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Lena klappte die Sonnenblende herunter und griff nach ihrer Sonnenbrille. Sie war auf dem San Bernadino Freeway unterwegs nach Osten. Direkt vor ihr ging die Sonne auf, und die Straße am Horizont schien in Flammen zu stehen, als führe sie auf direktem Weg in ein Feuer.

Womöglich war es eine Warnung.

Martin Orth hatte weitere Neuigkeiten. Er wollte Lena sehen. Offenbar waren die Nachrichten so »gut«, dass man sie nicht am Telefon erörtern konnte.

Lena hatte in der letzten Nacht unruhig geschlafen. Sie hatte von Lily geträumt, von Lily im schwarzen Kleid. Lena saß neben ihr am Tresen und versuchte herauszufinden, wer der Typ war, der sie anbaggerte. Sie hielten Händchen, er trug einen Nadelstreifenanzug. Doch immer wenn sie aufblickte, war sein Kopf verschwunden. Nicht so, als hätte ein Maler ihn vergessen oder ein Fotograf ihn nicht richtig ins Bild bekommen, sondern abgeschnitten. Blut strömte über das Hemd des Mannes und rann ihm über die Hände. Lily wischte sich die Finger an einer Serviette ab.

Solch einen Traum wünschte man sich nicht als Fortsetzungsroman. Drei-oder viermal war Lena aufgewacht – oder besser, schweißnass hochgeschreckt. Doch schon nach fünfzehn oder zwanzig Minuten hatte der Traum sie wieder mit in den Abgrund gerissen. Und jedes Mal saß sie an diesem Tresen und beobachtete, wie Lily mit ihrem Mörder den Club verließ.

Lena warf einen Blick auf das Päckchen Camel Lights auf dem Armaturenbrett, widerstand allerdings der Versuchung, sich eine anzuzünden. Eine Viertelstunde später war sie in der Gerichtsmedizin angekommen, hatte die Sicherheitsschleuse passiert und ging den Flur entlang zu Martin Orths Büro. Zu dieser frühen Stunde waren noch nicht viele Leute im Haus.

Sie traf Orth an seinem Schreibtisch an. Er starrte auf seine Kaffeemaschine und machte gute Miene zum bösen Spiel, während das Gerät gurgelte und zischte. Der Mann war offenbar hundemüde und vermutlich in der Lage, die ganze Kanne allein auszutrinken.

»Okay«, begann sie. »Sagen Sie mir, was ich wissen muss.«

Orths Blick wanderte von der Kaffeemaschine zur Tür, wo Lena stand.

»Sie können Hight festnehmen«, sagte er. »Das Blut an seinem Schuh stammt von Gant. Zweifel ausgeschlossen. Hight war in der Nacht, als Bosco und Gant erschossen wurden, im Club 3 AM. Hight war in diesem Raum.«

Lena setzte sich auf den Stuhl neben Orths Schreibtisch. Inzwischen betrachtete er wieder die Kaffeemaschine. Sein Tonfall klang merkwürdig.

»Ich werde Tim Hight nicht festnehmen«, entgegnete sie.

»Warum nicht? Die DNA beweist, dass er dort war.«

Ebenso wie das in seinem Haus gefundene Kokain, das Überwachungsfoto vom Club, das zeigte, wie Hight wegfuhr, und vielleicht sogar die Hundertdollarscheine. Allerdings war Hights Anwesenheit vor Ort auch der einzige Beweis.

Seit Orth ihr mitgeteilt hatte, die an Lilys Hose gesicherten Spuren deuteten auf einen dritten Mann hin, grübelte Lena über diese Frage nach. Es musste einfach eine andere Erklärung dafür geben, warum Tim Hight in der Nacht des Mordes an Bosco und Gant im Club gewesen war. Hatte Gants Bruder ihr nicht erzählt, Gant und Hight hätten sich am fraglichen Tag gestritten? Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.

Offenbar hatte Gant Hight im Eifer des Gefechts eröffnet, dass sie kurz davor stünden, den wahren Mörder seiner Tochter zu enttarnen.

Er habe Lily nicht getötet, und er und Johnny Bosco würden das noch an diesem Abend ein für alle Mal klarstellen.

Hight hatte ihm sicher nicht geglaubt, und so war es zu einer Auseinandersetzung gekommen. Allerdings hatte Hight Gant bestimmt weiter beobachtet und sich im Laufe des Tages seine Gedanken über Boscos Rolle in dieser Angelegenheit gemacht. Und als Gant zu seinem Treffen mit Bosco gefahren war, hatte Hight seine Neugier vielleicht nicht mehr zügeln können und war ihm gefolgt.

»Hight ist unser Mann«, sagte Orth. »Aber Sie scheinen nicht überzeugt zu sein, Lena.«

»Bin ich auch nicht«, erwiderte sie. »Wir sind schon einen Schritt weiter, Marty.«

Orth fing zu lachen an. Ein irrwitziges Gelächter stieg tief aus seiner Kehle. Lena hatte ihn noch nie so erlebt. Sie war verunsichert und befürchtete fast, er sei im Begriff, den Verstand zu verlieren.

»Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte er.

»Nein danke.«

Immer noch lachend, stand Orth auf, goss Kaffee in eine Tasse mit Dodgers-Emblem und kehrte an seinen Schreibtisch zurück.

»Was ist, Marty? Fehlt Ihnen was?«

»Alles bestens«, antwortete er und trank einen Schluck. »Sogar ausgezeichnet. Sie wollen Hight nicht festnehmen, und das ist gut so, Lena. Wirklich gut. Allerdings auch verrückt. Das Leben schlägt manchmal die eigenartigsten Kapriolen.«

»Was für Kapriolen? Was ist passiert?«

Er musterte sie lange.

»Es geht um die Waffe, mit der Bosco und Gant getötet wurden«, erwiderte er schließlich. »Die Suche nach der, die Hight gekauft hat, hätten wir uns sparen können.«

Sie beugte sich vor.

»Haben die Ballistiker was gefunden?«

Er nickte, offensichtlich nervös.

»Ein Volltreffer, Lena. Eine Erkenntnis, wie man sie normalerweise so um halb fünf Uhr morgens hat. Sagt Ihnen der Name Elvira Wheaten was? Die Schüsse, die aus einem vorbeifahrenden Auto in Exposition Park abgegeben worden sind. Muss vor acht Jahren gewesen sein. Ihr kleiner Enkel wurde auch getötet.«

Es fühlte sich an, als sei die Luft im Raum plötzlich durch die Lüftungsschlitze in den Keller gesogen worden. Etwas in Lena erstarrte.

Bennetts und Cobbs letzter großer gemeinsamer Fall.

Sie nickte. Ihr stellten sich die Nackenhaare auf – die Szene stand ihr mit einem Mal deutlich vor Augen.

»Die Pistole, mit der die Frau erschossen wurde«, fuhr Orth fort, »wurde auch benutzt, um Bosco und Gant umzulegen. Und jetzt kommt das Unglaubliche, Lena. Wir haben in der Asservatenkammer nachgefragt. Es ist eine Neun-Millimeter Smith & Wesson. Eigentlich hätte sie da sein müssen. Aber war sie nicht. So wie die Blutproben, die während des Prozesses verschwunden sind. Ein verdammtes Déjà-vu.«

Lena versuchte, sich auf ihre Atmung zu konzentrieren.

»Haben Sie das Anforderungsformular überprüft?«

»Klar doch.«

»Dann sagen Sie mir den Namen von demjenigen, der als Letztes so ein Formular ausgefüllt hat.«

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