kamera und Uhrzeit und Datum vermerkt. Und interessanterweise reichten diese Daten fast fünfzehn Monate zurück.
Lena warf die DVD aus, die mit einem Markierstift beschriftet war, und verstaute sie in der auf dem Couchtisch liegenden Papierhülle. Dann überprüfte sie die übrigen DVDs in dem Stapel auf dem Tisch. Alle waren auf dieselbe Weise gekennzeichnet. Als sie die Daten in Augenschein nahm, wurde ihr klar, dass jede Woche der letzten anderthalb Jahre dokumentiert war.
Aber warum?
Während Lena die DVDs einsammelte, hörte sie Schritte in der Diele und drehte sich gerade in dem Moment um, als zwei Sheriffs mit gezückten Pistolen ins Zimmer stürmten. Der eine, ein junger Typ, machte einen nervösen Eindruck und fing sofort an herumzuschreien.
»Keine Bewegung!«, brüllte er. »Oder ich schieße Sie über den Haufen, kapiert?«